aus bma 12/00

von Konstantin Winkler

Schweiß tropft aus dem Halbschalenhelm, Wut und Verzweiflung machen sich breit. Die 600 Kubik springen nicht auf Knopfdruck an, sie wollen von einem Könner zum Leben erweckt werden. Doch bis es so weit ist, dass der erste Probelauf stattfinden kann und dichte Rauchschwaden verbrannten Öls durch die Nachbarschaft ziehen, bedarf es etlicher Monate (wenn nicht Jahre) Restaura- tions- und Improvisationsaufwandes.
Ein Telefonanruf aus dem Großraum Bremen und schon waren die Wochenendpläne zur „Freude” der übrigen Familienmitglieder hinüber – Mopedangucken statt Verwandtenbesuch! Die erste Euphorie schlug jedoch bei der Besichtigung schnell in Ernüchterung um. Und trotzdem fuhr ein paar Tage später ein Kleinlastwagen vor und brachte das, was ich als kraftfahrzeugtechnisches Kulturgut und meine unwissende Familie respektlos als Schrott bezeichnete, nach Hause.
Nach eingehender Bestandsaufnahme musste ich leider feststellen, dass die familiäre Zustandsbeschreibung gar nicht so verkehrt war. Die Trapezgabel war schief und krumm und die Räder eierten und liefen schwergängig, da alle Radlager reichlich verschlissen, dafür aber fettfrei waren. Immerhin schien der Rahmen (einigermaßen) gerade zu sein, was bei einem uralten Gespann nicht unbedingt selbstverständlich ist. Der Rost hielt sich in Grenzen, was sicher auch daran lag, dass das Fahrgestell werksseitig emailliert worden war. In die Lampe vorne hatte ein Spezialist nach hemmungslosem Einsatz von Blechschere und Spachtelmasse einen ovalen PKW-Tacho eingebaut. Der Motor bekam eine zusätzliche Öffnung und eine Riemenscheibe verpasst, die mal eine außenliegende Lichtmaschine angetrieben hatte. Wenig bis gar kein Profil zeigten die Reifen. Kleinigkeiten wie verbeulter Tank, eingerissene Schutzbleche und zerfledderter Sattelbezug fielen da überhaupt nicht ins Gewicht. An der Elektrik gab es nichts zu bemängeln, da sie nicht vorhanden war. Der Vorkriegsbeiwagen war zwar an einigen Stellen ver- und durchgerostet, aber da habe ich schon schlimmere Exemplare gesehen, die noch nicht so viele Jahre auf dem Buckel bzw. Blech hatten. Angst vor langen und langweiligen Winterabenden war also un- begründet.

 

Ein sehr interessantes und ausgereiftes Motorrad ist die NSU 601 TS. Über zehn Jahre lang, bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, wurde sie in der gleichen Konstruktion gebaut, sowohl mit Dreigang- als auch mit Vierganggetriebe. Desweiteren standen zwei Vergaser zur Auswahl: Amal Typ 6/015 und Graetzin Typ KE 26. Eine modifizierte Version gab es noch für die Wehrmacht und den Export. Rahmen, Trittbretter, Fußbremsbetätigung und Auspuff waren hierfür geändert worden. Die Bauart der NSU 601 TS verkörperte in den dreißiger Jahren das moderne und solide deutsche Gebrauchsmotorrad, das einem viel Freude und wenig Verdruss bereiten sollte: ein unten durchgehender Doppelrohr-Rahmen (ohne Hinterradfederung = Starrrahmen), eine Trapezgabel mit zwei Federn und ein riesiger Blockmotor. Letzterer beherbergt auch das Getriebe.
Wie es sich für einen Einzylinder von altem Schrot und Korn geziemt, rotiert eine langhubig ausgelegte Kurbelwelle im Motorgehäuse. Schwingungsarmut durch Ausgleichswellen? Fehlanzeige! Der Motor hört sich an wie ein alter Lanz. Trotzdem arbeitet er nach Ottos – nicht nach Diesels Prinzip. Kaum gedämpft gelangen die Auspuffgase ins Freie. Ohne Filter sind auch die Motorhalterungen. Tank, Lenker, Trittbretter, Lampe und Schutzbleche vibrieren drehzahlabhängig mit. Einen Check-Control macht diese akustische Bestandskontrolle völlig überflüssig, denn was mitklappert, ist (noch) nicht abgefallen. Auch im Standgas schüttelt der Motor die Maschine bis zur letzten Schraube durch. In solch eine NSU verlieben sich all jene, die als Kind mal Treckerfahrer oder Lokomotivführer werden wollten. PS und Drehmoment einer Hafenbarkasse sorgen für Dampfmaschinen-Phlegma.
Die altertümlich-skurrile Bedienung ist gewöhnungsbedürftig. Wenn der richtige Umgang mit Gas-, Luft-, Zündungs- und Dekompressionshebel nicht einstudiert wurde, kann sich der erste Tritt auf den Kickstarter im wahrsten Sinne des Wortes als durchschlagender Erfolg herausstellen: ein schmerzhafter Fuß durch den zurückschlagenden Hebel. Und so startet man die alte NSU: Benzinhahn öffnen und den Schwimmertupfer des Vergasers so lange drücken, bis Kraftstoff austritt. Sodann wird der Doppelregulierungshebel neben dem Gasdrehgriff richtig justiert. Der obere Hebel (für Luft) wird geschlossen, der untere auf Spätzündung gestellt. Bei wenig geöffnetem Drehgriff wird unter gleichzeitigem Anheben des Ventilhebers (links am Lenker) der Kickstarter kräftig hinuntergetreten, dabei lässt man den Dekompressionshebel wieder los. Sollte der Motor nach x Versuchen (x sei eine Zahl zwischen eins und unendlich) anspringen, braucht man nur noch Gas und Luft nach Bedarf zu regulieren, damit der Motor nicht wieder ausgeht. So einfach ist das!
Die Gänge werden mittels eines in Höhe des Tanks angebrachten Handschalthebels geschaltet, welcher in einem mit Rasten versehenen und mit Zahlen markierten Segment geführt wird. Gekuppelt wird entweder mit dem linken Innenzughebel oder mit dem linken Fußhebel. Eine Trockenlamellenkupplung soll für eine allmähliche Kraftübertragung sorgen. Auf dem Weg zum Heck fließt die Kraft der 14 Pferde über ein Getriebe, dessen Bedienungskomfort allein in der Elastizität des Motors liegt. Bar jeder Synchronisation fletscht es bei jedem Schaltvorgang die üppig dimensionierten Zähne. Auch die hohe Kunst des Zwischenkuppelns und die Fingerfertigkeit beim Dosieren vom Zwischengas können nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder Gangwechsel hier ein spanabhebender Prozess ist. So lernt der NSU-Fahrer mit den wenigen Gängen, die das im Motorblock integrierte Getriebe zu bieten hat, zufrieden zu sein, muss er doch nicht oft schalten. Die Kraftübertragung vom Getriebe zum Hinterrad erfolgt durch eine Rollenkette der auch heute noch üblichen Größe 5/8 x 3/8 Zoll.
Für genügend Bodenfreiheit in allen Lebenslagen sorgen die großen Räder. Die NSU rollt auf Drahtspeichenrädern mit Reifen der Dimension 4,00-19. Selbige sind auf einer Tiefbettfelge (3 x 19 Zoll) montiert. Die Lagerung erfolgt im Kugelkäfig mit nachstellbarem Konus. Durch Filzringe und Abdeckscheiben sind die Lager spritzwasserdicht gekapselt.
Es ist eine alte Gewohnheit der Motorradhersteller, Radnaben mit Schmiernippeln zu versehen. Der Vorteil liegt in der einfachen Schmierung der Lager. Was viele jedoch nicht wissen: Wenn nach dem 50. Fettpressenstoß der Radnabenhohlraum endgültig voll ist und der letzte Pressenstoß eine Lagerdichtung beschädigt, kann Fett in die Bremstrommel laufen. Und dann läuft diese auch wie geschmiert.
Erwähnenswert ist der abnehmbare Gepäckträger, der an den Seiten ledergefütterte Werkzeugtaschen und die serienmäßige Luftpumpe trägt. Außerdem besitzt die NSU je einen Vorderrad- und einen Hauptständer. Dadurch wird besonders vorne der Radausbau bequem möglich. Der Hinterradausbau ist so einfach und problemlos wie man es von alten BMW’s kennt: Schutzblech hochklappen und Steckachse raus. Bremsgestänge und Kette brauchen nicht gelöst werden.
Fahrwerk, Lenkung und Bremsen können im Vergleich zu modernen Motorrädern nur als abenteuerlich bezeichnet werden. Eine Steigerung ist trotzdem möglich. Noch abenteuerlicher ist das Fahren mit Beiwagen. An vier Anschlussstellen ist der Seitenwagen mit dem Rahmen verbunden, wobei die hinterste zwecks Aufnahme etwaiger Spannungen gelenkig ausgeführt ist. Es gibt kein Display und keine Mikrochips. Alles arbeitet mechanisch und direkt. Lenkkorrekturen werden beherzt und sehr direkt auf der Straße umgesetzt. Fast eckig marschiert das Gespann durch enge Kurven. Bei zu großem Einschlag ruckt und zuckt es in Lenkung, Federung und Gabel. Dann kann unter Umständen sogar das Vorderrad blockieren, wenn der Bremsbowdenzug plötzlich unter Spannung steht.
Nicht weniger abenteuerlich sind die Exkursionen in höhere Geschwindigkeitsbereiche. Die großen Reifen tragen auch dazu bei, dass das Gespann auf jeden Lenkbefehl so spontan reagiert, dass es einer lockeren, aber führenden Hand bedarf, um es mit Gefühl auf Kurs zu halten. Geradeaus läuft das Gespann ganz gut, doch der Aufenthalt im Grenzbereich kann ganz schnell zum Genuss mit Reue werden. Die schwergängige Lenkung verlangt nach massiver Armkraft. Und in der Kurve stellt sich beängstigend die Frage: Wie benimmt sich das Heck? Gibt man zu viel Gas, drückt es nach außen, um mit gekonntem Gegenlenken wieder eingefangen zu werden. Beim Überschreiten der Haftgrenze bricht entweder die Hinterachse aus oder der Beiwagen kommt hoch, je nachdem, ob man gerade eine Links- oder Rechtskurve zu schnell genommen hat.
Ein einstellbarer Stoßdämpfer verringert die Schwingungen der Gabel. In Verbindung mit einem Lenkungsdämpfer und einer nachstellbaren Kugellagerung und bietet diese Konstruktion einigermaßen präzises Lenken und guten Fahrkomfort. Hinten lässt der Komfort mangels Federung allerdings etwas zu wünschen übrig. Das Thema „Bremsen” kann man mit einem Wort umschreiben: vorhanden. Die rechte Hand betätigt die Vorderradbremse, während der rechte Fuß die Hinterradbremse bedient. Geschieht beides gleichzeitig, erreichen die Halbnabenbremsen sogar ordentliche Verzögerungswerte, auch mit dem ungebremsten Beiwagen. Trotzdem erfordern die Bremsen bei der Topspeed von knapp 80 km/h mindestens 300 Meter Vorausdenken.
Nicht nur Kupplung, Antriebskette und Bremsen können nachgestellt werden, auch die Federgabel. Haben sich die Stoßdämpferscheiben so weit abgenutzt, dass die Gabel durchschlägt, dann kann durch Nachstellen einer Sechskantmutter der Mangel behoben werden. Auch eventuell vorhandenes seitliches Spiel kann korrigiert werden. Alle vier Lagerstellen sind nach dem Lösen der Bolzenmutter nachstellbar.
Noch ein paar Worte zum Thema Ökologie, Umweltverträglichkeit und Schadstoffausstoß: Völlig ungeniert entlässt der Motor rußgeschwärzte fünf Prozent Kohlenmonoxid in die Umwelt. Rund sechs Liter Normalbenzin fließen dabei durch den Vergaser. Der Ölverbraucht entspricht dem, was in den dreißiger Jahren so allgemein üblich war: bis zu einem viertel Liter – aber nicht auf tausend, sondern auf hundert Kilometer.
Das „Owner’s Manual” – oder die „Behandlungs-Anleitung” wie man damals sagte – ist ein hochintellektuell gestaltetes Stück technischer Gebrauchsprosa. Den besonderen Reiz macht nicht nur der Umfang von 45 DIN A5-Seiten aus sondern auch viele Explosionszeichnungen und noch mehr genaueste Erklärungen aller möglichen Aggregate. So erfährt der stolze NSU-Besitzer auf den Seiten 14 und 15 alles Wichtige zum Thema Zündung: „Ein kräftiger elektrischer Funke, der an der Zündkerze überspringt, wird im Lichtbatteriezünder in Verbindung mit der Zündspule erzeugt und entzündet das angesaugte Brennstoff-/Luftgemisch bei einer bestimmten, oberen Kolbenstellung.”
Auf die Frage „Wie beseitigt man Störungen?” wird ausführlich eingegangen. Dabei werden die Fehler teilweise ebenso simpel wie unkonventionell behoben. Bei rutschender Kupplung beispielsweise soll man auskuppeln und Benzin zwischen die Lamellen spritzen. Zieht der Motor dagegen nicht und hat zudem noch schlechte Kompression, so kann es daran liegen, dass die Kolbenringe verklebt sind. In dem Fall soll man sie mit Petroleum auswaschen.
Die „NSU-D-Rad Vereinigte Fahrzeugwerke A.-G. Neckarsulm” gaben auch Garantie auf ihre Motorräder, allerdings nur ein halbes Jahr nach erfolgter Zulassung und nur dem Erstbesitzer gegenüber. Garantiert ewig dürfte dagegen der Spaß sein, den solch ein Oldtimer macht, egal ob mit oder ohne Beiwagen. Und egal, ob man der erste oder der siebente Eigentümer ist.