aus bma 2/10

von Matthias Mente

Gammle BergenWas tut man, wenn man nach der Trennung noch etwas Geld, Zeit und ein Motorrad hat? Nach Norwegen fahren! Mit dem Auto bewegt man den Körper, mit dem Motorrad die Seele. Allein, das hat seinen ganz eigenen Reiz. Man kann Fahrttempo, Anzahl und Dauer der Pausen selbst bestimmen. Bei Begegnungen unterwegs ist man viel offener, nimmt Land und Leute ungestört wahr. Aber die Abende werden manchmal ganz schön einsam. Vor allem wenn man ohne Zelt reist und in (Einzel-) Zimmern übernachtet. Den Fehler wollte ich nicht machen. Auf Campingplätzen trifft man immer Gleichgesinnte, mit denen die Abende nicht langweilig werden. Immer? Wir werden sehen.

Die Anreise von Norddeutschland nach Südwestnorwegen ist nicht sonderlich aufregend – im positiven Sinn: Auf dänischen Autobahnen gibt es keine Drängler und keine Staus. Sparsame fahren am besten wochentags mit der Fähre von Hanstholm/ Dänemark nach Kristiansand/Norwegen.

Nach sechs Stunden Fahrzeit nehme ich mir in Hanstholm die Ohrenstöpsel wieder heraus und warte im Hafen auf die Fähre. Als Motorradfahrer bleibt man nicht alleine. Fünf Süddeutsche wollen Norwegen mit ihren Motorrädern erkunden, haben keinen Plan, aber offenbar viel Zeit. Das hat was! Und dann ist da noch der gesetzte Herr auf der Harley, der mit säuerlichem Gesichtsausdruck erzählt, er führe jetzt zur Arbeit. Im teuren Norwegen für eine deutsche Baufirma nach kärglichem deutschem Tarif bezahlt arbeiten, das ist nicht wirklich lustig.

Kann man in Norwegen billig leben? Ja. Zumindest dann, wenn man auf Restaurants, Alkohol und feste Unterkünfte verzichtet. Im heroischen Selbstversuch habe ich mir schon in Deutschland genügend Fertiggerichte und Brausetabletten besorgt. Wassermangel ist nämlich kein norwegisches Problem. Man ist geneigt zu behaupten, dass an beliebiger Stelle in Norwegen man sich nicht umdrehen kann, ohne mindestens einen Wasserfall zu sehen. Und für den Geschmack gibt´s ja Brausetabletten. Brot und Belag ist allerdings etwa 1/3 teurer als in Deutschland.

AurlandsfjordÜberraschend teuer sind die Campingplätze. Zumindest für Alleinreisende. Pauschal werden meist etwa 100 Kronen für Motorrad und Zelt berechnet. Je Person kommen dann noch 10-25 Kronen dazu. Zu zweit wäre es deshalb erheblich günstiger. Meine Ausweichempfehlung: Wild zelten. Das ist in Norwegen bei mindestens 150 m Abstand zu Privatgrundstücken erlaubt und gefahrlos möglich. Gefahrlos? Ja, weil bei einer so geringen Siedlungsdichte sich einfach keiner findet, der einen ausrauben möchte. Eher wird man von einem der dort noch frei lebenden Moschusochsen überrannt.

Und noch´n Vorurteil: das Wetter. Man kann Pech haben. Fest steht: Bergen ist die regenreichste Stadt Europas. Genauso statistisch belegt ist aber auch, dass es während des Sommermonats Juli in München mehr regnet als in Oslo. Zumindest für Südwestnorwegen gilt der Juni als der regenärmste Monat des Jahres. Und so kann ich als beste Reisezeit den Mai und den Juni empfehlen. Zumal dann – trotz des schon warmen Wetters – noch viel Schnee zu sehen ist und durch die einsetzende Schneeschmelze alle Flüsse geradezu überschäumend hinreißend wirken.

Zwei Stunden dauert die Überfahrt mit dem Katamaran von Hanstholm. Nach dem Ausladen soll mich meine Tagesetappe ins 200 km entfernte Lysebotn bringen, einem winzigen Ort am Ende des Lysefjordes. Bei idealem Motorradwetter breche ich auf in eine menschenleere, gebirgige Landschaft mit jetzt im Frühjahr noch meterhohem Schnee neben der Straße und – für Mitteleuropäer unfassbar – völlig ohne Autoverkehr. Aber leider auch ohne Tankstellen, Bäckerläden und Supermärkte… Ans Tanken habe ich ja noch rechtzeitig gedacht. Aber wer kann denn ahnen, dass es erst zwei Tage später und 120 km weiter mir wieder gelingen würde ein Brot samt Belag zu erwerben? Ahnungslos kurve ich 27 Kehren ins fast 1000 m tiefer gelegene Lysebotn hinunter, werde in einem einspurigen dunklen Tunnel noch von einer 180°-Kehre überrascht und komme auf dem Campingplatz des kleinen Ortes an. Nahe des unvermeidlichen Wasserfalls bereite ich mir eine warme Mahlzeit und genieße die abendliche Stimmung. An diesem Abend fallen übrigens für 5 Minuten die einzigen Regentropfen des ganzen zweiwöchigen Urlaubs.

Wild ZeltenHungrig, aber glücklich. Für das Frühstück hat das Brot noch gereicht. Aber für die geplante sechsstündige Wanderung zum Kjeragbolten hätte ich gern noch mehr Brote geschmiert. Das ist leider im ganzen aus nur einem dutzend Häusern bestehenden Ort nicht zu kaufen. Ich packe meine letzten fünf Müsliriegel ein und fahre die 27 Kehren wieder hinauf bis zum Berggasthof Öygardstöylen. Motorradklamotten werden in den Koffern verstaut. Dann geht´s los.

Zunächst steil bergauf über in der Eiszeit von Gletschern glatt geschliffene Felsen. Glücklicherweise ist es trocken. Nasse, glitschige Felsen und der bald 1000 m tiefe Abgrund direkt daneben, hätten jetzt eine recht belebende Wirkung auf mich. Immerhin sind zur Vermeidung eines unerwünscht frühen Ablebens Ketten gespannt, an denen ich mich hochziehen kann. Die vom Touristenlärm völlig ungestörte urwüchsige Landschaft übt einen überwältigenden Eindruck aus, dem man sich nicht entziehen kann. Noch ist der Weg deutlich markiert. Nach zwei Stunden plötzlich nichts mehr. Kein Weg, keine Markierungen. Nicht nur deswegen habe ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Mittlerweile sind alle Müsliriegel verbraucht und Hungergefühl lässt die Knie weich werden. Da, Rettung naht am Horizont hinter mir. Nach der typisch norwegischen Begrüßung (Hei!), päppeln mich zwei Münchnerinnen mit Keksen wieder etwas auf. Die Suche geht weiter. Jetzt gemeinsam. Eine Stunde später begegnen uns zwei Eingeborene. Wir müssen zurück und dann über ein Schneefeld links heraus. Endlich am Ziel. Aber keiner von uns will sich als Fotoobjekt opfern und auf den Kjerag-Felsblock steigen: Der klemmt frei schwebend 1000 m über dem Lysefjord in einer Felsspalte… Schließlich stellen sich die Norweger auf den Felsen – so unaufgeregt, als ob es der Abtreter vor ihrer Haustür wäre!

Acht Stunden später und immer noch hungrig stolpere ich wieder auf den Parkplatz. Wider erwarten gelingt es mir trotz weicher Knie das Motorrad vom Ständer zu wuchten und zurück zum Zelt zu fahren.

Weiter geht´s am nächsten Tag mit dem Motorrad Richtung Jörpeland zum Prekestolen. Prekestolen heißt so viel wie Predigtstuhl. Und so sieht er auch aus: Ein 597 m hoher Felsen mit überhängender Kante, von der man, so man sich traut, einen buchstäblich hervorragenden Ausblick hat. Aber dies erfordert wieder eine dreistündige Wanderung. Und irgendwie ist man ja auch nur ein Mensch. Und außerdem war ich vor neun Jahren schonmal da. Und Jörpeland lockt mit seinen Supermärkten, in denen es sogar Brot gibt!

Alte PassstrasseDie etwa fünfminütige Fährfahrt nach Oanes stellt eine willkommene Fahrtunterbrechung dar, die gerne genutzt wird, um sich die Beine zu vertreten. Und, was für ein Zufall: Die beiden Münchnerinnen sind mit ihrem Auto auch an Bord! So geht denn die Fahrt gemeinsam weiter auf der landschaftlich schönen 13 in Richtung Odda.

Vor Odda gibt es eine der wenigen Möglichkeiten kostenlos zu duschen – zumindest für Motorradfahrer. Die Wassermassen des Latefossen schießen direkt neben der Straße zu Tal. Bei Odda geht es links, auf der wenig befahrenen 550 am Fjord entlang. 12 km weiter drängt sich uns ein landschaftlich ausgesprochen schön am Fjord liegender Campingplatz auf. Ein wunderschönes Frühstück am nächsten Morgen in ausgesprochen angenehmer Atmosphäre – zumal in weiblicher Begleitung – lassen den Aufenthalt unvergesslich werden. Leider naht am nächsten Tag die Stunde des Abschiedes. Während die Münchnerinnen noch weiter gen Norden Richtung Geiranger streben und später tatsächlich noch eine Herde wilder Moschusochsen sehen sollten, will ich mir die Hansestadt Bergen ansehen.

Bergen lässt sich von Odda kommend nicht ohne Fähre erreichen. Die Wartezeit an der Fähre vertreibe ich mir im Gespräch mit einem jungen Münchner, der in Bergen studiert. Wie er mir erzählt, hatte es vorher acht Wochen lang geregnet. Jetzt, bei diesem Schönwettereinbruch hatte er das dringende Bedürfnis sich ein Motorrad zu leihen. Er fand tatsächlich einen Vermieter, der ihm für 800 Kronen eine BMW Funduro samt Ausrüstung für 24 Std. überließ. Bis auf eine kurze Unterbrechung im Schlafsack auf dem Parkplatz-Asphalt war er auch die ganze Zeit damit unterwegs. Die Zeit wird langsam knapp für ihn und wir trennen uns in dem Versprechen uns nachmittags in Bergen vor der Flöyenbahn zu einem Stadtrundgang zu treffen.

KjeragboltenBergen kommt mir wie ein Kulturschock vor. Eine dermaßen chaotische Einfallstraße, in beiden Richtungen mit LKW-Kolonnen verstopft, habe ich seit meinem letzten Südeuropa-Urlaub nicht mehr gesehen. Nach langer Suche gelingt es mir die Flöyenbahn zu finden. Unbedingt empfehlenswert ist ein Besuch des Hausberges der Bergener, des Flöyen. Fußfaule können mit einer Bergbahn hinauffahren. Die Aussicht ist überwältigend! Weit geht der Blick über Gammle Bergen und die vorgelagerten Inseln bis ins Meer hinaus. Beim Abstieg zu Fuß bekommt man dann auch einen schönen Einblick in die Altstadt mit ihren gepflegten Holzhäusern und engen Gassen.

Am nächsten Morgen erkunde ich auf Nebenstrecken das Hinterland in Richtung Voss. Wären da nicht die vielen Kurven: ein fast amerikanisches Dahingleiten ohne gummibereifte Schnecken vor einem und ohne Heißsporne hinter einem. Das macht Motorradreisen hier so angenehm.

Wild ZeltenZunächst geht´s hinter Voss weiter nach Gudvangen am Näröyfjord. Aber vorher gönne ich mir noch einen Abstecher auf der alten Straße zum Stahlheimskleiv. Vorbei an einem sehenswerten, mit Regenbogen verziertem Wasserfall führt dieser Weg extrem steil mit sehr engen Kehren über den Berg. Für die engen Kehren ist der erste Gang meiner Honda „Ente“ fast schon zu lang übersetzt. Die Fähre in Gudvangen fährt diesmal ohne mich. Ich möchte zum nächsten Seitenarm des Sognefjordes, dem Aurlandfjord. Auf dem Weg dahin folge ich der bestimmt einzigen Jawa Norwegens. Schneebedeckte Berge im Hintergrund, das Kreuzfahrtschiff und die Holzkirche im Vordergrund. Das ist Norwegen.

Wilde Nächte. Auf der 50 fahre ich Richtung Geilo in die Berge hoch. Unzählige Tunnel sind wieder zu durchqueren. Meist fährt man auf der einen Seite warm und sauber hinein, und kommt auf der anderen Seite verdreckt und etwas durchgefroren wieder hinaus. Jetzt ist sie fällig. Die wilde Nacht, vor der mich Freunde und Verwandte immer gewarnt haben. Allein. Unter Wikingern! Oben auf dem Fjell finde ich ein schönes Plätzchen. Ein kleiner Rastplatz mit einer gemütlichen Sitzecke aus Granit, einem See mit Eisschollen darauf und einer grandiosen Rundumsicht auf schneebedeckte Berge und neun Wasserfälle. Ganz für mich allein. Als ich das Zelt aufgebaut habe, kommen zwei norwegische Motorradfahrer die Straße entlang und halten zu einem kleinen Plausch. „Warum so alleine?” „Tja, bin seit 1/2 Jahr getrennt lebend.” Klopft mir der Eine doch auf die Schulter und meint sinngemäß: „Dann bist du jetzt ein freier Mann, willkommen im Club!” Mit den besten Wünschen für die voraussichtlich kalte Nacht verabschieden wir uns. Tief gerührt hole ich den MP3-Player heraus und genieße bei Edvard Griegs Morgenstimmung den Abend. Tatsächlich messe ich morgens vor dem Zelt nur 3 °C. Obwohl es tagsüber auch in dieser Höhe noch deutlich über 20 °C waren. Trotzdem ist es im Schlafsack behaglich. Was will man mehr? Na, bei dieser Kälte vielleicht einen warmen Tee? Doch der Kocher will nicht, es riecht verdächtig nach Spüli. Die Spüliflasche hat sich in die Düse des Kochers entleert. Wasser ist genug da. Also ausspülen und durchpusten. Erfreut über die schönen Seifenblasen, gelingt es mir endlich den Kocher anzuzünden. Das Wasser kocht schon fast – da stoße ich versehentlich den Kochpott um! Reflexartig drehe ich den Kocher aus. Der nächste Fehler! Durch das verschüttete Wasser sind beide Feuerzeuge nass und unbrauchbar geworden. Ich geb´s auf! Jemand will offenbar nicht, dass ich Wasser aus diesem See trinke. Hatten Trolle ihre Finger im Spiel? Meiner guten Laune tut das aber keinen Abbruch. Ich packe das Zelt zusammen und fahre zurück nach Aurland, um weiter nach Läerdal zu kommen.

Mit dem Finger auf der Karte habe ich die schöne Straße gesucht zwischen Aurland und Läerdal, die ich vor 24 Jahren mal gefahren bin. Von dort hatte man einen schönen Blick hinunter auf den Ort Aurland. Inzwischen gibt es dort einen 24 km langen Tunnel. Die alte Passstraße existiert zwar noch, sollte aber laut Auskunft der Norweger vom Vorabend noch wegen des Schnees gesperrt sein. Trotzdem fahre ich los. Und tatsächlich muss die Passstraße erst vor wenigen Tagen eröffnet worden sein. Zwischen bis zu vier Meter hohen Schneewänden, von denen durch die Schmelze auch mal größere Brocken auf die Straße fallen, fahre ich durch eine Traumlandschaft. Und alles bei strahlendem Sonnenschein! Bei dem auch hier wieder nicht stattfindenden Verkehr ist es kein Problem mal die selbstauslösende Kamera mitten auf die Straße zu legen.

LatefossenDas nächste lohnende Ziel ist die Stabkirche von Borgund. Einer der wenigen Orte Norwegens an denen tatsächlich von Touristenrummel gesprochen werden kann. Diese aus der Zeit um 1150 stammende Kirche mit den kunstvoll geschnitzten Drachenköpfen ist ein typisches Beispiel für die Holzkirchen-Architektur des frühen Christentums in Norwegen. Die bizarren, geschnitzten Tierdarstellungen lassen deutlich den heidnischen Ursprung erkennen. Ein weiteres sehenswertes Exemplar dieser Kirchen gibt es in Eidsvoll.

Weiter geht´s jetzt wieder Richtung Süden, der Fähre nach Dänemark entgegen. Über Geilo geht es auf der 40 Richtung Veggli. Das letzte Mal über schneebedeckte Berge. Zwischen zwei etwa 1000 m hohen Pässen ein Rastplatz in einem Kiefernwäldchen. Komplett ausgestattet mit Toilettenhäuschen, Münzdusche, fließend Kalt- und Warmwasser, sowie Sitzecke mit Holzbänken. Da freut sich der kostenbewusste Motorradreisende und bleibt noch eine Nacht. Kostenlos.

Das Ende des Urlaubes naht mit Schrecken. Die Landschaft wird nach Süden hin weniger spektakulär. Eher schon mittelgebirgsmäßig. Man ist ja mittlerweile verwöhnt. Es wird richtig heiß! Bei bis zu 30 °C wird das Fahren etwas mühselig. Eine letzte Nacht noch an einem der zahlreichen Seen. Der Campingplatzwart spricht überraschend gut deutsch. Ein ausgewanderter Gifhorner. Ob er allein von diesem Campingplatz seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, bezweifele ich. Ich bin der einzige Gast. Schade! An diesem letzten Abend in Norwegen vermisse ich das erste Mal tatsächlich etwas menschliche Gesellschaft.

Am nächsten Morgen – bei strahlendem Sonnenschein, wie immer – die restlichen 100 km bis zur Fähre in Kristiansand abreiten. Obwohl ich wieder montags fahre, ist der Fähr-Preis diesmal erstaunlicherweise günstiger. Auf dem Warteparkplatz steht ein Münchner Pärchen mit zwei Motorrädern. Der Altersunterschied zwischen den beiden ist augenscheinlich sehr groß. Wie sich im Gespräch herausstellt, ist der Vater mit seiner 18-jährigen Tochter auf Tour! So lange es noch solch junge Frauen gibt, muss um den angeblich fehlenden Motorradnachwuchs niemand bange sein.