aus bma 09/97

von Klaus Herder

Menschen über 33 Jahre sind gut dran, weil legal drauf – auf einer 125er nämlich. Vorausgesetzt, sie haben vor dem 1. April 1980 den Führerschein der Klasse 3 oder 4 gemacht, dürfen die Grufties ein Leichtkraftrad mit maximal 125 Kubikzentimetern Hubraum und bis zu 15 PS Leistung fahren. Mit dieser seit März 1996 gültigen Bestimmung wurde die dahinsiechende 125er-Klasse zu neuem Leben erweckt. Wo früher verhärmte Klasse 1-Kaputtniks die Auswahl zwischen Pest und Cholera – nämlich altem Zweitakt-Stinker und müder Viertakt Schlappwurst hatten – buhlen mittlerweile rund 80 Modelle um die Gunst der Späteinsteiger. Um nicht gleich im nächstbesten Baumarkt dem Kaufrausch zu erliegen, sollte der potentielle 125er-Käufer eine genaue Bedarfsanalyse durchführen. Die könnte folgendermaßen aussehen: Sie sind ein ruhiger Typ, wünschen sich eine Rückenlehne und möchten die Beine weit ausstrecken? Kaufen Sie sich einen Fernost-Chopper. Oder haben Sie womöglich noch etwas Dynamik ins hohe Alter hinübergerettet, geben gern mal Gas und wollen sogar beim Bremsen Spaß haben? Ein quirliger Zweitakt-Renner aus Italien wäre vielleicht etwas für Sie. Möglicherweise brauchen Sie auch nur einen ordentlichen Wind- und Wetterschutz und Platz für den Einkauf? Sie sollten sich mal den neuen VW Golf anschauen.

 

Schluß, aus, vorbei – bevor der Autor völlig unsachlich wird, kommen wir zum Hauptdarsteller dieser wunderbaren Geschichte – dem Piaggio Hexagon 125. Als aufmerksamer bma -Leser werden Sie messerscharf erkannt haben, daß es sich um einen Motorroller handelt. Und davon war bei unseren Kauftips bislang nicht die Rede. Kein Wunder, denn ein Fahrer-Typ fehlte bislang in der Aufstellung: der unersättliche Alleswoller, der Komfort, Sport und Platz fordert, und das in möglichst einem Fahrzeug vereint. Das italienische Sechseck (griechisch: Hexagon) ist der gesuchte Alleskönner, die legendäre „eierlegende Wollmilchsau”. Der 138 Kilogramm schwere Plastikkübel sieht zwar aus, wie eine Kreuzung aus Altglascontainer und Toilettenbecken, doch hat man sich erst an das unkonventionelle Äußere des Vespa-Verwandten gewöhnt, kommt fast nur noch Freude auf.
Beginnen wir mit dem Wunsch nach Komfort. Gestartet wird elektrisch oder mit dem Kickstarter. Beides klappt völlig problemlos und dank einer Startautomatik auch ohne Choke-Gefummel. Bei ganz kaltem Motor sollte der Gasgriff die ersten 30 Sekunden nach dem Anlassen tunlichst nicht bewegt werden, der wassergekühlte Einzylinder-Zweitaktmotor braucht eine kurze Warmlaufphase, um Gas anzunehmen. Solofahrer nutzen die Zeit, um das vordere Drittel des Soziuskissens nach oben zu ziehen. Das Ding ist eine Rückenlehne. Der Fahrersitz an sich ist breit, weich und niedrig.
Wohin die Beine gehören, bleibt dem Geschmack des Fahrers überlassen. Fliehkraftkupplung und Automatikgetriebe machen nämlich den linken Fuß arbeitslos, die rechte Stelze ist ebenfalls auf Nullarbeit gesetzt – gebremst wird über die beiden Handhebel. Verkappte Fransenjackenträger strecken die Beine also genüßlich aus, Herrenfahrer bevorzugen die versammelte Beinhaltung mit 90 Grad Beugewinkel. Kurz gesagt: Beinraum gibt’s reichlich.
Wer zu zweit unterwegs ist, läßt die Rückenlehne eingefahren und kuschelt sich an seinen Sozius (alternativ: seine Sozia), der/die sich über eine eigene Rückenlehne und zwei stabile Haltegriffe freut. Menschen unter 1,70 Meter lümmeln sich hinter der recht ordentlich schützenden Windschutzscheibe, Lange gucken drüber und haben je nach Helmmodell möglicherweise mit lästigen Windgeräuschen zu kämpfen. Für Abhilfe kann die im Zubehör erhältliche Riesen-Wetterschutzscheibe sorgen. Daran, daß der Lenker etwas zu nah am Körper steht, läßt sich recht einfach etwas ändern: entspannt zurücklehnen. Wir sind immer noch beim Komfort und damit beim Fahrwerk. Vorn bemüht sich eine gezogene Einarm-Kurzschwinge darum, das gröbste an Unebenheiten von der Hexagon-Besatzung fernzuhalten. Die hintere Radaufhängung ist als Triebsatzschwinge mit einem in der Federvorspannung dreifach verstellbaren Federbein ausgeführt. Der Federungskomfort an Vorder- und Hinterhand ist hervorragend. Etwas mehr Dämpfung täte den Federelementen allerdings ganz gut. Die Zehn-Zoll-Bereifung (110/80-10 vorn, 130/70-10 hinten) läßtden Hexagon zwar gern Längsrillen nachlaufen und sorgt in Kurven mit wechselndem Fahrbahnbelag für die ein oder andere Tanzeinlage doch andererseits machen die Mini-Räder den Roller bei aller Länge doch sehr handlich und wendig.
In die Rubrik Bequemlichkeit fallen noch ein paar weitere Details. So ist neben dem leicht zu bedienenden Hauptständer ein Seitenständer serienmäßig. Etwas Vorsicht ist bei der Benutzung der Seitenstütze allerdings angeraten. Das Ding klappt dank einer starken Rückholfeder bei Entlastung sofort ein. Ein Zündunterbrechungsschalter und/oder eine Feststellbremse wären eleganter gewesen. Nicht bergab parken hilft aber auch. Mit einer kleinen Macke nervt auch der Hauptständer. Das Ding hängt einfach so tief und setzt bei jedem Überrollen einer Bordsteinkante lautstark auf. Das Abblend- und Fernlicht ist sehr gut, die Spiegelausleger sind dafür etwas zu kurz, die Schalter und Armaturen aber immerhin erfreulich praxistauglich – Stichwort Blinkerrückstellung per Druckknopf. Der Tageskilometerzähler ist ein weiteres Ausstattungs-Bonbon.
Das Tanken ist beim Hexagon ein nicht ganz so rühmliches Kapitel. Zwar liegt der 8,5 Liter-Tank schwerpunktmäßig günstig unterm Trittbrett und dank der separaten Klappe im Mitteltunnel können Sozius oder Gepäck beim Tanken auf der Sitzbank bleiben, doch das Spritfassen steht viel zu oft an. Zum einen, weil die ungenaue Tankanzeige nur grobe Schätzungen zuläßt und viel zu früh Ebbe zeigt. Zum anderen, weil der Verbrauch mit durchschnittlich fünf Litern Superbenzin auf 100 Kilometern deutlich zu hoch ausfällt – der Hexagon ist ein elender Säufer. Erschwerend kommt hinzu, daß zwar getrennt geschmiert wird, es aber das teure Synthetiköl sein muß.
Die beiden letztgenannten Punkte werden einer bestimmten Klientel vermutlich scheißegal sein: den Sportfahrern. Jawoll, auch diese Spezies ist mit dem Hexagon gut bedient. Der Biedermann hat es nämlich faustdick unter der Plastikschale. Der membrangesteuerte Zweitakter ist ein nur mühsam getarnter Sportler. Das Leistungslimit von 15 PS reizt der Kurzhuber voll aus. Der Einzylinder hängt ungemein spontan am Gas, geht bissig zur Sache und ermöglicht in Verbindung mit der perfekt abgestimmten Automatik hervorragende Fahrleistungen. Innerorts haben andere 125er und auch fast alle Autos in Sachen Beschleunigung nicht die Spur einer Chance – Tempo 50 steht bereits nach 3,5 Sekunden auf der Uhr. Außerorts werden echte 100 km/h ziemlich schnell erreicht und auch gut gehalten.
Zu den flotten Fahrleistungen passen die wirkungsvollen Stopper. Die Scheibenbremse im Vorderrad und die Trommel im Hinterrad verlangen zwar nach etwas erhöhter Handkraft, lassen sich dann aber gut dosierbar und nahezu fadingfrei betätigen.
Die Schräglagenfreiheit ist für Rollerverhältnisse überraschend groß, einer ziemlich flotten Gangart des Sofa-Rollers steht also nichts im Wege. Und das könnte zum Beispiel die Fahrt zum Wochenendeinkauf sein. Das Heck des Hexagon ist zwar grottenhäßlich, dafür aber umso praktischer. Ins beleuchtete und mit Filz ausgeschlagene Gepäckabteil paßt neben einem Integral- oder zwei Jethelmen nämlich noch eine bemerkenswert große Menge Dosenbier. Womit alles wichtige zum Thema Platzangebot gesagt wäre.
Der Piaggio Hexagon 125 kostet 6.450 Mark. Das ist viel Geld für einen Roller, aber ein fairer Preis für einen Alleskönner. Das Ding ist nicht nur praktisch, sondern macht auch noch mächtig viel Spaß. Und damit die Klasse 1-Besitzer wissen, wofür sie ihren Lappen gemacht haben, gibt’s den Hexagon für’s gleiche Geld auch als 150er. Mit echten 0,6 PS mehr.