aus bma 08/99
von Konstantin Winkler
Er läuft und läuft und läuft. Nein, vom Käfer ist hier nicht die Rede, wohl aber vom Boxer. Ein betagter, hochverdichteter OHV-Motor mit ellenlangen Stoßstangen ist normalerweise nach spätestens 100.000 Kilometern überholungsbedürftig. Besonders die Ventile kristallisieren sich da als Schwachstelle heraus.
Ein Liter Hubraum und 70 PS bei 7.250 U/min waren 1976 das Ende der Fahnenstange, als BMW mit der R 100 RS das erste serienmäßig vollverkleidete Motorrad der Welt herausbrachte. Meine ist Baujahr 1978 und topfit wie am ersten Tag (wahrscheinlich ist sie jetzt erst so richtig eingefahren). 160.000 Kilometer durch 20 Länder in 20 Jahren. Das sollte die stolze Bilanz sein. Deshalb will ich es „auf Elch komm‘ raus” noch einmal wissen: Schafft sie es oder schafft sie es nicht? Damit ist klar, wohin die Reise geht – nach Skandinavien, Elche gucken.
Schon kurz hinter Hamburg die erste Begegnung mit den Schaufelträgern, allerdings von virtueller Natur. Die Karawane der gen Norden ziehenden Camping-Gespanne, Wohnmobile und PKWs zeigt per Elchaufkleber am Heck: Ich war in Skandinavien. Und es sind nicht wenige.
Hinter Flensburg – nach Überschreiten der deutsch-dänischen Grenze – wird der zähfließende Verkehr deutlich flüssiger. Was bleibt, ist die flache Landschaft, die für wenig Abwechslung sorgt. Das soll sich nach 400 Tageskilometern schlagartig ändern. Das Highlight (im wahrsten Sinne des Wortes) im Lande der Smørebrøds ist wohl auch der höchste anfahrbare Punkt: Die Brücke über den Großen Belt. Mit dieser technischen Meisterleistung haben sich die Dänen einen Jahrhunderttraum erfüllt: eine feste Verbindung zwischen den Inseln Seeland und dem 124 Kilometer entfernten Fünen. Schon von weitem tauchen die 254 Meter hohen Pylonen am Horizont auf. Zuerst geht es parallel zur Eisenbahn fast 10 Kilometer ins Meer hinaus. Florida-Urlauber werden unwillkürlich an die Seven-Miles-Bridge erinnert. Salzige Luft und zu sehen ist nur Beton, Wasser sowie der Himmel. Lediglich die Pelikane fehlen, dafür gibt es aber Möwen.
Auf der kleinen Insel Sprøgø geht es kurzfristig an Land. Die Züge verschwinden im Tunnel und die Autobahn führt über die Brücke. Welch ein Bauwerk! Allein das freischwebende Mittelteil mißt 1,6 Kilometer. Und das bei einer Durchfahrtshöhe von 65 Metern für die Schiffe. Damit ist die Stärebält-Brücke die zweitgrößte Hängebrücke der Welt. Wieder unten angekommen dann die Maut-stelle. Auch hier wurde nach dem Motto „klotzen, nicht kleckern” gebaut; großzügig angelegt – offenbar nach französischem Vorbild – sogar mit Einweisern, um einen reibungslosen (Zahlungs)-Verkehr zu gewährleisten. Entsprechend ist der finanzielle Aderlaß. Während Biker mit umgerechnet knapp 30 DM und Autofahrer mit 50 DM zur Kasse gebeten werden, müssen LKW- und Busfahrer um die 200 DM löhnen. Für eine Fahrt! Kein Wunder, bei einer Bauzeit von zehn Jahren und Kosten von 7,4 Milliarden Mark. Aber es soll immer noch billiger sein als die Fähre, deren Betrieb mittlerweile eingestellt wurde. Ganz zu schweigen von der Zeitersparnis, um Kopenhagen zu erreichen.
Eine Stunde später sind wir in Dänemarks Hauptstadt. Nach langem Suchen doch nicht gefunden: die Meerjungfrau, das Wahrzeichen. Außer dem Vergnügungspark Tivoli und der königlichen Wache vor dem Schloß Amalienborg gibt es auch nicht viel zu sehen. Ungewöhnlich für skandinavische Verhältnisse ist der starke Verkehr, der die Motoröltemperatur auf 80°C ansteigen läßt. Nach einer weiteren Stunde auf der Autobahn folgt unsere erste Fährfahrt. 15 Minuten dauert die Überfahrt von Helsingør nach Helsingborg über den Øresund, der – hier an seiner schmalsten, nur 5 Kilometer breiten Stelle – Dänemark und Schweden trennt.
Nun sind wir also in Schweden, und es heißt Ausschau halten nach den Tieren, vor denen die rot-gelben Schilder mit dem Hinweis „Älkgafar” warnen. Nach 800 Tageskilometern ist Göteborg, Schwedens zweitgrößte Stadt und wichtigster Handelsplatz, erreicht. Das hätte man auch einfacher und bequemer haben können, mit nur 120 Tageskilometern, wenn man die Fähre von Kiel aus genommen hätte. Eine lohnende Alternative, nicht nur wegen des erstklassigen skandinavischen Buffets an Bord. Aber – der Weg ist ja bekanntlich das Ziel.
Weiter geht es Richtung Norden. Vorbei am Vänern, mit 5546 Quadratkilometern nicht nur Schwedens, sondern auch Skandinaviens größter See. Langsam wird es dunkel – und kein Zeltplatz in Sicht. Nach insgesamt 930 Kilometern übernachten wir schließlich auf dem Campingplatz von Tanum. Berühmt ist dieser Ort durch seine Felsen, die Zeichnungen aus der Bronzezeit tragen.
Trotz dickem Schlafsack wird die Nacht kalt und unruhig. Beim morgendlichen Blick aus dem Zelt glaube ich, meinen Augen nicht zu trauen: Rasen und Zeltdach sind mit Rauhreif überzogen, und das im August. Nachdem das nasse Zelt im Müllsack zusammengerollt auf dem Gepäckträger festgezurrt, die BMW mit einem viertel Liter frischem Motoröl und der Fahrer mit der gleichen Menge frischem Kaffee versorgt sind, geht es weiter. Wenig später taucht zwar nicht der erste Elch, dafür aber der erste Fjord auf. Die schwedisch-norwegische Grenze ist erreicht.
Eine Brücke über den Svinesundfjord markiert die Grenze. Nun sind es noch 170 Kilometer bis Oslo. Das einzig sehenswerte an der norwegischen Hauptstadt ist der Hafen, immerhin Nordeuropas größter. Daß für die Stadtautobahn eine Citymaut erhoben wird, hatte ich gehört. Umso erstaunter bin ich beim Anblick der blau-weißen Preistafeln. Hinter dem Motorradsymbol steht das Wort „gratis”. Trotzdem hält mich nichts in der Metropole, viel zu reizvoll ist Südnorwegens Gebirgslandschaft.
Während der genußsüchtige Biker aus Kostengründen zu asketischer Lebensweise gezwungen wird – eine kleine Dose Bier kostet umgerechnet 5 Mark und die Schachtel Zigaretten fast das Doppelte – kann der Youngtimer R 1100 RS hemmungslos sündigen. Premium heißt das Zauberwort – verbleites Superbenzin. Mit 1,90 DM pro Liter auch nicht teurer als in Italien oder in Frankreich.
Mit fröhlich klappernden Ventilen geht es ins Landesinnere; der Verkehr nimmt immer mehr ab, je weiter man sich von Oslo entfernt. Gleichzeitig wird die Landschaft immer eindrucksvoller. Das Wetter spielt auch noch mit – Temperaturen zwischen 15 und 20°C und trocken – was will der vom 98er Sommer nun wirklich nicht verwöhnte Motorradfahrer mehr? Berge, Fjorde und Wasserfälle – man könnte wochenlang touren und immer wieder neue Eindrücke gewinnen. Leider macht mir der Faktor Zeit einen Strich durch die Rechnung und ich muß mich auf wenige Abstecher beschränken.
Zwei einzigartige Bilderbuchlandschaften Südnorwegens seien hervorgehoben: Hardangervidda – diese Hochebene ist mit 7400 Quadratkilometern Europas größtes Gebirgsplateau. Wem Norwegens berühmtester Fjord, der Geiranger, zu weit im Norden liegt, kann seinen „kleinen Bruder” im Süden konsultieren. Unweit von Bergen liegt der Hardangerfjord, sagenhafte 120 Kilometer lang und bis zu 830 Meter tief. An seinem Ostufer liegt einer der größten Gletscher im Lande, der Folgefonn.
Meine Norwegentour endet in der eher unscheinbaren Hafenstadt Larvik. Süßlich-beißender Geruch der Industrie und eine Verkehrs-Infrastruktur, die an die Straßen von San Francisco erinnert (nicht nur, weil es auch hier so steil bergauf und bergab geht) charakterisieren den Ort. Umso aufregender ist dafür das Schiff, mit dem es am nächsten Morgen über den Skagerak gehen soll. „Pegasus II” heißt die erst zwei Jahre alte, in Italien gebaute Fähre. Und sie machte ihrem Namen alle Ehre. Mit 38 Knoten (fast 70 km/h) geht es in nur drei Stunden ins dänische Skagen. Nur Fliegen ist schöner! Zum Glück ist die See ruhig und die Motorräder ebenso unversehrt wie die Verdauungsorgane der Passagiere.
Nun stehen uns noch rund 500 langweilige Autobahnkilometer bevor. Vorbei an den dänischen Hafenstädten Frederikshavn und Århus erreichen wir in den frühen Abendstunden die deutsche Grenze. Während in Skagen eine angenehm kühle Brise bei 20°C wehte, klettert das Thermometer in Hamburg bis auf schwüle 30°.
Fazit nach 2000 Kilometern: Mit dem „Elche gucken” hat es mangels anwesender Schaufelträger nicht geklappt, dafür hat die BMW ihren Dienst problemlos wie immer überstanden. Doch dann der Schock: mit der Skandinavientour kam ich nur auf 19 Länder. Also haben wir ein paar Wochen später nochmal die Krauser-Koffer angebaut und eine Tagestour ins polnische Stettin gemacht. So konnte das Plansoll doch noch erfüllt werden.
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