aus bma 12/99

von Konstantin Winkler

Die Winter sind, von ein paar Tagen mal abgesehen, schon lange nicht mehr das, was sie einmal waren. Das gleiche gilt auch für die traditionellen Wintertreffen. Das schneesichere Elefantentreffen am öster- reichischen Salzburgring wich einer Schlammschlacht im Bayerischen Wald (nicht immer, aber immer öfter). Auch auf dem ehemals härtesten Wintermeeting, der Krystall-Rally in Norwegen, werden neuerdings immer mehr Warmduscher gesichtet. Das war vor ein paar Jahren noch anders – ein Blick zurück.
Nachdem das BMW R 69-Gespann, Baujahr 1959, je zweimal die Elefantentreffen am Nürburgring und auch am Salzburgring (mit anschließender Alpenrundfahrt) fast problemlos überstanden hatte (das „fast” bezieht sich auf einen Plattfuß und einen Radlagerschaden), fühlten wir uns zu Höherem berufen: Skandinavien im Winter! Die Teilnahme an der norwegischen Krystall-Rally lockte uns weit weg vom gemütlichen warmen Zuhause. Wenn Material und Motivation stimmen, sollte das kein Problem sein. Katalytofen statt heizbarer Unterwäsche, Lötlampe statt elektrischer Motorwärmung und Magnetzünder statt elektronischem Motormanagement war für die nächste Woche angesagt. Ein alltagstauglicher, leicht zu reparierender Oldtimer hat da viele Vorteile. Es beginnt beim einfachen Ausbau der Räder und endet bei im Winter allgegenwärtigen Salzpartikeln, die die komplizierte moderne Elektronik verrückt spielen lassen können. Was nicht vorhanden ist, kann auch nicht kaputt gehen.

 

Als erstes mußte die winterliche Reisetauglichkeit des Oldies hergestellt werden. Der Original-Tank wich einem 28 Liter großen Heinrich-Tank (Benzin ist im hohen Norden ja bekanntlich nicht gerade billig) und die beiden Schwingsättel tauschte ich gegen eine Denfeld-Sitzbank. Zusätzlich habe ich eine Clipper-Lenker- verkleidung, Dnepr-Beinschilder und natürlich Lenkerstulpen montiert. In den schweren Lederpacktaschen (die ursprünglich von der schweizerischen Militärmaschine Condor stammten) fanden sich weitere bei Frost durchaus nützliche Utensilien wie Rum und Katalytbenzin. Dem 600er Boxermotor gönnte ich einen Ölwechsel nebst dünnem 10er Öl. Der Beiwagen vom Typ Steib S 350 aus den frühen 50er Jahren bekam eine Ideal-Windschutzscheibe spendiert und durfte neben der Sozia auch die Campingausrüstung (er)tragen. Obwohl in vielen Berichten über die Krystall-Rally Spikes empfohlen werden, habe ich darauf verzichtet und lediglich M+S-Reifen der Marke Avon (vorne 3.50-18 und hinten 4.00-18) aufgezogen. Das Beiwagenrad – da weder angetrieben noch gebremst – mußte mit Straßenbereifung der Größe 3.25-19 auskommen.
Nun konnte es endlich losgehen. Die 100 Kilometer bis zur Fähre nach Kiel verliefen natürlich problemlos. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt und machte sogar den Thermoboy fast überflüssig. Die Nacht verbrachten wir unterhalb der Wasseroberfläche. Nicht etwa, dass wir abgesoffen wären, die billigsten Kabinen liegen nun mal ganz unten. Trotzdem brachte uns die Stena Line sicher und komfortabel ins schwedische Göteborg. Am nächsten Morgen fuhren wir von der Fähre und waren enttäuscht: ein Wetter wie zu Hause in Hamburg. Unter grauem Himmel schleuderten Autos und Lastwagen schmutziges, salziges Spritzwasser gegen Gespann, Thermoboy und Visier.
Nach 200 Kilometern Fahrt war die schwedisch-norwegische Grenze erreicht und der erste Fjord, über den eine Brücke führt: der Svinesund-Fjord. Endlich war auch das Schmuddelwetter vorbei. Heftiger Schneefall setzte ein, und die Temperatur sank auf minus 5 Grad. Bald war Oslo erreicht und es hörte auf zu schneien. Wir fuhren weiter auf der E 6. Langsam wurde es dunkel und nach 334 Tageskilometern sichteten wir ein Hinweisschild „Hytter ledig” – Zeit, ein warmes Nachtquartier zu beziehen. Am nächsten Morgen hatten wir nicht nur 13 Grad Frost, sondern auch ein Bilderbuchwetter. 15 cm Neuschnee lagen vor der Tür. Die Hütten waren mit riesigen Schneehauben versehen und umrahmt von vor Kälte erstarrten Bäumen. Dazu ein strahlend blauer Himmel.
Nachdem der Luftfilter geschlossen und die beiden Bing-Vergaser geflutet waren, sprang der alte Boxer auf den dritten Kick an und begann tuckernd seine viertaktende Arbeit aufzunehmen. Na, wer sagt’s denn! Knapp 300 Kilometer lagen noch vor uns. Kurz vor Jessheim verließen wir die E 6. Es ging rechts nach Kongsvinger ab. Die Straße war endlich trocken und vor allem salzfrei. Es gab nur ein – theoretisches – Problem: die Elche, die lieber auf der Straße gehen als mühsam durch den Tiefschnee zu stapfen. Doch wir hatten keinen Kontakt mit den bis zu 800 Kilo schweren Tieren. Aber nicht nur Elche auf der Straße sind mit Vorsicht zu genießen, auch die norwegischen Trucks. Wenn die mit 80 Sachen an einem vorbeibrettern, erlebt man eine Mischung aus Schneesturm und Lawinenabgang. Für einige Sekunden sieht man nur noch Schnee – Augen zu und durch heißt es dann während des Blindfluges. Die Straße war jetzt mit einer geschlossenen Schnee- und Eisschicht bedeckt. Schneepflüge hatten Längsrillen hineingefräst, so dass man wie auf Schienen fuhr, was mit Beiwagen ganz witzig ist, für die wenigen Solofahrer dagegen eine mittelschwere Katastrophe. Droht das Gespann auszubrechen, heißt es Gas wegnehmen und das Körpergewicht verlagern, und schon bleibt die Fuhre sicher auf der Straße. Eine Art Eisspeedway, die mit jedem Kilometer mehr Spaß macht.
Unsere Reisegeschwindigkeit pendelte sich bei 60 bis 70 km/h ein. Mittlerweile zeigte das Thermometer fast 20 Grad unter Null an. Doch das hört sich schlimmer an, als es ist. Es herrschte eine völlig trockene Kälte, die längst nicht so unangenehm ist wie das norddeutsche Null Grad-Schmuddelwetter.
Endlich war Savalen ausgeschildert. Wir verließen die Hauptstraße kurz vor Tynset. Jetzt wurde es gebirgig. Zudem kam starker Seitenwind auf und es gab auch einige Schneewehen. Da half nur ein beherzter Gasstoß, um durchzukommen. Die letzte Anhöhe vor Savalen schaffte ich erst im dritten Anlauf mit viel Schwung.
Nun waren wir nach 290 Kilometern Fahrt in acht Stunden am Ziel. Minus 21 Grad betrug die aktuelle Temperatur. Auch andere Oldtimer hatten den Weg hierher gefunden, teilweise sogar noch ältere und von viel weiter her. Ein Heinkel Roller-Gespann aus Berlin, ein BMW-Wehrmachtsgespann aus Viersen und sogar eine Solo-Harley aus dem Zweiten Weltkrieg standen eingeschneit auf dem Parkplatz. Also war auch mein R 69-Gespann in der richtigen Gesellschaft.
Nach einer Nacht im warmen, komfortablen Vier-Sterne-Hotel war es an der Zeit, sich so langsam physisch und psychisch auf die Rückfahrt vorzubereiten. Was ist da besser als – zwar nicht gerne gesehen, aber trotzdem geduldet – Wintercamping. Inzwischen war es noch kälter geworden. Bei -25°C bauten wir unser Zelt auf. Die Plastikfenster splitterten dabei wie Eis, da tiefgefroren. Der Versuch, das Zelt fest im Boden zu verankern, endete mit einem blutigen Finger und einem krummen Häring. Also mußten die Leinen am Gespann und an den Bäumen festgebunden werden.
Nachts fiel die Temperatur noch weiter. Ein Leidensgefährte hatte von zu Hause aus der Tiefkühltruhe ein Thermometer mitgebracht: Wintercamping, bei -36 °C – eine beinharte Sache. Dank Katalytofen und Federbett betrug dann die Aufwachtemperatur im Zelt -5°C. Bei mor- gendlichen 28 Grad unter Null wurde die Campingausrüstung wieder im Beiwagen verstaut. Das bißchen Plastik, was beim Aufbauen des Zeltes heil gebliegen war, wurde nun beim Zusammenrollen zerstört.
Ob das Motorrad bei dieser Temperatur noch anspringt? Beim ersten Versuch, das Gespann anzukicken, kam der Schock: Der Kickstarter blieb unten. War die Rückholfeder etwa gebrochen? Nein, das Getriebeöl hatte nur über Nacht seinen Aggregatzustand verändert, es war fest geworden. Ich hatte es versäumt, hier vor der Reise auch dünneres Öl einzufüllen. Und 90er Hypoid-Öl ist für den skandinavischen Winter nun wirklich zu dickflüssig. Die folgende Stunde verbrachte ich nicht auf, sondern unter und neben dem Motorrad: mit einer Lötlampe wurden Motor und Getriebe vorgewärmt. Tatsächlich sprang der Motor dann auch nach wenigen Kickstartertritten an, obwohl die Batterie nach der Nacht am Ende ihrer Kräfte war. Wie schön, wenn man einen Magnetzünder hat. Grausam waren die Geräusche, die das Getriebe von sich gab. Die mahlenden Zahnräder hörten sich an wie ein Duell zwischen einer stumpfen Kettensäge und Omas Kaffeemühle. Aber egal – mit zwei Stunden Verspätung konnte es nun endlich losgehen. Die Tachowelle meldete sich dann auch noch lautstark zu Wort. Wahrscheinlich war dort aus Feuchtigkeit Eis geworden und dieses anschließend wieder zerbröselt.
Als die Sonne rauskam, wurde es nochmal richtig kalt. Eiskristalle an Bart, Nase und Augenwimpern zeugten von der kältesten Motorradtour meines Lebens: 32 Grad unter Null zeigte das Bordthermometer an. Das Visier mußte halb geöffnet werden, da die Atemluft sonst sofort für eine dicke Eisschicht auf selbigem sorgte. Visierheizung? Aussichtslos bei Sechsvolt-Elektrik. Eine kurze Rast – bloß nicht länger als 20 Minuten. Womöglich springt dann der Motor ohne zusätzliche Nachhilfe – sprich Vorwärmung – nicht mehr an. Ich steige vom Motorrad – und schon liege ich rücklings im Schnee. Merke: Auf solch glatten Straßen besser nicht zu Fuß gehen, sondern vorsichtshalber Gespann fahren!
250 endlose Kilometer mußten wir Temperaturen zwischen 25 und 32 Grad unter dem Gefrierpunkt ertragen. Erst als wir die E 6 wieder erreichten, wurde es deutlich wärmer: nur noch -20°C! Kein Witz, die „Erwärmung” war spürbar. So langsam kam wieder Gefühl in die Füße, Finger und Nasenspitze. Nach neun Stunden erreichten wir Ås, südlich von Oslo gelegen. 360 eisige Kilometer lagen für heute hinter uns. Die Annehmlichkeiten des dortigen Vier-Sterne-Hotels entschädigten uns für den anstrengendsten Teil dieser Reise.
Am nächsten Morgen war das Gespann wieder mal eingeschneit und das Thermometer zeigte 18 Minusgrade an. Trotzdem sprang die BMW problemlos an – wahrscheinlich hatte auch sie sich langsam an die arktischen Temperaturen gewöhnt. Nach insgesamt 33 Stunden Fahrzeit und 1260 Kilometern durch Schweden und Norwegen waren wir wieder in Göteborg. Inzwischen war es auch zu Hause Winter geworden, nur eben nicht ganz so kalt.
Die Freude über den warmen, heimischen Herd währte nicht lange. Zu schön ist das Fahren im Winter durch verschneite Landschaften. Aber bis zur nächsten Extremtour wird es ja wohl noch eine Weile dauern. Eine Steigerung wird schwierig werden. Vielleicht mit dem D-Rad zum Nordpol? Mal sehen!