aus Kradblatt 1/25 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Mal eben schnell die Spuren wechseln …

Immer wieder kommt es zu Unfällen beim Einfahren in den fließenden Verkehr. Dabei trifft denjenigen, der von einem Grundstück auf die Fahrbahn einfährt, nicht immer die volle oder auch nur überwiegende Haftung. Ein Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 21.11.2023 (Aktenzeichen: 1 O 276/21) verdeutlicht dies.

Der Kläger bog mit seinem Pkw von einem Tankstellengelände auf eine mehrspurige Straße nach rechts ein. Um sein Ziel – die Linksabbiegerspur zur Autobahn – zu erreichen, musste er dabei die Rechtsabbiegerfahrspur und dann eine Lücke ausnutzend die mittlere Geradeausspur queren, um zur Linksabbiegerfahrspur zu kommen. 

Die Beklagte befuhr – für den Kläger von links kommend – die Straße, um ebenfalls über die Linksabbiegerspur zur Autobahn zu fahren. Sie fuhr dabei unter verbotswidrigem Überfahren der durchgezogenen Linie am stockenden Verkehr vorbei über die Geradeausspur, um zur Linksabbiegerfahrspur zu gelangen. Ihre Einlassung, sie habe nicht verbotswidrig über die Geradeausspur den Stau überholt, sondern sich zum Zeitpunkt der Kollision bereits in der Linksabbiegerfahrspur befunden, sah das Landgericht – sachverständig beraten – als widerlegt an. Die Beklagte konnte nur in die Kollisionsstellung zu Beginn der Linksabbiegerspur kommen, indem sie zuvor die Spur des Gegenverkehrs benutzte. 

Das Landgericht Oldenburg sah das überwiegende Verschulden bei der Beklagten. Diese hatte durch Überfahren der durchgehenden Linie gegen ein absolutes Überholverbot, welches eben durch die Linie gekennzeichnet ist, verstoßen. Gemäß Zeichen 295 der Anlage 2 zu § 41 Absatz 1 Straßenverkehrs-Ordnung darf, wer ein Fahrzeug führt, die durchgehende Linie nicht und auch nicht teilweise überfahren (Zeichen 295 ist die durchgezogene Linie; auch Fahrbahnmarkierungen gelten als Verkehrszeichen). Zudem stellte das Gericht fest, dass die Beklagte mit 35 km/h bei ihrem gefährlichen Fahrmanöver und stockendem Verkehr mit einer völlig unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist, die ihr ein Reagieren unmöglich machte. Die Beklagte war an einer gerade stillstehenden Fahrzeugkolonne links vorbeifahren, und hätte damit rechnen müssen, dass entstehende Lücken in der Kolonne von anderen, kreuzenden Verkehrsteilnehmern – wie vorliegend dem Kläger – genutzt werden könnten. Das Gericht bezeichnete die Fahrweise der Beklagten als einen gravierenden Verkehrsverstoß.

Dem Kläger wurde ebenfalls ein unfallursächliches Fahrverhalten und damit ein Verschulden vorgeworfen. Da er von einem Tankstellengelände, und damit einem Grundstück in die Straße eingebogen war, hatte er gegen die gesteigerten Sorgfaltspflichten des § 10 Absatz 1 Straßenverkehrs-Ordnung verstoßen, nach dem ein Einfahrender sich beim Einfahren so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Wenn es bei einem Einfahren zu einem Unfall kommt, spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen den Einfahrenden. Der Kläger konnte diesen Anscheinsbeweis nicht widerlegen. Das Gericht erklärte, die Kollision zeige auf, dass er nicht mit der angemessenen Schrittgeschwindigkeit gefahren ist, mit der er jederzeit hätte anhalten können.

Das Landgericht Oldenburg nahm eine Haftungsverteilung vor. Dabei stellte es den unzulässigen Überholvorgang bei unangepasster Geschwindigkeit der Beklagten in den Vordergrund und hielt es für angemessen, dass der Anteil der Beklagten doppelt so hoch wie der des Klägers anzusetzen war. Die Beklagte muss somit zwei Drittel des Schadens des Klägers erstatten.

Die vorliegende Entscheidung zeigt auf, dass (absolute) Überholverbote von Gerichten sehr ernst genommen werden, sodass demjenigen, der unzulässig überholt, zumeist das Hauptverschulden für einen Unfall zugesprochen wird. Auch wenn das Vorbeischlängeln verführerisch sein mag, so sollte man sich besser davor hüten.