aus bma 5/00

von Jürgen Grieschat (Tel/Fax: 040/4225558)

Es heißt, es sei das „Land der tausend Seen”. Aber das ist eher untertrieben, denn es soll mehr als 3300 kleine, mittlere und große Seen geben, bis zum über 110 Quadratkilometer großen Spierdingsee, der einst (nach dem Bodensee) Deutschlands zweitgrößtes Binnengewässer war. Masuren ist der seenreiche Teil des baltischen Höhenrückens zwischen der Kernstorfer Höhe im Südwesten und dem Goldaper Hügelland im Nordosten. Seine Grenzen sind fließend, eine exakte geografische Eingrenzung findet sich in keinem deutschen und keinem polnischen Atlas, eine historische Region Masuren hat es nie gegeben. Heute versteht man in Polen unter „Masury” den gesamten südlichen Teil Ostpreußens.
Aber eigentlich ist es auch egal, wie man die Gegend nennt, auf Spuren deutscher Vergangenheit trifft man auf Schritt und Tritt. Mehr und mehr verschiebt sich ebenfalls das Motiv einer Reise nach Masuren. Waren es früher überwiegend „Heimwehtouristen”, sind es heute zunehmend jüngere Menschen, die dorthin reisen. Bei vielen dieser Besucher stammen wohl die Vorfahren oder zumindest einer aus der Elterngeneration von dort, aber inzwischen wächst unter den Masurenreisenden der Anteil derer, die keinerlei Familienbande in den Osten haben. So wandelt sich auch die Absicht, mit der man heute ins südliche Ostpreußen fährt. Begegnungen mit der Natur (auf dem Wasser per Segelboot, Kanu oder Kajak), Fahrrad- und natürlich auch Motorradtouren bieten sich geradezu an. Und das alles in einer Landschaft, die der skandinavischen in nichts nachsteht, ohne aber das Preisgefüge der nordischen Länder zu erreichen.

 

Heute ist es eigentlich kein Problem mehr, nach Masuren zu reisen. Als Hindernisse mögen nur noch die knapp 1000 Kilometer Entfernung von Norddeutschland nach Allenstein (dem „Einfallstor” nach Masuren) und die nicht gerade seltenen Verkehrsstaus an der deutsch-polnischen Grenze gelten. Die Grenzstaus tangieren uns Motorradfahrer nur am Rande, aber 1000 Kilometer am Stück, überwiegend auf Landstraßen abzureiten, ist nicht auf jedem Motorrad ein Vergnügen. Abgesehen davon gibt es auch während der Anreise soviel zu sehen, dass mindestens eine Übernachtung auf der Strecke eingeplant werden sollte.
Sobald man die Autobahn hinter sich gelassen hat, wird das Fahren deutlich gemütlicher, was auch an den anderen Verkehrsmitteln, die einem auf der Straße begegnen, ersichtlich wird. Pferdewagen, auch auf Überlandstraßen, zwingen zu einer noch vorausschauenderen Fahrweise.
Die Benzinversorgung ist kein Problem, das Tankstellennetz ist deutlich dichter als bei uns. In Polen hat das Tankstellensterben noch nicht eingesetzt, wer bei uns am Wochenende über kleine Landstraßen tourt, weiß davon ein Lied zu singen. Lediglich Bleifrei-Super ist nicht an jeder Tankstelle zu bekommen. An den Durchgangsstrecken sind die Tankstellen auch gut sortiert. Zubehörteile und Landkarten sind oft deutlich günstiger als bei uns. Auch ein Zwischenstopp für einen Imbiss ist dann kein Problem. Ebensowenig, wenn man als Raucher Nachschub braucht. Preise wie in ältesten Zeiten bei uns.
Je weiter wir uns Masuren nähern, desto hügeliger wird die Landschaft, desto mehr sind wir von Wald umgeben. Die heutigen Wälder Masurens sind natürlich ein Resultat menschlicher Arbeit, sie wachsen anstelle der ehemals undurchdringlichen Urwälder. Nur noch wenige Reste sind davon übriggeblieben, im Borkener Forst zum Beispiel, in der Rominter- und der Johannisburger Heide.
Masuren ist ein stilles Land, geduldig wartet der Angler an einem der Seen, an einem der Kanäle. Seit Jahrhunderten befasste sich die Bevölkerung mit dem Fischfang, um sich ihre Existenz zu sichern. Und auch heute noch sind es nicht nur Sonntagsangler, die ihre Haken auswerfen, auch heute noch werden in den masurischen Seen die Netze professioneller Fischer ausgeworfen. Frisch gefangen und vor allem frisch geräuchert sind ihre Fänge eine Delikatesse.
Die masurischen Seen sind über das sandige und steinige Land verstreut, offen zwischen den Hügeln und versteckt in den Wäldern, zum Teil klar bis auf den Grund, zum Teil trübe, fast zugewachsen. Die Legende erzählt von ihnen als den Perlen, die eine Riesin einst verlor.
Bei den großen Seen lässt die unermessliche Wasserfläche das gegenüberliegende Ufer nur wie einen schmalen Pinselstrich erscheinen, manchmal hat es den Anschein, die Schiffe würden über ihnen schweben. An anderer Stelle scheinen geheimnisvolle Waldseen Gespensterorte zu sein, bewohnt von kleinen Teufelchen. Orte wie Krutyn/Krutinnen an der Krutinna, auf der sich die Reisenden ein Stück auf dem Fluss staaken lassen können, gehören zu den touristisch bekanntesten Attraktionen Masurens und sind entsprechend gut besucht. Das gilt auch für Nikolaiken, am Übergang vom Talter Gewässer zum Nikolaiker See, wo der Stinthengst zu Hause ist. Ein masurisches Märchen erzählt von diesem Fischkönig, der den Fischern von Nikoleiken den Wohlstand gebracht hat, vor allem, seit hier nach Touristen gefischt wird.
Wenn es das Wetter und die Mücken zulassen, kann man im Sommer in Masuren problemlos draußen übernachten, nur den sternenübersäten Himmel über sich. Irgendwann schläfert einen die uralte Melodie der gegen die Bootsrümpfe schlagenden Wellen ein.
Eine Vielfalt von Kulturen und Völkern hat es in Masuren immer schon gegeben. Durch seine natürliche Lage ist es immer ein Land der Grenzen gewesen. Ursprünglich waren auf diesem Gebiet die Pruzzen ansässig, ein baltischer Volksstamm. Gegen sie rief 1226 der Herzog von Masowien den Deutschen Ritterorden zu Hilfe, der mit Kreuz, Feuer und Schwert das Gebiet befriedete und die Wildnis zu kultivieren begann. Für die katholische Kirche etablierten die Ritter den deutschen Ordensstaat und es entstanden gewaltige Burganlagen, zunehmend in Richtung Osten: die Marienburg, Elbing, Marienwerder, Neidenburg, Allenstein, Rössel und andere. Über Danzig und Elbing war der Ordensstaat mit dem Meer und dadurch auch mit den Hansestädten verbunden.
Streitereien mit Polen führten 1410 zu verheerenden Niederlagen der Deutschordensritter. Pest, Not und Tartareneinfälle herrschten in der Folgezeit in Masuren. Mehrfach wurde das Land völlig verwüstet: tartarische und schwedische Machtansprüche und der Durchzug französischer Truppen auf dem Weg nach und aus Rußland hinterließen ihre Spuren. Noch vor Beginn dieses Jahrhunderts verließen viele Masuren ihre Heimat und versuchten ihr Glück in den Kohlebergwerken des Ruhrgebietes. Nicht von ungefähr haben viele Fußballspieler im Ruhrgebiet ostpreußische Namen.
Der Erste Weltkrieg überzog dann das Land mit gewaltigen Schlachten gegen russische Truppen, viele Tote blieben zurück. So brutal wie vielleicht nie zuvor zog mit dem Zweiten Weltkrieg wieder einmal Not und Verzweiflung durch Masuren. Die Evakuierung der Bevölkerung, erst wenige Stunden vor Eintreffen der sowjetischen Soldaten veranlasst, ließ zehntausende Soldaten, vor allem aber hunderttausende deutsche Zivilisten in einem brutal kalten Winter auf der Flucht ums Leben kommen. Herrenhäuser und Güter der verhassten Germanskis wurden zerschlagen, umgewandelt in Zentralen für LPGs, in Erholungsheime, viele Höfe wurden neu besiedelt. Die meisten der alten Gutshöfe verfielen.
In Masuren wurden die von den Russen aus den polnischen Ostgebieten vertriebenen Menschen angesiedelt, die sich mit ihrer neuen Heimat jedoch nur schwer anfreunden konnten. Aus Furcht vor der Rückkehr der Revanchisten aus der Bundesrepublik lebten sie jahrelang quasi aus dem gepackten Koffer, notwendige Investitionen sind so unterblieben. Inzwischen lebt die zweite und dritte polnische Generation in Masuren, und der Wandel ist vollzogen.
Trotz aller Bemühungen seitens des Staates sind nicht alle Flächen in Großbetriebe umgewandelt worden, überall existierten noch kleine Landwirtschaften, in denen häufig genug das Pferd anstelle eines Treckers im Einsatz ist. In den Dörfern ist noch Handarbeit angesagt und man geht noch viele Wege zu Fuß.
Immer wieder trifft man auf Spuren deutscher Vergangenheit; die Gastfreundschaft ist groß, gleich welcher Nationalität Gastgeber und Gäste sind. Man muss keine Scheu wegen mangelnder Polnischkenntnisse haben. Sehr viele Menschen, die wir getroffen haben, konnten uns auf deutsch weiterhelfen und so ist die Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit kein Problem. Das Land bietet Unterkunft für jeden Geschmack und für jeden Geldbeutel: von einfachen Campingplätzen bis hin zu großen Hotelanlagen, die als großen Vorteil einen bewachten Parkplatz haben.
Wenn man in Masuren unterwegs ist, sieht man immer wieder Störche. Wer zum ersten Mal nach Masuren reist, schaut jedem Storch hinterher, aber sie sind dort fast so zahlreich wie anderswo die Spatzen, dennoch ist es immer wieder ein erhebender Anblick. Wiesen, Seen, Tümpel und Teiche bieten ihnen ein ideales Revier.
Je langsamer man sich fortbewegt, desto mehr kann man entdecken. Hier in Masuren warten auf den Reisenden keine großen Sensationen, es sind die Kleinigkeiten, die einen begeistern, die man schnell übersehen kann. Die Straßen in Masuren sind weitestgehend in gutem Zustand. Vielfach sind sie mit alten Chausseebäumen eingefasst, für uns ein kaum mehr gewohnter Anblick. Nur die Haupt- durchgangsstraßen sind neu angelegt und geteert, viele der Nebenwege haben noch die alte Pflasterung – also noch mit Sommer- und Winterweg und „herrlichen” Kopfsteinstrecken.
Viele der Ortschaften Masurens – gerade die kleinen Städte – haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Besonders an den Ortsrändern sind „einfallsreiche” Plattenbauten entstanden. Einige Orte sind davon aber auch verschont geblieben. Doch der im Mittelpunkt gelegene Marktplatz ist inzwischen fast immer neu gestaltet worden, in vielen Fällen ist auch das alte Kopfsteinpflaster – wie bei uns – verschwunden.
Auf der anderen Seite sind historische Bauten, Kirchen und Rathäuser wie beispielsweise in Rezel/Rössel häufig nach der Zerstörung anhand von Plänen und Bildern in bewundernswerter Weise originalgetreu wieder aufgebaut worden. Insofern kann man schon fast von Glück sprechen, dass diese Gebiete zu Polen gekommen sind und nicht nach Rußland. Wer schon einmal im nördlichen Ostpreußen war oder Bilder von dort gesehen hat, weiß, was ich meine.
An den Markttagen, wenn der Bauer mit seiner Frau in die Stadt fährt und Produkte aus eigenem Anbau verkauft, ist Masuren wieder das, was es schon immer war: Treffpunkt vieler Volksgruppen, Schnittpunkt verschiedener Handelswege. Seit die Grenzen durchlässiger geworden sind, kommen selbst Händler aus dem nördlichen Ostpreußen, aus dem Baltikum und aus Rußland hierher. Die Märkte Masurens bieten ein unglaubliches Angebot aller möglichen Dinge: Waschmittel, Zigaretten, Obst, Gemüse, Ferngläser aus Armeebeständen, Bohrmaschinen, Autoteile und Hufnägel – für jeden wird etwas geboten. Und was nicht passt, wird passend gemacht.
Wenn man dann im vollgepackten Kombi oder mit der Pferdekutsche zurück ins Dorf fährt, ist es immer die Kirchturmspitze, die man in dieser hügeligen Landschaft als erstes erkennen kann. Nachdem ein Pole Papst wurde, boomt im Lande die Kirche und besonders das Kirchenbauen gewaltig, mancherorts scheinen die Kirchen wie Pilze aus dem Boden geschossen zu sein. Die Frömmigkeit ist offensichtlich. Ein vielgehörter Sender ist Radio Mariya auf 98,8 – als Tipp für Gold Winger, 1200 LT-Fahrer und andere Gleiter.
Masuren war schon immer ein Land, in dem Verfolgte Zuflucht, eine neue Heimat fanden, unter anderen Salzburger, Hugenotten und auch Philipponen (Altgläubige russisch-orthodoxer Prägung, die in der Gegend von Eckersdorf und Ukta eine neue Heimat fanden). Abseits der Hauptstraße liegt das Kloster der Philipponen, das von zwei alten Ordensschwestern betrieben wird. Ein lohnenswertes Ausflugsziel, selbst, wenn man nicht viel mit Kirche am Hut hat.
Es lohnt sich, Masuren zu bereisen, eigentlich zu jeder Jahreszeit. Masuren bietet Trubel für den, der ihn haben muss, aber noch mehr Ruhe und vor allem eine Natur, die beeindruckend ist. Ein bisschen Zeit sollte man aber schon mitbringen. Eine Reise, die sich auch und gerade in der Gruppe lohnt. Für Globetrotter-Reisen habe ich schon einige Touren – besonders in den Osten – geleitet. Wer mehr darüber wissen will, die Nachfrage lohnt sich. Im nächsten Jahr geht es übrigens nach Sibirien zum Baikalsee!