aus bma 01/01

Von Klaus Herder

Motorräder mit zwei Buchstaben als Markenkürzel können relativ teuer sein. So zum Beispiel meine erste MZ: Eine ziemlich gebrauchte TS 150, für die ich 1980 immerhin 800 Mark zahlen musste. Das war für einen 18-jährigen Schüler verdammt viel Geld und mehr als doppelt so viel wie ich zwei Jahre zuvor für ein ebenfalls gebrauchtes und nur unwesentlich langsameres Kleinkraftrad ausgegeben hatte.
Zwanzig Jahre später hat sich an der grundsätzlichen Problematik nichts geändert, nur dass das aktuelle Objekt der Begierde nicht mehr aus dem sächsischen Motorradwerk Zschopau, sondern aus der italienischen Meccanica Verghera stammt und folglich auf das magische Kürzel MV hört. Die günstigste MV – sozusagen die Volks-MV – ist die F4 S. Wobei günstig bei einer unverbindlichen Preisempfehlung von 33.340 Mark eher relativ ist. Vergleichbare 750er aus japanischer Fertigung kosten rund 12000 Mark weniger. Die erste MV der neuen Generation, die gar nicht mal so sehr anders aussehende F4 der Serie Oro, kostete 1999 aber über 38.000 Mark mehr. Und für das zur Zeit aktuelle und ebenfalls eng verwandte MV-Topmodell F4 Brutale Oro müssen immerhin über 23.000 Mark Aufpreis gezahlt werden.
Wo wir gerade so schön relativieren: Der Listenpreis für einen VW Polo Classic 1.9 TDI beträgt momentan 33.640 Mark. Doch keine Sorge, nun folgt keine packende Schilderung lustiger Verbrauchsmessfahrten. Es folgt der Versuch eines streng sachlichen und möglichst objektiven Fahrberichts.

 

Das mit der Sachlichkeit und Objektivität hat sich allerdings schon unmittelbar nach dem Anlassen erledigt. Kurz zuvor staunt der MV-Neuling noch über liebevoll gemachte Details wie die gefrästen Handräder der Griffweitenverstellung, die Rändelschrauben der Gaszugeinstellung und den niedlichen Chokehebel. Dann folgt der Druck aufs Knöpfchen. Tja, und ab diesem Zeitpunkt ist es um den MV-Piloten geschehen, denn die hauteng verlegte und unter dem Heckbürzel endende Vier-in-vier-Auspuffanlage entlässt einen so wunderbar kehligen, kernigen Sound, der zu Ohren und vor allem zu Herzen geht. Der Fahrer freut sich zudem über ein kräftiges Ansaugschnorcheln, was es dank der vor dem Tank montierten Airbox direkt auf die Ohren gibt. Gute Kumpels dürfen den besten Platz direkt hinter der MV belegen und bekommen dort eine traumhafte Mischung aus Fauchen und Brüllen geboten. Und das alles streng legal, denn der MV- Sound ist nicht etwa brutal laut, er ist einfach nur brutal gut komponiert. Kleine Empfehlung am Rande: Die für die in Deutschland serienmäßig verbauten Harley-Auspuffanlagen verantwortlichen Ingenieure sollten mal eine Fortbildungs-Veranstaltung in Italien besuchen.
Zurück zur MV: Die Sitzposition auf der mit 20 Litern Superbenzin vollgetankt 219 Kilogramm wiegenden F4 S ist supersportlich. Sehr tief montierte Lenkerstummel, eine extrem niedrige Scheibe, die sparsam gepolsterte Sitzkuhle – bequem ist zwar anders, aber von einer MV erwartet niemand ernsthaft Sofa-Gemütlichkeit. Wer nicht mehr als 1,85 Meter misst, kommt mit dem Arbeitsplatz sehr gut klar. Der Knie-schluss ist ganz hervorragend, und die wesentlichen Dinge des Biker-Lebens gehen sogar recht einfach von Hand und Fuß, denn die Kupplung benötigt nur wenig Handkraft, und die sechs Gänge des Kassettengetriebes lassen sich leicht und präzise schalten. Für sehr gute Gasannahme sorgen die Marelli-Einspritzanlage samt dazugehörigem Motormanagement.
Der extrem kurzhubige 750-Kubik-Reihenvierzylinder (Bohrung 73,8/ Hub 43,8 mm) leistet 126 PS bei 12.200 U/min. Ab 1500 U/min geht’s ruckfrei voran, für beste Brennwerte sollte man aber den Vierventiler im Bereich des höchsten Drehmoments halten. Der für einen Supersportler eher durchschnittliche Höchstwert von 74 Nm wird bei 9000 Touren auf die Kurbelwelle gestemmt.
Leistung, Drehmoment, Gewicht – die MV Agusta F4 S bietet bei allen Parametern zwar gute, aber nie sensationelle Werte. Die Mischung stimmt zwar, und dank guter Aerodynamik sind sogar sehr flotte Fahrleistungen machbar (Vmax 270 km/h, 0-100 km/h in 3,0 s), doch was die MV zum sportlichen Überflieger macht, ist etwas anderes: das perfekte Fahrwerk. Kein anderer Seriensportler ist zur Zeit fahraktiver, kurvenwilliger, lenkpräziser und spurstabiler. Der genial geschweißte Gitterrohrrahmen mit dem Heckteil aus Aluguss, die fast schon überdimensionierte und hypersensible Showa-Upside-down-Gabel, die bildhübsche Aluschwinge mit dem voll einstellbaren Zentralfederbein – das alles passt goldrichtig zusammen. Konstrukteur Massimo Tamburini (Richtig: von dem stammen auch Ducatis Supersportler) leistete ganze Arbeit. Aus Italien kamen immer schon gelungene Fahrwerke, doch dass auch sämtliche Anbauteile so wunderbar miteinander harmonieren, war und ist eher die Ausnahme. Spätestens für die Bremsanlage mu-ssten italienische Schönheiten oft genug Schelte einstecken. Nicht so bei den MV-Stoppern: Die beiden Sechskolbenzangen vorn und der Vierkolben-Solist im Hinterrad stammen vom japanischen Zulieferer Nissin und erledigen ihren Job tadellos, nämlich fein zu dosieren und mit brachialer Wirkung.
Die F4 S ist sportlich straff, aber sie ist kein Folterinstrument sondern fast schon komfortabel. Bei durchschnittlich rund sieben Litern Benzinverbrauch sind um die 250 Nonstop-Kilometer selbst auf nur mäßig guten Landstraßen immer machbar, ohne dass anschließend die Hilfe eines Orthopäden benötigt wird. Die superhandliche MV schont die Kondition ihres Piloten, sie macht es ihm dank ihrer guten Berechenbarkeit leicht, sehr flott und trotzdem entspannt unterwegs zu sein. Steht das gute Stück dann erst mal wieder in der heimischen Garage, darf auch das Auge genießen. Überall sind leckere Details zu entdecken. So die Schnellverschlüsse der Vorderradgabel, die beim Radwechsel einfach nach unten weggeklappt werden. So auch die filigranen Marchesini-Leichtmetallräder oder auch das elegante Cockpit mit dem Analog- Drehzahlmesser und dem digital anzeigenden Tacho. Wo bei der F4-Serie Oro Magnesiumteile zum Einsatz kommen, sind bei der F4 S Aluteile verbaut, und anstelle von Karbonfaser dient thermoplastischer Kunststoff als Verkleidungs-Werkstoff. Doch auch diese Teile sind alle handwerklich so gut gemacht und in Sachen Design so gelungen, dass der Preis nicht nur relativ sondern auch absolut günstig erscheint.
Wer in Anbetracht von Kaufüberlegungen trotzdem harte Diskussionen mit seinem privaten Finanzvorstand fürchtet, sollte die Version F4 S 1+1 näher ins Auge fassen. Die bietet nämlich zwei Sitzplätze und kostet auch nicht mehr. Mit der Aussicht auf gemeinsame Motorradtouren konnte ich 1980 meine damalige Freundin schließlich auch davon überzeugen, dass 800 Mark für eine MZ eigentlich gar nicht so teuer und verdammt gut angelegt sind.