aus bma 1/00

von Jan Burke

Die Entscheidung, nach Portugal zu fahren, war schon im Mai gefallen: weder Tatjana noch ich waren bisher dort gewesen. Die Lage versprach Sonne, und meine zwei Semester Italienisch würden uns bequem über die Iberische Halbinsel bringen (dachte ich). Als Termin guckten wir den Spätsommer aus, um nicht vor lauter Hitze aktionsunfähig zu werden. Weil wir das erste Mal eine so weite Tour auf einem Motorrad vor uns hatten, setzten wir vier Wochen Urlaub ein, um nicht nur fahren zu müssen.
Die Vorbereitung war diesmal wirklich gut: Campingführer und Jugendherbergsverzeichnis gekauft, zwei Reiseführer: „Anders reisen” (rororo), „Land und Leute” (Polyglott) gelesen, zwei Sprachführer: Kauderwelsch (Peter Rump Verlag) und PONS dabei; Thermarest-Isomatten geliehen, Packtaschen gekauft, Espressokanne und überhaupt eine gute Bordküche in den Riesen-Boy gepackt. Und auch die wackere GS 1000 bekam ein paar Zuckerles: H&B-Gepäckträger angebaut, Steuerkette und Öl gewechselt, Transistorzündung nachgerüstet (vielen Dank an Werner K. aus Bremen-H.), Vergaser gereinigt, Speichen kontrolliert, Zylinderfuß (von außen) abgedichtet, Reifendruck erhöht und überhaupt wieder mal gründlich nach dem Rechten gesehen.
Am Freitag, 14. August, ging es am Nachmittag gen Frankreich, und zwar über Autobahn durch Holland und Belgien. Es war ziemlich kühl, aber trocken. Ich war das erste Mal in Belgien und fand es eine gute Idee, nachts zu fahren, um die beleuchteten Autobahnen gebührend zu bewundern. In Frankreich angekommen, hieß es dann in der Gegend von Lille im Dunkeln rumkurven und einen Lagerplatz suchen. Aus unerfindlichen Gründen stand dort ein Erdwall in der Landschaft, auf dessen Rücken sich ein schöner Platz fand. Mit Mondschein, vernehmlichem Grillengeräusch und einem Heidelbeerwein war das ein schöner Anfang.

 

Am nächsten Tag dann weckte uns Hahnengeschrei, und wir schafften es gerade noch, etwas Baguette, Wein und Käse zu besorgen: es war Feiertag und alles machte schon mittags zu.
Geizig wie wir sind, und ohnehin der Meinung, der Name AUTObahn habe was zu bedeuten, nahmen wir das Unternehmen in Angriff, Paris weiträumig zu umfahren. Das führte erst ganz flott über Arras, Amiens, Beauvais und dann aber auf immer kleinere Straßen; ständig rauschten einheimische Motards stiefelausstreckend an uns vorbei, aber die kennen die Landschaft ja auch schon. Wunderschön war es bei Mantes an der Seine, aber mit einem anderen Motto als „der Weg ist das Ziel” hätte man doch die Autobahn nehmen müssen. Am Abend kamen wir, reichlich geschafft, in Tours an, wo wir romantisch an einem Sonnenblumen- feldrand kampieren konnten. Wunderbar, dieser französische Wein!
Weiter ging es Richtung Bordeaux. Mittlerweile war es schon richtig warm geworden, und die Nachmittagspause unter einem riesigen Kirschbaum bei Angoulême verbrachten wir schon lieber im Schatten. Beeindruckend fand ich in Bordeaux das Flüssepanorama, ernüchternd den Stadtgestank. Nachdem ich es kategorisch ablehnte, mir diesen blöden Sandhaufen am Atlantik anzusehen, ließen wir Arcachon rechts liegen und kehrten ein Stück weiter für zwei Nächte auf einem sogenannten „natürlichen” Campingplatz ein. Das war ein Fichtenwald, der zu einem Bauernhof gehörte, ein Sanitärhäuschen mit dem Nötigsten hatte und günstig war. Zum Grillenzirpen und morgendlichen Hahnengeschrei gesellte sich nun auch nächt- liches Hundegebell.
Hier war Zeit, nachmittags nach Mimizan an den sehr vollen Strand zu fahren. Ich sah zum ersten Mal den Atlantik und war prompt von den Socken, aber man gewöhnt sich bald an die Brandung und bleibt auf den Beinen. Komisch ist es dann nur wieder an Land: das Gleichgewichtssystem ist noch ganz auf die Wellen abgestimmt, der feste Boden scheint zu schwanken. Das war ein spaßiger Strandtag, auch wenn man beim Sonnenbaden ab und zu von originellen Bauchladenhändlern mit gebrannten Erdnüssen beworfen wurde.
Schon war Spanien in Reichweite. Wir wollten uns besonders die Nordküste ansehen und versuchten es über Landstraße von San Sebastian nach Bilbao, gaben aber schon nach 30 Kilometern auf: zu kurvig, zu viele Autos, zu viel Beinahe-Wheelies beim Überholen (zu viel Gewicht auf dem Hinterrad?). Die – kostenpflichtige – Autobahn war die beste, die ich je unter den Rädern hatte, keine (!) Bodenwellen, rennstreckenmäßiger Belag, kaum Verkehr und Kurve an Kurve. Landschaft? Bergig, glaub’ ich.
Hinter Bilbao ging es gratis weiter nach Santander, wo wir mangels Beschilderung zu einer unfreiwilligen Stadtrundfahrt kamen. Als wir endlich aus der Stadt raus waren, hatten wir die Genugtuung, dass uns – uns! – ein sichtlich genervter spanischer Autofahrer nach dem Weg fragte. Mein Italienisch half ihm nicht, aber ich wußte ja selber noch nicht genau, wo wir waren.
Es wurde Nacht, und keine Küste und kein Lagerplatz war in Sicht, und Wein hatten wir auch noch keinen. Wir bogen ab in ein kleines Seitental, wo wir in einer Dorfkneipe Wein erstanden. Es gab nur Flaschen – was das kosten würde! Ich nahm „menos caro”, den billigeren – und zahlte drei Mark. Die Suche nach einem Lagerplatz führte uns in das romantische, verwinkelte Bergdorf La Concha, wo ich es fertigbrachte, mich zwischen zwanzig Häusern zu verfahren. Letztlich landeten wir auf dem Zeltplatz von Comillas. An dem Abend stand das Zelt in Rekordzeit, und der Wein ließ die Strapazen auf der Stelle vergessen.
Am nächsten Morgen umfing uns im Sanitärhäuschen Chlorgeruch, der uns noch so oft begegnen sollte. Mein ironischer Kommentar „in Spanien weiß man noch, was sich gehört” zu der Tatsache, dass nur im Frauenteil Spülbecken und Waschmaschinen zu finden waren, kam erwartungsgemäß nicht so gut bei Tatjana an. Strafe für zu harte Männer muß sein: in meiner Dusche gab’s kein warmes Wasser, so dass ich sehr erfrischt den Tag anfing.
Auf dem Weg nach Westen gab es viele Straßenbaustellen mit Hinweis „Hier baut die EU”. Dass das durchaus nicht überflüssig war, erfuhren wir auf der Küstenstraße nach Gijon, die sehr kurvig und zum Teil auch holperig war. Gijon hat mir dann vom Durchfahren ganz gut gefallen, aber unser Ziel war irgendeine einsame Bucht in Galizien. Und siehe da, kaum in Galiziens „Grenzstadt” Ribadeo angekommen, wurden die Beschriftungen zweisprachig und klan- gen schon ziemlich wie in meinem Sprachführer (die Sprach-Weltkarte in meinem Atlas faßt in der Tat Portugiesisch und Galizisch zusammen). Der Lagerplatz war zwar einsam, aber die Küste ziemlich felsig, so dass an Baden schon wieder nicht zu denken war. Dafür kochten wir was Schönes und leerten am Wasser, auf das die Nacht sich senkte, unsere tägliche Flasche Apfelsaft, oder war es was anderes? Wir schliefen schlecht auf dem pieksigen Kraut, das da überall wuchs.
Die Bergkette an der Nordküste überquerten wir auf der C640 von Viveiro nach Villalba: auch wieder eine sehr gute, verkehrsarme und zum Teil dreispurige Straße, die in herrlichen Kurven bis in die zugige Höhe von 702 Meter führt. Der Lohn dieser Passüberquerung war ein deutlich wärmeres Klima: das Land sah hier schon ziemlich sonnenverbrannt aus. Über Lugo ging es weiter nach Ourense; auf dem Weg waren öfters Fragmente alter Landstraßen zu sehen und an einigen Stellen waren auch die neuen Straßen vorläufig an die alten geflickt: es war ein Unterschied wie Tag und Nacht! Auf einer Tagestour spart man durch die Ausbauten Stunden.
Am Fluß Miño entlang trug uns die Schnellstraße Richtung Vigo, und am späten Nachmittag waren wir denn doch schon über die Minho- (ja, das ist derselbe Fluß) Brücke in Portugal angelangt. Nach der weiten Anfahrt erfaßte mich doch ein intensives Glücksgefühl, tatsächlich da zu sein. Aber etwas mulmig ist einem schon, in das Land zu kommen, das die Verkehrstotenstatistik der EU souverän anführt.
Nun wollte ein Zeltplatz gefunden sein; den ersten bei Caminha ließen wir rechts liegen, weil er ja nur an der Minho-Mündung und nicht am Meer war. Es würden sich ja wohl noch etliche Zeltplätze, vielleicht auch ein einsamer Strand an der flachen Küste finden, oder? Von wegen, an den Strand kommt man schwer ran und die Zeltplätze sind dünn gesät und zum Teil richtig häßlich. Nach zweistündiger Suche in furchtbar dichtem Küstenstraßenverkehr und zunehmender Kälte fanden wir bei Esposende einen zumutbaren Platz. Es war natürlich schon längst dunkel, das geht in südlichen Breiten ganz schnell. Nett war hier, dass man nicht nur über Preise und Regeln belehrt wurde, sondern auch erfuhr, dass man das Zelt bis zum späten Nachmittag stehen lassen konnte, ohne extra zu bezahlen. Dieser Bonus wird auf den meisten Zeltplätzen der ORBITUR-Kette geboten, wie wir später herausfanden.
Meine ersten Worte am folgenden Tag lauteten „August 2002: in Portugal ist soeben der Schalldämpfer erfunden worden.”, denn uns weckte kein Hahn, sondern das fiese stinkende Müllmobil, das dann auch noch stundenlang hin und her knatterte. Das Sonnenbad am Campingplatz-Privatstrand, den man durch 50 m-Betonröhren unter den Dünen erreichte, war dann aber sehr angenehm, nur das Wasser – sooo kalt (typische Handbewegung)! Aber auch hier weiß mein Atlas die Erklärung: eine kühle Strömung streicht an der ganzen Westküste entlang. Tja, das stand nicht im Reiseführer.
Nachmittags ging es weiter Richtung Süden, über die Schnellstraße durch Porto und weiter über die Autobahn an Coimbra vorbei. Die portugiesischen Autobahnen sind im Vergleich zu den spanischen ihr (d.h. natürlich unser) Geld nicht wert, aber wenigstens sind die größeren Bodenwellen schon aus der Entfernung an Gummispuren zu erkennen, die vermutlich von hochgezogenen und trotzdem aufsetzenden dritten Lkw-Achsen stammen. Ansonsten wird zwar riskant, aber nicht besonders aggressiv gefahren.
Wir bogen Richtung Leiria ab, mit Ziel São Pedro de Moel, wo wir pünktlich zum Sonnenuntergang ankamen. Mir schwante schon, dass hier die Küste anders aussieht, als der nahegelegene Leuchtturm aktiv wurde und wir uns Auge in Reflektor gegenüberstanden. Der Zeltplatz war groß und voll, aber recht hübsch gelegen. Anderntags durften wir wieder das Zelt bis nachmittags stehen lassen und wollten an den Strand, aber der machte sich rar. Die Küste war schon sehr felsig und wahre Menschenströme ergossen sich über betonierte Treppen auf ein paar Strandstücke. Hier eröffnete sich immerhin die uns völlig neue Möglichkeit des Frisbeespielens mit Bande.
Der weitere Weg nach Süden führte durch die Dünen nach Nazaré, wo auch wieder das Leben tobte: es waren halt Ferien in Portugal und alles drängte sich an der Küste. Langsam fing der Verkehr an zu nerven, und ich kam Tatjanas Aufforderung, mal öfter zu überholen, denn auch gerne nach. Wohltuend: man wird gesehen, und es wird Platz gemacht, wenn man dementsprechend fährt. Aber mir war einfach das Lenkerschlagen beim Gasaufreißen zu heftig, und bald kam ja auch die Schnellstraße Richtung Lissabon. Dort angekommen, gerieten wir wie von selbst auf den Ponte Vasco da Gama, eine 20 km lange, sechsspurige Autobahnbrücke über die Mündung des Rio Tejo; leider ging die Aussicht etwas im abendlichen Dunst unter.
Über Landstraße ging es weiter ins Touristenparadies Setúbal. Nach einigen Kilometern gen Westen Richtung Sesimbra fand sich ein schöner Zeltplatz am Strand, den wir aber verschmähten – Fehler! Die Halbinsel zwischen Lissabon und Setúbal hatte ich mir nämlich sehr viel flacher vorgestellt; Tatsache ist aber, dass es in unmittelbarer Nähe des Wassers einen Aussichtspunkt von 501 Meter Höhe gibt, und dementsprechend felsig und bergig ist auch die Küste. Der nächste Zeltplatz kam erst in Sesimbra, wo wir denn auch erst im Dunkeln ankamen. Der Zeltplatz bestand aus gekiesten Terrassen und war zum Glück ziemlich günstig, d.h. 10 Mark für alles. Kaum hatten wir entnervt die Häringe eingeschlagen, schlief der Abendwind ein und wir konnten doch noch in Ruhe den regionalen Wein genießen.
Anderntags wollten wir erst per Fähre auf die Halbinsel Troia übersetzen, um weiter nach Süden zu kommen, aber angesichts der langen Autoschlangen fuhren wir außenrum, die IP1 über Alcacér. Das erste Mal führte uns die Straße etwas von der Küste weg, und wir erlebten ein ganz anderes Portugal. Einsam, flirrend in der Mittagshitze, ab und an ein Melonenstand an der Straße, rechts und links Korkeichen. Das also war – wie auch auf einer großen Tafel an der Straße zu lesen stand – der Alentejo, der größte Distrikt Portugals – dünn besiedelt, berühmt für seine Stille (besonders seit die deutsche Luftwaffe aus Beja abgezogen ist und hier nicht mehr Tiefflüge übt), berüchtigt für seine Hitze. Es war nicht möglich, mit offenem Visier zu fahren und der Tankstopp bei einem klimatisierten Imbiß fiel ziemlich lang aus.
Als wir Richtung Odemira abbogen, machten wir zum ersten Mal mit richtig schlechten Straßen Bekanntschaft, die uns mitten durch die Ein-öde führten. Vorbei an riesigen Eukalyptusbäumen, weiß gekalkten Häusern mit mümmelnden Greisen davor und verdorrtem Gras hoppelten wir der Küste entgegen, Melonenlaster und Eselkarren zuckelten über die Serpentinen, und ich hatte endlich das Gefühl, in einem fremden Land zu sein.
Aber schon in Küstennähe wurde es wieder lebhafter; der Zeltplatz im an sich zauberhaften Zambujeira war voll, die Badebucht erst recht, und von 0 bis 4 Uhr dröhnte die Strand-disco durch die Nacht. Trotzdem beschlossen wir, hier ein paar Tage zu bleiben, Karten zu schreiben und die Algarveküste (warum wohl) sausen zu lassen. Eine Tagestour nach Odemira, das (noch?) nicht so touristisch ist, brachte aufgrund der Ruhe viel Spaß und Entspannung.
Am nächsten Tag – ein Montag – wollten wir eigentlich weiterfahren und hatten schon das Zelt ausgeräumt, als wir gewahr wurden, dass eine große Abreisewelle im Gang war. Auf portugiesisch gelang es mir nicht, den Grund zu erfahren, aber auf französisch klappte die Verständigung prima. Überhaupt beherrschen jung und alt das Französische: erstere lernen’s in der Schule, letztere haben zu großem Teil mal in Frankreich gearbeitet. Es stellte sich heraus, dass sich am Montag der letzten Ferienwoche alle Urlauber auf den Heimweg machten, um dem sonntäglichen Rückreisestau zu entgehen. Waren also alle gleich schlau oder gleich dumm? Unter den Bedingungen jedenfalls wollten wir doch noch bleiben und machten uns einen schönen Abend am Strand.
Am Morgen war der Strand in Nebel gehüllt; die auf Sonne hoffenden Horden verzogen sich gegen Mittag und wir hatten mal ein bißchen Platz. Tags drauf regnete es morgens sogar ein bißchen, und der vorher angenehme Geruch der Eukalyptusbäume legte sich wie ein Inhalationsbad auf die Lungen. Es war insgesamt kühler geworden und wir trauten uns nun doch, wieder durch diese stille, einsame Landschaft ins Binnenland zu fahren. Wir wendeten uns also wieder nach Norden.
Aufgrund der sommerlichen Wasserknappheit wird im Alentejo jedes Rinnsal gestaut und an einem solchen Stausee, bei Odivelas, machten wir Station auf einem Zeltplatz unter der Leitung eines niederländischen Paares. Es war der teuerste und wohl deshalb leerste von allen, aber der einzige, wo für Klopapier gesorgt wurde. Und endlich gab es mal angenehm warmes Stauseewasser zum Baden!
In der Nähe liegt die historische Stadt Évora, die laut Reiseführer von Sehenswürdigkeiten und leckeren Lokalen nur so strotzen sollte. Sie ist auch nicht allzu groß, ca. 45000 Einwohner, und so entschieden wir uns doch für eine Tagestour. Aber Évora nervt. Als Merksatz gilt dort noch viel mehr als anderswo: wo Autofahren möglich ist, da wird auch gefahren, und zwar den ganzen Tag. Die Stadt ist sehr hübsch, ohne Frage – mit Stadtmauer, Diana-Tempel, einer komplett mit Schädeln und Oberschenkeln ausgekleideten Knochenkapelle, dem Brunnen aus der Renaissancezeit, Gassengewirr usw. usw., und demzufolge sehr touristisch. Es laufen aber auch einige recht verdächtig aussehende Gestalten dort rum, und ein Straßenhändler, der Comics mit Antidrogen-Botschaft für Drogenhilfegeld verkaufte, erzählte mir, dass in Évora das Drogenproblem größer sei als in Lissabon! Als wir zum Motorrad zurückkamen, waren die angeschlossenen Helme mitsamt den drinsteckenden Handschuhen und Nierengurten weg, das mittelschwere Drahtschloß durchgekniffen. Ich hoffe, das waren Drogis, sonst hätte ich für so einen Klau überhaupt kein Verständnis. Der Tiefpunkt? Wir werden sehen.
Ich wollte gern eine Anzeige machen, Tatjana meinte, das wäre völlig sinnlos: wir sollten beide recht behalten. Wir hielten einen Streifenwagen an, der uns zur Wache lotste, und mit Hilfe eines Wörterbuchs und wieder mal des Französischen bastelten wir mit dem sehr wohlwollenden Chef die Anzeige zusammen. Ohne Helme die 60 km zum Zeltplatz zurückzufahren, nur um anderntags zwecks Neukaufs wiederzukommen, war offensichtlich unsinnig (und verboten), und so parkten wir die Suse zwischen den Dienstwagen und wurden in einem Streifenwagen zu einer Pension gebracht, wo auch noch ein nettes Oma-Zimmer für uns frei war. Dort mußte natürlich der frisch gekaufte Wein dran glauben und half uns, das Beste aus unserer Lage zu machen.
Anderntags frühstückten wir portugiesisch: Tass’ Kaff und Brötchen im Stehcafé. Zurück auf der Wache, kümmerte sich der gleichfalls sehr wohlwollende Chef von der Tagschicht gleich um eine Dienstfahrt zum Helmgeschäft, einer Honda-Vertretung in der Vorstadt. Im Geschäft durften wir in Ruhe aussuchen, während die Kollegen Motorräder ansahen. Sogar die billigste Ausrüstung riss noch ein 1000 Mark tiefes Loch in die Kasse – die Preise sind etwas höher als bei uns. Endlich fahrfertig auf der Wache, wollten wir unseren beiden Helfern einen Kaffee spendieren, aber die meinten nur, das sei ja ihr Job; statt dessen drückte uns der Chef noch zwei von seinen Jetons für die Kaffeemaschine in die Hand. An diesem Vormittag überwog doch fast die Freude über so viel Hilfe den Ärger über die geklauten Helme.
Nach noch einem Tag zur Erholung am Stausee nahmen wir die mit 470 km längste Tagesetappe, über die N18 Richtung Norden in Angriff. Die Landschaft wurde zusehends hügeliger, der Bewuchs verdichtete sich teilweise zu Eukalyptuswäldern; und hier sahen wir auch die abgebrannten Gebiete, vor denen Bekannte uns gewarnt hatten. Die natürliche Landschaft der Serra da Estrela ist wunderschön: bergig, felsig und bewachsen wie die Lüneburger Heide. Für den Abschnitt hätte man sich vielleicht zwei Tage Zeit nehmen sollen. Auf den kurvigen Straßen an den Hängen bilden sich aber manchmal recht lange Autoschlangen, und man tut gut daran, vor dem Ausscheren den Rückspiegel zu konsultieren, auch wenn man meint, ein Auto kann hier gar nicht überholen: die Portugiesen sind in dieser Hinsicht durchweg nicht zimperlich.
Auf dem wiederum niederländisch geführten Zeltplatz bei Sátão angekommen, bekamen wir erstmal ein Getränk und etliche Prospekte umsonst: die Abreisewelle hatte sich am Vormittag in den Hügeln verlaufen und es war wunderschön ruhig geworden. Es hätte so ein schöner Abend werden können – hätte ich nicht wohlgefällig die wieder ganz benutzte Lauffläche des Hinterreifens gemustert und dabei aus dem Augenwinkel gebrochene Speichen gesehen! Insgesamt sechs, und fünf davon nebeneinander! Das kommt davon, wenn man nachher nicht mehr mitzählt, wie oft die Federung (Konis) durchschlägt! Also lag ich die halbe Nacht wach und grübelte, ob wir so nach Hause kommen würden, und hatte dabei jede Stunde Gelegenheit, den elektronischen Glockenspielen von drei Dorfkirchen der Umgebung und anschließend einer Menge Gekläff zu lauschen. Neben den Digital-Big Bens hat sich in der Region noch ein ganz anderes Wettrüsten entwickelt: jedes Dorf will das größte Neonröhrenkreuz auf seiner Kirche haben! Die Farben: grün, blau, pink und wer weiß was noch. In unmittelbarer Nähe von Eselkarren und handgeschichteten Heuhaufen nimmt sich das grotesk aus.
Anderntags galt es, eine kleine Tour in die Umgebung zu machen und vielleicht einen Mofahändler oder sowas zu finden. Im nahe gelegenen Viseu gab es eine Suzuki-Vertretung, wo wir pünktlich zur Siesta ankamen, die in Portugal zwei Stunden dauert. Zeit für einen kleinen Stadtbummel – und siehe da, geht doch! Eine schöne Fußgängerzone ohne Autos und ein leckeres Mittagessen hielten die Stimmung im grünen Bereich.
Am Nachmittag wieder im Laden, bekam ich natürlich keine GS 1000-Originalspeichen, sondern doch nur welche vom Mofa, die ich aber für immer noch besser hielt als gar keine. Also hatte Tatjana Zeit für einen großen Stadtbummel, während ich in der Werkstatteinfahrt das Hinterrad ausbaute und die neuen Speichen einfädelte. Zu Feierabend war die Sache erledigt, und nur eine Speiche hatte ich nicht ersetzen können. Ziemlich erleichtert kamen wir wieder auf dem idyllischen Zeltplatz an. Der Rotwein der Region, Dão, machte mich vollends zum Weinliebhaber und versöhnte mit allen Widrigkeiten.
Den nächsten Vormittag verbrachten wir am Pool und brachen erst weit nach Mittag auf. Das letzte Ziel in Portugal sollte Trás-os-Montes (Hinter den Bergen) sein, die nordöstlichste und angeblich archaischste Region Portugals. Und siehe da: Pferde- und Eselkarren, Kadett B statt Cinquecento, freundlich grüßende Schäfer, Landwirtschaft wie bei den Altvorderen, ganz wie’s der Tourist (und wohl nur der) sich wünscht. In Vila Flor, nicht weit von der IP2, gibt es einen großen Zeltplatz mit eigenem Schwimmbecken, Restaurant und einer äußerst umständlichen Eincheck-Prozedur, die aber fast vollständig in Portugiesisch klappte. Dies war der einzige Zeltplatz der Tour, auf dem wir den Luxus von Tischen und Bänken vorfanden! Auch die Sanitäranlagen waren der pure Luxus in Marmor und Edelstahl.
Durch eine bezaubernde und wirklich urige Landschaft mußten wir uns schließlich auf den Weg nach Spanien machen: Richtung Norden über Bragança durch unbewohntes, wegloses Hügelland über die inzwischen grüne Grenze bei Portelo. Hier kann wirklich die Phantasie mit einem durchgehen und man sieht die Schmugglerbanden durch die Hügel huschen – aber immer schön nach vorne sehen: nach der Kurve ist vor der Kurve.
In Spanien ging es zügig voran über gute Schnellstraßen Richtung Benavente und Palencia. Das war gut so, denn wir hatten vor, in Frankreich zu übernachten. Ab Burgos benutzten wir die kostenpflichtige Autobahn. Über Schnellstraße ging es an Vitoria (baskisch: Gasteiz) vorbei und auf der N1 durch die Berge. Hierbei ist eine Höhe von 650 m zu überwinden; dank des teilweise dreispurigen Ausbaus geht das Überholen flott. Spanien ist ein Motorradland und man braucht keinen Crivillé-Helm, um überall gesehen zu werden und Platz zu bekommen.
Jetzt eine Warnung: beim Herauskommen aus den Bergen war etwa in Höhe Tolosa eine Brücke falsch angesetzt, die Fahrbahn ging in einem anderen Winkel weiter und beide(!) Federungen schlugen äußerst brutal durch. Wir hatten voll erlaubte 110 drauf, aber 80 wären noch zu viel gewesen. Bei einbrechender Nacht fuhren wir von Zahlstelle zu Zahlstelle gen Frankreich und es machten sich merkwürdige Vibrationen bemerkbar. Endlich in Frankreich, meinte Tatjana, wir sollten nochmal nach dem Rechten sehen. Wir rollten vom Schalterhäuschen zum Parkplatz, und dann wurde mir schlecht. Ein klägliches Felgenoval hatte uns mit Tempo 120 über Brücken und weitere Fahrbahnabsätze nach Frankreich gebracht! 15 Speichen gerissen, und jetzt saß der Sensenmann auch noch hintendrauf! Der Tiefpunkt? Jawollja.
Wäre mir in dem Moment mein Schutzbrief eingefallen, wir hätten das Moped der Zahlstellenpolizei anvertraut und den Zug genommen. So aber schlichen wir, ich halb auf dem Tank und Tatjana halb auf meinem Platz sitzend, zur nächsten Ausfahrt (was können 5 km weit sein) und wollten in ein Motel. Aber: leider alles belegt und eh seit 22 Uhr geschlossen (es war halb elf). Also Motorrad zu einer nah gelegenen Wiese neben einer Grundschule geschoben, wobei ich mir wünschte, die Ohrstöpsel noch drinnen zu haben: das Ächzen der verbliebenen Speichen klang mir wie das hohle Lachen unseres ungebetenen Passagiers. Es hatte den Abend Unwetter gegeben, aber wir legten uns trotzdem einfach an den Wegrand. Zum Glück blieb es die Nacht über trocken. Am Morgen vor Schulbeginn ließ uns der Hausmeister netterweise in die Waschräume.
Betreffs der weiteren Maßnahmen konnte es keine Diskussion geben: Gussrad besorgen oder auf vielen Gussrädern spottergeben nach Hause fahren. Das bepackte Moped durften wir auf den leider unbewachten Motelparkplatz stellen, die Helme und Jacken mußten wir mitnehmen auf den Fußmarsch in die unbekannte Stadt Anglet/Bayonne. Schon in der Autobahn-Straßenmeisterei aber waren die Schreibkräfte so hilfsbereit, uns ein Taxi zu rufen, das uns zu einem Suzuki-Händler fuhr; dort konnte man ein Hinterrad besorgen – in zwei Tagen und für 800 Francs. Mit säuerlichem Gesicht schrieb mir der Verkäufer die Adresse des Motorradverwerters auf, nach dem ich dann fragte und zu dem wir uns sogleich auf den Weg machten.
Dabei fanden wir heraus, dass Bayonne eine ganz charmante Stadt ist. Der Motorradfriedhof, „Motocasse Wolff”, machte erst am Nachmittag auf und wir hatten Zeit, in einem hübschen kleinen Straßencafé – bei Carlos – zu Mittag zu essen, Menü mit drei Gängen für 60 Francs. Der Chef war Portugiese und legte sich richtig ins Zeug, als er hörte, dass wir aus Portugal wiederkamen. So gut hatten wir in Portugal die ganze Zeit nicht gegessen! Und schon war die Laune wieder hergestellt.
Als der Motorradladen aufmachte, fuhr Monsieur Wolff erstmal mit uns zu dem Motel, um die fußlahme GS in den ebenfalls ziemlich klapprigen 207er Mercedes-Bus einzuladen. Hätte ich nie gedacht, dass man die schwere Fuhre mit so viel Schwung so eine schmale Planke raufschieben kann! Beim Losfahren war mir, als hörte ich das sich entfernende Geräusch einer Sense irgendwo auf der Wiese; es war ja auch mitten im Sommer.
Wieder zurück auf dem Hof, suchten wir in dem sehr ordentlichen Räderregal nach einem passenden Exemplar. Tatjana entdeckte das einzige 17-Zoll-Rad. Alle Maße paßten genau; kein Wunder, die GS 1000 mit Speichenrädern war auch nur eine kleine Serie, und dafür konstruieren die Japaner ja nichts um. Der Einbau ging bei herrlichem Wetter auf der Einfahrt vonstatten. Das alte Rad blieb zurück, nur die Lager habe ich mitgenommen. Die ganze Sache kostete uns 400 Francs – ein mehr als fairer Preis dafür, dass wir derart „dans la merde” steckten, wie einer der angestellten Flexer sachlich feststellte.
Am frühen Abend kehrten wir zu dem natürlichen Zeltplatz zurück, den wir von der Hinreise kannten und der sich schon deutlich geleert hatte. Erschöpft schwelgten wir den Abend in Wein, Baguette und Käse.
Anderntags war unser Ziel Clermont-Ferrand, über die völlig überlastete N 89, die nicht umsonst bald eine Autobahn zur Seite bekommen soll. Bei Brive-la-Gaillarde fing es an zu regnen und es wurde dunkel, und dann, wie spaßig, ging es ab ins Zentralmassiv, das ich mir so massiv nicht vorgestellt hatte. Die Straße wurde immer kurviger und enger, wir bekamen es mit einem Sattelzug zu tun, der sich erst nicht überholen und dann nicht abhängen lassen wollte, bis mir jedes Manöver recht war, um ein paar Autos zwischen ihn und uns zu bringen. Trotzdem ist die Auvergne eine eindrucksvolle Landschaft, die einen bei gutem Wetter sicherlich bezaubert hätte. In Clermont-Ferrand gelang es uns, ein halbwegs preiswertes Motel (Doppelzimmer für 180 Francs) zu finden, die Socken zu trocknen und uns des Lebens zu freuen, das noch in uns war. Ob wir Wein dabeihatten? Überflüssige Frage.
Es war Samstagmorgen, die Sonne lachte, und wir wollten eigentlich am Abend in Oldenburg sein – lacht da wer? Klar, es würde eine Riesen- etappe werden, und jetzt waren wir auch weich geworden: ab auf die Autobahn! Es war kühl, aber das paßte gut zu der schönen Berglandschaft bis St. Étienne. Übrigens bittet der südfranzösische Autobahnverband Autos und Motos mit gleichem Wegegeld zur Kasse, während man dem Nordverband (ab Lyon, glaube ich) nur gut die Hälfte rüberschieben muß. Apropos Lyon: gibt es irgendjemanden, der sich da noch nicht verfahren hat? Fast zwei Stunden haben wir verloren – dabei hätte es gereicht, sich Richtung Paris zu halten!
Durchs Saônetal ging’s Richtung Norden und von kleineren Schauern begleitet gen Besançon und Freiburg. Vor Karlsruhe riß die Wolkendecke weit auf, wieder zeigte sich der Vollmond und ließ das weite Rheintal noch sehen. Die Erleichterung, „zu Hause” zu sein, war doch enorm. Mit ausgiebigen Pausen ging es Etappe für Etappe nach Norden; im Siegerland war es zum Glück von zwei bis vier Uhr derart neblig, dass die volle Konzentration verlangt und Eindösen unmöglich war. So langsam bekam ich Rückenschmerzen: wegen des Tankrucksacks fehlte mir der Winddruck. Die sehr gute Sitzbank allerdings ersparte uns die eigentlich erwarteten Unannehmlichkeiten. Hinter Osnabrück wurde der Nebel richtig dicht, und um halb sieben am Sonntagmorgen waren wir endlich zu Hause.

EPILOG:
Kurz vor Weihnachten. Ich lese die Geschichte nochmal und denke: hatte ich wirklich Spaß, den Sommer durchzufahren? Ich glaube schon! Gegen kleine Pannen hatte ich noch nie was, weil sie einen mit Land und Leuten in Kontakt bringen. Diesmal war’s ein bißchen viel, und trotzdem verbindet sich für mich auch Schönes mit all den Mißgeschicken; und das Geld, das kommt ja wieder!
Neulich stand in der Süddeutschen zu lesen, wer im Urlaub nichts tut, verblödet ganz schnell. Und? Bin ich wegen der ganzen Aktion jetzt schlauer geworden? Scheint nicht so. Erstmal war die Lust am Fahren gestillt, aber jetzt denke ich schon an die nächste Tour…