aus bma 2/13
von Konstantin Winkler

Pierce Arrow von 1912Nur ein kleiner Punkt auf der Landkarte, aber ein Eldorado für Oldtimer-Fans: Stubbekobing auf der dänischen Insel Falster. Im Jahre 1976 beschloss der Malermeister Erik Nielsen, seine beeindruckende Motorradsammlung an die Gemeinde zu übergeben. Er stellte nur die Bedingung, dass er ein geeignetes Gebäude für die Fahrzeuge bekommt. Nur ein Jahr später konnte dann das Motorradmuseum Stubbekobing eingeweiht werden. Heute können die Besucher mehr als 150 Motorräder besichtigen, die meisten aus der Vorkriegszeit.

Viele dieser raren Stücke kommen aus Amerika und eines der seltensten und wertvollsten Stücke ist eine Pierce Arrow von 1912.

Bereits 1908 war der Amerikaner George Pierce stolzer Besitzer eines blühenden Fahrrad- und Automobil-Unternehmens, als sein Sohn Percy die Zweiradabteilung übernahm. Mit einer bel­- gischen FN im „Handgepäck“ kehrte er aus Europa zurück.

Das inspirierte ihn, das erste amerikanische Vierzylinder-Motorrad zu bauen. Schon das erste, noch getriebelose Modell erregte bei seinem Erscheinen im Jahre 1909 viel Auf­merksamkeit und Interesse. Der Motor war Teil des Rahmens, in dem auch Benzin- und Öltank untergebracht waren. Sensationell war auch der Kardanantrieb. Schon 1910 gab es dann ein Zweigang-Getriebe.

Pierce Arrow von 1912Aus jeder Perspektive ein imposanter Anblick: Vier einzelne Zylinder sitzen auf einem gemeinsamen Kurbelgehäuse. Ein zentraler Vergaser versorgt die Brennräume über lange Ansaugwege mit zündfähigem Gemisch. Vorne am Motor sitzt ein Magnetzünder und läuft mit der gleichen Drehzahl. So werden die vier Zündkerzen mit dem nötigen Funken versorgt. Seitengesteuerte Auslass-Ventile sorgen dafür, dass die Verbrennungsgase via Auspuff mehr oder weniger gedämpft ins freie gelangen… eher weniger gedämpft.

Die Motorrad-Motoren aus der Pionierzeit sprangen nicht gerade leicht an. Vor dem Start musste die Maschine auf den Hinterradständer gestellt werden. Dann betätigte man die Dekompressionsvorrichtung und trat bei geöffnetem Auslass-Ventil kräftig in die Pedale. Nach dem Schließen der Auslass-Ventile begann der Motor auf einigen Zylindern unregelmäßig zu zünden. Weiterhin musste in die Pedale getreten werden, bis der Vierzylinder weich und kraftvoll lief. Dicke Qualmwolken zeigten auf eindrucksvolle Weise, dass sich reichlich Öl im Motorgehäuse befand und die überschüssige Menge nun wenig umweltfreundlich entsorgt wurde. Auch während der Fahrt war es vonnöten ab und an mitzuradeln. Besonders an Steigungen. Nach etwa 10 Kilometern ließ die Motorleistung etwas nach. Zeit für eine Extraration dickflüssiges 50er Einbereichsöl mit der Handölpumpe.

Pierce Arrow von 1912Vor 100 Jahren waren die Straßen meist in schlechtem Zustand. Die hochbeinigen Mo­torräder der damaligen Zeit waren da nicht einfach zu beherrschen, zumal der Fahrkomfort zu wünschen übrig ließ. Gefedert waren nur der Ledersattel und das Vorderrad. Letzteres durch eine Art Trapezgabel, die auf eine in einer Hülse gekapselten Spiralfeder wirkte. Die damals verwendeten Pneus waren schmale Wulstreifen. Die Bezeichnung entstand durch den Sporn, der seitlich in die entsprechende Rille der Felge geklemmt wurde und so eine feste Verbindung ergab. Der hohe Luftdruck – immerhin 2,5 atü vorne und 3,0 atü hinten – kamen dem Fahrkomfort auch nicht gerade zugute.
Noch schlimmer waren die Straßen bei Regen, weil nicht nur durch tropfende Motoren (Verlustschmierung!), sondern auch durch die Hinterlassenschaften der vielen Pferdefuhrwerke alles sehr schmierig und rutschig war. Die Kotflügel waren wie die Reifen schmal ausgelegt und boten wenig Schutz.

Auf große Fahrt gehen – das waren selbst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten vor dem Ersten Weltkrieg Distanzen von vielleicht hundert Kilometern. Und ein richtiges Abenteuer! Benzin und Öl bekam man längst nicht überall, also nahm man es im Rucksack auf dem Rücken mit, wollte man nicht einen Sündenpreis in einer Apotheke oder Drogerie bezahlen. Auch bei Pannen musste man sich selbst helfen und auf Ersatzteile zurückgreifen, die sich im Rucksack befanden. Schmiede lehnten oftmals Hilfe ab, weil sie eine Explosion des Kraftstofftanks befürchteten. Also half man sich selbst; das Wort „Improvisation“ wurde groß geschrieben. Nur Motorradfahrer, die auch gute Mechaniker waren, kamen an.

Pierce-Arrow SchauglasDer seitengesteurte Vierzylinder-Motor (ungewöhnlich: die vier Einlass-Ventile befinden sich auf der linken Motorseite, die vier Auslass-Ventile rechts) der so weich und kraftvoll wie ein Automotor läuft – hat aber nur 600 ccm Hubraum und 6 PS – ist eine waschechte Verbrennungsmaschine, die gierig nach Sprit und Luft schlürft. Im Arbeitstakt wird unüberhörbar auf die Kolben eingehämmert und der bereits erwähnte Auspuff ballert seinen Bass in die Landschaft. Um die atemberaubende Höchstgeschwindigkeit von etwa 70 km/h auf null zu reduzieren, muss eine Bremse ausreichen. Diese befindet sich im Hinterrad und lässt es gemächlich angehen. Aber das schlechte Verzögern kannten die meisten ja noch von den Kutschen.

Nur vier Jahre lang wurden diese wunderschönen Vierzylinder gebaut. Das letzte Pierce-Motorrad war ein 592 ccm großer Einzylinder mit 5 PS und Keilriemenantrieb. 1913 geriet die Firma in finanzielle Schwierigkeiten und stellte die Motorradproduktion ein. „Back to the roots“ – es ging weiter, wie es einst begann, nur auch eine Nummer größer: Man konzentrierte sich auf die Herstellung von Trucks für’s Militär.