aus Kradblatt 1/16, von Holger Gehrke

Namen, die keiner mehr nennt …
Die KradKircheKultur-Jahrestour 2015 mit Pastor Holger Gehrke führte dieses Mal ins ehemalige Ostpreußen.

 

Allee Motorradtour Ostpreussen MasurenDa wollten viele von uns immer schon mal hin, weil Onkel oder Tante, Vater oder Mutter immer so viel aus der „kalten Heimat“, dem ehemaligen Ostpreußen, erzählt haben. Aber einfach nur durchs Memelland (heute Litauen) oder durch Masuren, das Ermland, die kaschubische Schweiz oder Pommern (heute Polen) zu rollen und allein den Weg zum Ziel zu erklären, das war uns zu wenig. Also lag es nahe, sich an der jüngeren Geschichte zu orientieren, die uns in einem Buch von Marion Gräfin Dönhoff, der späteren Mit-Herausgeberin der „Zeit“ unausweichlich vor Augen gestellt und ans Herz gelegt wurden. „Namen, die keiner mehr nennt“ heißt dieses lesenswerte Buch, das einerseits die wunderbare Natur Ostpreußens, vom Pferderücken aus erlebt, beschreibt, und andererseits ihre Erlebnisse mit Nationalsozialismus und Widerstand bis zur Flucht hautnah beschreibt. Nicht alle Orte waren dabei für uns erreichbar, denn manche liegen heute auf russischem Gebiet in der Exklave Kaliningrad (Königsberg). In jedem Fall ist man aber gut bedient, wenn man sich eine Landkarte besorgt, die neben den litauischen und polnischen Ortsnamen auch noch die alten deutschen Namen nennt. Und da die slawischen Sprachen für uns erst einmal mit ziemlichen Aussprache-Hürden daherkommen, konnten wir uns nicht nur gut zurechtfinden, sondern erstaunlicherweise auch mit den Einheimischen verständigen. Es wird oft noch Deutsch gesprochen und hier und dort kommt man auch mit Englisch halbwegs zurecht. Gelegentlich aber wurden wir doch pantomimisch gefordert, wenn Verständigung nur noch mit Händen und Füßen möglich wurde – und mit einem Lächeln, das meist sofort für Nähe und Verständigungsbereitschaft sorgte.

Theaterplatz Klaipeda Motorradtour Ostpreussen MasurenKnapp zwei Wochen hatten wir für die Tour eingeplant, darin 5 Tage im selben Quartier („Pension Christel“) im Herzen Masurens nahe Gizicko (Lötzen).

Von Bremen aus ging es nach Kiel, dort auf die Fähre nach Klaipeda (Memel) in Litauen. Eine schöne und unerwartet preisgünstige Schiffspassage, die 24 Stunden dauert und mit attraktiven Angeboten bei Speis und Trank zu einer schönen Einstimmung geriet. Von Klaipeda aus mussten wir dann in einer straffen Tagestour die russische Exklave umfahren. Vorher aber gönnten wir uns noch eine Übernachtung in Nida (Nidden) auf der Kurischen Nehrung. Von der schwärmten ja schon unsere Altvorderen – und sie hatten Recht: 50 Kilometer durch Wald und Dünen, mal links das Haff, mal rechts die Ostsee.

Campingplatz Westerplatte Motorradtour Ostpreussen Masuren Eine Idylle, die gelegentlich allerdings durch wahnsinnig riskant überholende Autofahrer getrübt wurde. Übrigens eine Erscheinung, die uns durch Litauen und Polen begleiten sollte: teilweise chaotisches Verkehrsverhalten der Einheimischen bei zugleich scharfen (und teuren) Regeln und Bußgeldern. Aber da wir in ländlich ebenso weitläufigen wie dünn besiedelten Gegenden unterwegs waren – übrigens auf überwiegend richtig guten Straßen – hielten sich diese Harakiri-Attacken dann doch in Grenzen, freilich nicht, ohne uns den einen oder anderen heftigen Schrecken einzujagen. Aber was ist das alles schon im Vergleich zu der wunderbaren Landschaft und zu den netten bis herzlichen Menschen, die dort wohnen?! Kein Wunder, dass Thomas Mann sich in Nidden auf der Nehrung ein Sommerhaus kaufte und dort zur literarischen Bestform auflief! Und die riesige Düne, die täglich weiterwandert, ist wirklich beeindruckend, zumal sie einen traumhaften Blick auf Haff und See bietet.

Basilika Heilige Linde Motorradtour Ostpreussen Masuren„Litauen an einem Tag“ war natürlich eine Herausforderung. Pause machten wir, weil wir uns verfahren hatten, im Sperrgebiet am Memelufer, mit Blick auf russisches Land. Kein Mensch weit und breit. Aber Störche ohne Ende und vielerlei anderes Getier, nur der Elch hielt sich gut vor uns versteckt. Schon „Reichsjägermeister“ Hermann Göring jagte damals den Elch auf der Kurischen Nehrung und die weltgrößten Rothirsche in der Rominter Heide im Grenzgebiet zu Polen.

Schön, dass man in Litauen alles in Euro erledigen kann und in Polen vieles mit der EC-Karte. In beiden Ländern ist der Sprit ungefähr 20 Cent billiger als bei uns, was verbunden mit den ansonsten für uns sehr günstigen Kosten für Unterkunft und Verpflegung der Reisekasse recht zuträglich war. Wir suchten oft Campingplätze auf, die zusätzlich kleine Hütten oder Zimmer vermieten.

Basilika Heilige Linde innen Motorradtour Ostpreussen MasurenZwei von uns schlugen ihre Zelte auf, den Rest zog es mehr in feste Behausungen. Sicher auch, weil sie sich beim Packen dann auch die ganze Campingausrüstung sparen konnten. Aber wir wollten sicherstellen, dass niemand aus Kostengründen von der Reise ausgeschlossen wurde – was gelang. Teilweise waren die Hütten oder Zimmer aber so preisgünstig, dass sich der Zeltaufbau nicht recht „lohnen“ wollte. Die nächste Tour würden wir vermutlich alle auf die Zelte verzichten, zumal wir nicht bei jeder Tour mit solch optimalem Wetter wie auf dieser Tour rechnen können: Nur Sonnenschein, Wärme statt Hitze, und ein paar Regenschauer erst wieder kurz vor der deutschen Grenze am letzten Tag!

Dann waren wir in Masuren, dem legendären Zentrum des alten „Ostpreußen“. Und die, die dort noch Deutsch sprechen, reden wirklich so wie einst Onkel Hermann und Tante Guste! Das „r“ wird gerollt und alle Substantive bekommen noch ein „…chen“ angehängt. Herbergsmutter Christel hat sich tief in unsere Herzen gebrüllt, wenn sie mir morgens zurief: „Pastooorrrrrrchen, sag deine Männerrrrchen: Friieestick ist ferrrtich …!“

Wolfsschanze mit Fuehrung Motorradtour Ostpreussen MasurenIhre „Pension Christel“ im winzigen Sadry bei Mragowo (Sensburg) eignet sich in hervorragender Weise als zentraler Ausgangspunkt für Masuren: Familiäre Einbindung, leckeres Essen und ein gemütliches Ambiente mit kleinem Masuren-Museum im Nebenhaus ließen uns immer wieder gern von unseren Tagestouren zurückkehren. Fast immer nur auf märchenhaft anmutenden kleinen Alleen mit meist guter Fahrbahnqualität unterwegs, gerieten wir freilich auf der Suche nach den Geburtshäusern der Eltern einzelner Teilnehmer durchaus auch mal auf Schotterwege (dort im Navi-Setup als „befestigte Straßen“ gespeichert) und sogar auf Sandwege. Da mussten meine BMW K 100 LT und andere gewichtige Fulldresser schon mal ganz vorsichtig zu Werke gehen mit Gas, Lenkung und Bremse. Dafür kommt man dann in Gegenden, die scheinbar jenseits der Zeit immer noch genauso anzutreffen sind wie vor hundert Jahren.

Besichtigung Wolfsschanze Motorradtour Ostpreussen MasurenDas gilt auch für das Umfeld von Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze“ und Schloss Steinort, wo sich – während im Nebenflügel Reichaußenminister von Ribbentrop waltete, die Verschwörer des 20. Juli unerkannt trafen. Auch Marion Gräfin Dönhoff hat dort manche Stunde, vor allem im Forsthaus der Grafen Lehndorff, verbracht. Dieses verfallene Forsthaus hat ein Liebhaber und Investor komplett zerlegt und in Galkowo neu aufgebaut, was natürlich auch einen Besuch wert war. Gutes Essen und ein „Dönhoff-Zimmer“ erwarteten uns.

Meiden sollte man den zentralen Ort Nikolaiken, wo es neben einem riesigen Hotel nur Massentourismus zu erleben gibt.
Hingegen lohnt es sich, wenn nicht gerade Wochenende mit massivem Kanutourismus droht, mal ein ruhiges Stündchen am Fluss Krutinna zu rasten, der sich mit glasklarem Wasser durch echt masurische Landschaften
schlängelt.

Nikolaus Kopernikus in Allenstein Motorradtour Ostpreussen MasurenDass man auch mal nach Allenstein fährt, sich dort auf der Burg mit Nikolaus Kopernikus auseinandersetzt, der dort herausfand, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Kosmos ist, versteht sich von alleine. Aber auch andere Attraktionen, wie der Oberländische Kanal bei Elbing, wo Schiffe ohne zusätzliche Energie und nur mit Wasserkraft über Berge gezogen werden, vermitteln weitere intensive Eindrücke.

Viel spannender fand ich allerdings die niemals fertiggestellten Schleusenbauwerke des nie fertiggestellten Masuren-Ostsee-Kanals in der Nähe von Steinort am Mauersee. Wer bereit ist, ein paar Meter durch eine kleine grüne Hölle mit Mücken und Fröschen, allerdings auf festen Wegen, zu marschieren, der wird fasziniert vor diesen Betonklötzen stehen, auf denen sogar noch deutlich zu sehen ist, wo einst der Reichsadler prangte.
Unbedingt zu empfehlen ist ein Besuch im Kloster der „Altgläubigen“ in Wojnowo und in der Basilika „Heilig Linde“ auf der Grenze zum (katholischen) Ermland.

Danziger Altstadt Motorradtour Ostpreussen MasurenZurück fuhren wir über Danzig, dessen Altstadt absolut sehenswert ist, durch die wunderschöne Kaschubische Schweiz und durch Pommern, bis die Fähre uns in Swinemünde wieder auf deutsche Straßen zurück brachte. Die wohl größte Auswirkung dieser Reise ist die, dass wir alle mit einem völlig veränderten Polen-Bild zurückkehrten. Polen ist ein Land im Aufbruch, mit Drang nach vorn und sie haben schon sehr viel geschafft, auch mit Hilfe der EU. Und das betrifft nicht nur die vielen neuen Straßen. Man sieht es auch an den vielen neuen Einfamilienhäusern überall im Lande. Das alte Grau ist einer frischen, neuen Wirklichkeit gewichen und es entwickelt sich eine starke und motivierte Mittelschicht im Lande. Die Kriminalität ist niedriger als bei uns im Lande und die Menschen sind fröhlich, herzlich und gastfreundlich zugewandt. Man muss es wohl selbst erleben, um es wirklich schätzen zu können.