aus Kradblatt 1/20 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Tempoüberschreitung vs. Sorgfaltspflicht …

Ein recht häufiges Unfallgeschehen im Straßenverkehr ist das Ausfahren aus oder das Einbiegen in ein Grundstück. Immer wieder kommt es dabei zu Kollisionen, gar nicht so selten auch mit Motorrädern, wobei diese Unfälle dann durchaus auch sehr schwer ausfallen können. Die einschlägigen Vorschriften sind dabei eigentlich recht eindeutig: § 9 Absatz 5 der Straßenverkehrsordnung sieht vor, dass derjenige, der ein Fahrzeug führt, sich beim Abbiegen in ein Grundstück so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss man sich einweisen lassen. Entsprechendes erklärt § 10 der Straßenverkehrsordnung für den, der aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will.

Das Landgericht Hamburg hatte am 14.09.2018 einen solchen Fall des Einbiegens zu entscheiden (Aktenzeichen 306 O 15/18).

Ein Motorradfahrer hatte eine Straße befahren, als ein Autofahrer mit seinem Pkw auf der Gegenfahrbahn über drei Richtungsfahrstreifen links in ein Gelände einbiegen wollte. Als der Pkw sich im Abbiegevorgang auf dem Fahrstreifen des Gegenverkehrs befand, kam es zur Kollision, indem das Kraftrad in Geradeausfahrt mit der hinteren rechten Seite des Pkw zusammenstieß. Der Motorradfahrer wurde durch die Kollision vom Kraftrad geschleudert und kam etwa 25 Meter von der Unfallstelle entfernt zum liegen. Er erlitt durch den Unfall schwere Verletzungen. Es waren stationäre Krankenhausauf­enthalte und umfangreiche ambulante Nachbehandlungen notwendig. Aufgrund der schweren Verletzungen musste mit gesundheitlichen Spätschäden gerechnet werden. Der Beklagte hatte die Schäden nur mit einer Haftungsquote von 50 Prozent beglichen, wodurch noch ca. 40.000 Euro offengeblieben waren.

Der Motorradfahrer war dabei der Auffassung, dass sich grundsätzlich eine vollumfängliche Haftung des Autofahrers daraus ergebe, dass sich der Unfall im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Einbiegen des Pkw in ein Grundstück ereignete. Der Autofahrer sei dabei mit überhöhter Geschwindigkeit über drei Fahrbahnen des Gegenverkehrs gefahren und habe nicht auf den gut sichtbaren Gegenverkehr geachtet. Ein Mitverschulden des Kradfahrers sei allenfalls in Höhe von 25 Prozent anzunehmen, da er die an der Unfallstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h lediglich um 20 km/h überschritten habe. 

Der Autofahrer behauptete eine Annäherungsgeschwindigkeit des Motorrades von mindestens 90 km/h, bei Einleitung des Abbiegevorgangs sei kein Gegenverkehr zu beobachten gewesen. 

Das Gericht schloss sich überwiegend der Ansicht des Motorradfahrers an. Da sich der Unfall im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Abbiegemanöver des Pkw-Fahrers ereignet hatte, spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Autofahrer die absolute Sorgfaltspflicht eines in ein Grundstück Einbiegenden nicht beachtet hat. Es konnte nicht sicher festgestellt werden, in welcher Entfernung sich das Motorrad beim Beginn des Abbiegemanövers durch den Pkw befand. 200 Meter, wie der Autofahrer angegeben hatte, glaubte das Gericht jedenfalls nicht. Dem Motorradfahrer wurde aber ein Verstoß gegen die am Unfallort gegebene Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h zugeschrieben. Auch wenn das Gericht nicht von 90 km/h ausging, nahm es doch – sachverständig beraten – die eingestandenen 70 km/h an. Die festgestellte Geschwindigkeitsübertretung war für den Verkehrsunfall mitursächlich. Bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit hätte der Kradfahrer den Unfall zeitlich vermeiden können.

Der Autofahrer hatte eine höhere Mithaftung des Kradfahrers wegen einer erhöhten Betriebsgefahr des Motorrades angenommen, weil gerade bei diesen für den Fahrer aufgrund des fehlenden Schutzes durch eine umgebende Karosserie eine weitaus höhere Verletzungsgefahr als für Pkw-Fahrer bestehe. Dem vermochte das Gericht nicht zu folgen. Es verwies auf die gängige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der die allgemeine Betriebsgefahr eines Fahrzeugs vor allem durch die Schäden bestimmt wird, die dadurch Dritten drohen. In diesem Sinne könne einem Lkw eine höhere Betriebsgefahr zugestanden werden, einem Motorrad aber nicht. 

Das Landgericht Hamburg hatte darauf die wechselseitigen Unfallverursachungsbeiträge abzuwägen. Dabei kam es zu dem Ergebnis, dass der Verstoß gegen die absolute Sorgfaltspflicht des einbiegenden Autofahrers deutlich schwerer wiegt als die Überschreitung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit um 20 km/h. Die Geschwindigkeit von 70 km/h sei aber situationsbedingt nicht grob rücksichtslos gewesen, die Überschreitung sei ein Verhalten, dass für andere Verkehrsteilnehmer nicht überraschend passiere. Es sprach dem Motorradfahrer deshalb eine Mithaftung in Höhe von 30 Prozent zu, der Autofahrer hatte demnach zu 70 Prozent zu haften.

Grundsätzlich ist bei einem Einbiegen in ein Grundstück wegen der gesteigerten Sorgfaltspflicht des Einbiegenden bei einem Unfall von dessen Alleinhaftung auszugehen. Eine Mithaftung des Fahrers des Fahrzeugs im fließenden Verkehr kann sich aber bei dessen Fehlverhalten – vor allem bei Geschwindigkeitsüberschreitungen – ergeben. Das Mitverschulden wird dann überwiegend um 33 Prozent eingeschätzt. Im vorliegenden Fall ist positiv, dass das Gericht klargestellt hat, dass Motorräder nicht automatisch eine erhöhte Betriebsgefahr zuzusprechen ist. Auch die Begründung hierfür überzeugt.

Dennoch heißt es, auch in unserem eigenen Interesse, dass man bei Fahrzeugen, die in ein Grundstück einbiegen wollen, sehr vorsichtig sein muss, weil nicht immer damit zu rechnen ist, dass der Einbiegende die Vorfahrt der anderen Verkehrsteilnehmer beachtet. Die in solchen Fällen manchmal sehr schweren Verletzungen von Kradfahrern sollten uns zu denken geben. Dass der andere, unaufmerksame Fahrer zumindest überwiegend Schuld hat, hilft uns bei den tatsächlichen Beeinträchtigungen durch einen Unfall nicht wirklich weiter – bleibt also wachsam, trainiert das Ausweichen und Bremsen!