aus Kradblatt 1/24 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Vorsicht bei der Nutzung des Seitenstreifens!

Bei einem Verkehrsstau auf der Autobahn ist es „verführerisch“, den Seitenstreifen zu benutzen, um schneller am Stau vorbeifahren zu können. Es ist anzunehmen, dass jeder von uns, der schon einmal mit dem Motorrad hinter oder inmitten einer scheinbar unendlichen Blech-Kolonne gestanden hat, zumindest daran gedacht hat, auf dem Standstreifen zu überholen. 

Diesen Gedanken in die Tat umzusetzen ist nicht nur verbotswidrig, sondern kann zudem dazu führen, dass bei einer Kollision mit einem von einem Autobahnparkplatz auf den Beschleunigungsstreifen fahrenden Fahrzeug, dem auf dem Seitenstreifen Fahrenden das alleinige Verschulden zugesprochen wird. Ein aktuelles Urteil des Landgerichts Fulda vom 27.10.2023 (Aktenzeichen: 3 O 56/23) macht dies klar.

Der Geschädigte war von einem Autobahnparkplatz auf den Beschleunigungsstreifen der Autobahn zugefahren, als auf dem Seitenstreifen ein Sattelzug heranfuhr und mit dem Pkw des Geschädigten zusammenstieß. Der Klägerseite entstand erheblicher Sachschaden. Das Landgericht Fulda hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben.

Nach der Beweisaufnahme hatte das Gericht festgestellt, dass der Fahrer des Sattelzuges widerrechtlich den Seitenstreifen der zwei­spurigen Autobahn genutzt hatte. Der klägerische Pkw fuhr von dem Autobahnparkplatz kreuzend auf den Beschleunigungsstreifen zu, als es zur Kollision mit dem Sattelzug kam.

Das Landgericht Fulda warf dem Fahrer des Sattelzuges einen Verstoß gegen § 2 Absatz 1 Straßenverkehrsordnung vor, nach dem Fahrzeuge die Fahrbahnen benutzen müssen und die rechten Seitenstreifen nicht Bestandteil der Fahrbahn sind. Der Seitenstreifen ist danach für das Halten und Benutzen in Notfällen bestimmt. Auch ein Stau rechtfertigt keine Mitbenutzung des Seitenstreifens. Der Fahrer des Sattelzuges hatte keine rechtfertigenden Gründe für die Nutzung, er war nur auf dem Seitenstreifen gefahren, um schneller voranzukommen.

Das Gericht hatte dann noch abzuwägen, ob den verunfallten Pkw-Fahrer ein Mitverschulden an dem Unfall träfe. Das Landgericht Fulda verneinte dies, selbst wenn der Fahrer des Klägerfahrzeuges den mit erheblich höherer Geschwindigkeit von hinten auf dem Seitenstreifen herankommenden Sattelzug früher hätte bemerken und den Unfall verhindern können. Bei der unerlaubten Nutzung des Seitenstreifens durch den Sattelzug handelt es sich nach Auffassung des Landgerichts um einen schwerwiegenden, vorsätzlich begangenen Verkehrsverstoß, da der Fahrer des Sattelzuges dabei die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer in Kauf genommen hatte. Gegenüber diesem gewichtigen Verschulden tritt selbst die allgemeine Betriebsgefahr des Pkw, die für gewöhnlich mit 20 bis 25 Prozent angenommen wird, vollständig zurück, sodass die Beklagtenseite zu einem Schadensersatz mit einer Haftungsquote in Höhe von 100 Prozent verurteilt wurde.

Die Nutzung des Seitenstreifens ist in der Praxis gar nicht so selten. Es kommt z.B. des Öfteren vor, dass Fahrer kurz vor „ihrer“ Ausfahrt schon mal vorab nach rechts „rüberfahren“. Die vorliegende Entscheidung des Landgericht Fulda zeigt auf, dass man dann bei einem Verkehrsunfall mit kreuzendem Verkehr schlechte Karten hat. Wir sollten also auf ein Vorbeifahren an einer endlos erscheinenden Verkehrsstockung tunlichst verzichten. Für uns kommt zudem bei einer Kollision neben der rein rechtlichen Seite noch das erhebliche Risiko schwerer Verletzungen hinzu, für die dann der Unfallgegner nicht haften muss. Die Nutzung des Seitenstreifens sollte daher in unserem eigenen Interesse tatsächlich ausschließlich in Notfällen – also wenn es gar nicht anders geht – erfolgen.