aus bma 5/12

von Klaus Herder

MV Agusta F3 675 Modell 2012Was fällt dem geneigten Leser beim Stichwort „MV Agusta” auf Anhieb so alles ein? Na klar: Italien, Edelmarke, feinste Technik, geniales Design, Giacomo Agostini und seine 13 Weltmeistertitel mit MV-Dreizylindern. Aber auch: Firmenpleiten, diverse Besitzerwechsel, kapitale Motorschäden, gewöhnungsbedürftiges Fahr­verhalten. Und natürlich: teuer, unbezahlbar, für Otto Normalmotorradfahrer einfach unerschwinglich. Zumindest die letztgenannten Punkte sollten aber mittlerweile überholt sein; denn die bereits 2010 auf der Mailänder Motorradmesse präsentierte MV Agusta F3 675 steht nun endlich für 11990 Euro (plus ca. 275 Euro Nebenkosten) bei den 47 deutschen MV-Händlern. 11990 Euro! Das sind nur 100 Euro mehr, als für eine Suzuki GSX-R 600 aufgerufen werden. Die übrige vierzylindrige Konkurrenz aus Japan kostet sogar mehr als die italienische Schönheit: die Kawasaki Ninja ZX-6R überschaubare 5 Euro; die Yamaha YZF-R6 bereits 260 Euro; und die Honda CBR 600 RR ist glatte 800 Euro teurer als die MV. Für die direkte Dreizylinder-Konkurrentin Daytona 675 R verlangt Triumph sogar 1000 Euro mehr. Eine MV als „Schnäppchen-Angebot“ im Supersport-Segment – wer hätte das gedacht?!

MV Agusta F3 675 Modell 2012Bevor die Frage geklärt werden soll, was man als MV-Käufer für sein Geld bekommt, darf aber hinterfragt werden, warum und wieso die Italiener plötzlich Preise machen können, die bestens in den Markt passen. MV Agusta-Präsident Giovanni Castiglioni, Sohn des im August 2011 verstorbenen Firmenpatriarchen Claudio Castiglioni, nannte drei Hauptgründe, warum MV so kundenfreundlich kalkulieren kann. Erstens: eine geringere Gewinnspan­ne, dafür aber höhere Stückzahlen (die durch die vom letzten Besitzer Harley-Davidson bezahlte Fir­men­san­ierung möglich wurden…). Zweitens: deut­lich geringere Produktionskosten – der clever konstruierte Dreizylinder kommt in der Fertigung 2000 Euro günstiger als der praktisch ohne große Rücksicht auf Kosten entwickelte Vierzylinder. Drittens: MV spart sich die Kosten für Importeure oder Niederlassungen und beliefert die meisten Länder direkt, so auch Deutschland.

Den potenziellen Käufern werden die kaufmännischen Hintergründe aber vermutlich egal sein. Sie interessiert vielmehr, ob der Discountpreis (Okay, knapp zwölf Mille sind natürlich auch ein Batzen Geld, aber es geht um italienische Design­erware, die vor gar nicht so langer Zeit das Doppelte gekostet hätte…) zu Lasten der Ausstattung und Verarbeitungsqualität geht.

MV Agusta F3 675 Modell 2012Erster Eindruck: Im Gegenteil, das ist alles andere als eine Sparversion. Die erstaunlich zierliche und unglaublich kompakte F3 ist sehr wertig gemacht. Die aufwändige Einarmschwinge und auch die filigranen Räder schmeicheln dem Auge. Natürlich kommt auch bei der kleinen MV klassenüblicher Kunststoff-Spritzguss zum Einsatz, wo bei den Edel-Schwestern Kohlefaserteile verbaut werden. Und es gibt Gussräder statt Schmiederäder sowie zweiteilige (und trotzdem hervorragend funktionierende) Brembo-Zangen statt edler Monobloc-Sättel – zaubern können auch die MV-Macher nicht. Doch man hat bei der F3 an allen Ecken und Enden den Eindruck, dass zuerst einmal die Techniker und Designer bestimmten, wo es langgeht. Und erst dann die Kaufleute – mit überschaubarem Erfolg.

Eine geschrumpfte und magerer ausgestattete F4 ist die F3 an keiner Stelle. Und sie tritt absolut eigenständig an, ohne natürlich die typische MV-Formensprache zu vernachlässigen. Anstelle von vier unterm Heck hervorlugenden Auspuffrohren schauen bei der F3 drei Rohre seitlich aus dem Verkleidungsbug heraus. Und statt der F4-Streckbank mit ihrem elendig langen Tank hat die F3 einen nicht nur für MV-Verhältnisse ergonomisch absolut gelungenen Arbeitsplatz zu bieten. Der kurze, flache 16-Liter-Tank ermöglicht eine versammelte, sehr schön Vorderrad-orientierte Sitzposition. Die Wespentaille lässt Platz zum Turnen, der Kniewinkel ist nicht übertrieben spitz, und die zwar tief, aber durchaus artgerecht montierten Lenkerstummel liegen goldrichtig zur Hand, um standesgemäß anzugasen.

MV Agusta F3 675 Modell 2012 AuspuffBeim Cockpit tat sich dafür wenig, in Sachen Übersichtlichkeit pflegten die Italiener eine alte MV-Tradition, die da lautet: eher unübersichtlich. Computer-Nerds mögen ein Balkendiagramm für den Drehzahlmesser und eine dünne Digitalanzeige fürs Tempo zwar ganz toll finden; mit im Augenwinkel perfekt abzulesenden analogen Rundinstrumenten sozialisierte Ü40-Jährige finden es aber einfach nur nervig. Immerhin erfolgt die Bedienung nicht mehr über fummelige Druckknöpfe, sondern vom Lenkerende aus. Und dort gibt es eine ganze Menge zu tun, denn die achtstufige Traktionskontrolle und die vier übers Ansprechverhalten entscheidenden Mappings (Normal-, Sport-, Regen- und ein frei zu definierender Custom-Modus) wollen bedient werden. Die MV-Entwickler hatten ohnehin ein großes Herz für elektronische Helferlein, denn die gigantischen 50-mm-Drosselklappen werden ausschließlich per Stellmotor angesteuert, das Zauberwort lautet Ride-by-Wire. Den elektronischen Gasgriff gibts bei Harley-Tourern zwar schon seit 2008, doch was beim Ami-Schwermetall vorrangig für einen aufgeräumten Arbeitsplatz sorgen soll (keine Bowdenzüge), wird von MV (und neuerdings auch von KTM) als brandaktuelle Supersportler-Technik verkauft. Geschenkt, Klappern gehört zum Handwerk.

Als echte Sensation verkauft MV auch die rückwärts drehende Kurbelwelle, deren Kreiselkräfte die den von den Rädern gebildeten Kreiselkräften entgegenwirken sollen, was wiederum das Handling verbessern kann. Einen solchen Technik-Kniff nutzte Yamaha im Grand Prix-Sport ab 2003 bei der M1, mit der Herr Rossi anschließend eindrucksvoll zeigen konnte, dass die ganze Sache funktioniert. Oder zumindest nicht schadet. Die ganze Geschichte ist aber noch wesentlich älter, denn auch schon Ende der 70er Jahre und in der seligen Yamaha XS 1100 rotierte die Kurbelwelle rückwärts. Die dicke XS machte allerdings nicht gerade als Handlingwunder von sich reden…

MV Agusta F3 675 Modell 2012 CockpitEgal, die F3 ist genau das: ein unglaublich agiles, extrem handliches Motorrad. Die vollgetankt 193 Kilogramm wiegende und sich damit auf klassenüblichem Niveau bewegende Italienerin fährt spielerisch einfach engste Linien. Sie klappt fast schon von allein in die Kurven, zieht ihren Fahrer geradezu mit. Der leichteste Schenkeldruck und der kleinste Zug am Lenker lassen sie spontan reagieren. Das ist keine Arbeit am Lenker, das ist pure Spielerei. Ihre Fahrwerksdaten (Radstand 1380 mm, Lenkkopfwinkel 66 Grad) und auch die Besohlung (120/70 ZR 17 und 180/55 ZR 17, ab Werk Pirelli Diablo Rosso Corsa) sind dabei absolut klassenübliche Größen, doch trotzdem fährt die MV der Konkurrenz in Sachen Handlichkeit um die Ohren. Sollte an der Kreiselkräfte-Sache vielleicht doch etwas dran sein?!

MV Agusta F3 675 Modell 2012 MotorAuf dem Boden der (fahrleistungsmäßigen) Tatsachen landet der MV-Pilot dann aber doch wieder recht schnell, denn zur flotten Fortbewegung gehört neben einem tollen Fahrwerk natürlich auch noch ein passender Motor. Den hat die MV von der Papierform her auch zu bieten: Mit 128 PS bei 14400 U/min sowie 71 Nm bei 10600 U/min steht sie in der Supersport-Klasse recht weit oben, nur die Yamaha leistet minimal mehr (129 PS) und die Triumph stemmt etwas mehr (72 Nm). Doch der ultra-kurzhubige MV-Dreizylinder (Bohrung 79,0 mm, Hub 45,9 mm) benötigt hohe und höchste Drehzahlen, damit es voran geht. Das ist in der 600er-Klasse nun wahrlich nichts Ungewöhnliches, doch in Verbindung mit der – vorsichtig formuliert – nicht ganz optimalen Abstimmung der Ryde-by-Wire-Mimik ist der gasgrifftechnische Umgang mit der MV schon ein Fall für sich. Speziell im vierstelligen Drehzahlbereich.

Unterhalb von 4000 U/min ist F3-Fahren eher eine Qual, denn die Befehle der Gashand werden nur unbefriedigend umgesetzt, der Motor macht, was er will. Weniger das, was der Fahrer möchte. Konstantfahrruckeln und verzögerte Gasannahme sorgen dafür, dass die innerstädtische Fortbewegung nicht wirklich Spaß macht. Das lautstarke Röcheln und Mahlen des Triples verwirren zudem die anderen Verkehrsteilnehmer: „Oh Gott, der arme Motor wird jeden Moment verrecken!“ Tut er natürlich nicht, das gehört so. Unter anderem sorgen Titanventile dafür, dass der Motor nicht so schnell die Segel streicht. So ab 5000 Touren fängt der über den gesamten Drehzahlbereich trotz Ausgleichswelle recht kernig laufende F3-Dreier an, sich etwas wohler zu fühlen. Die teils harten Lastwechsel legt er allerdings so schnell nicht ab. Ab 7500 U/min spielt die Musik kräftiger auf. Es fängt an, Spaß zu machen und klingt mittlerweile auch richtig gut. Doch das Ansprechverhalten bleibt etwas ruppig und schwer berechenbar. Oberhalb von 10000 U/min packt die Leistungs-Macht dann allerheftigst zu und versucht, das Vorderrad brutal nach oben zu reißen. Aus der lautstarken Musik ist ein fast schon unanständiges Brüllen geworden. So geht es herrlich fies weiter, der Schaltblitz zuckt erst bei 14600 U/min, nur 300 Umdrehungen später greift der Begrenzer ein.

MV Agusta F3 675 Modell 2012Jede andere Vertreterin der Supersport-Klasse lässt sich leichter fahren. Jede! Die MV bietet Vierzylinder-Charakteristik (unten wenig, oben alles) mit Dreizylinder-Sound. Die direkte Konkurrentin Triumph Daytona 675 R kann in Sachen Motor alles besser. Die Britin hat unten und in der Mitte mehr Druck, feuert obenrum genauso gut, ist dabei aber immer deutlich berechenbarer. Anders gesagt (und bei dieser Gelegenheit fünf Euro in die Chauvie-Kasse): Mit der Daytona bekommt man die im Fitness-Studio gestählte, rundherum sympathische und megazuverlässige britische Hausfrau. Mit der F3 lachen sie sich ein unberechenbares, verschlagenes italienisches Luder an. Ein supersexy Luder, das sie bei erstbester Gelegenheit verzweifeln lässt. Und das dann wieder mit diesem unnachahmlichen Augenaufschlag um Verzeigung bitten wird, der alles entschuldigt…

Man muss das wollen. Sagen sie nur bitte nicht, wir hätten sie nicht gewarnt. Vielleicht ist die ganze Sache auch viel harmloser, denn vermutlich würde eine bessere Abstimmung des Ride-by-Wire-Systems die Angelegenheit deutlich entspannen. Und die müsste sich mit entsprechenden Blackbox-Updates doch machen lassen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es mag durchaus Liebhaber der derzeitigen Charakteristik geben. Nur muss einem klar sein, dass die F3 momentan nach einem jederzeit hoch konzentrierten Fahrer verlangt und auf jedes noch so kleine Zucken am extrem leichtgängigen Gasgriff reagiert.

Die MV Agusta F3 675 ist das perfekte Motorrad für Menschen, die schon ein paar Motorrad-Schätzchen in der Sammlung haben und denen noch ein megahandliches, bildschönes Supersportgerät für den Sonntagvormittags-Quickie fehlt. Und für das anschließende In-der-Garage-drumherum-schleichen-und-dabei-breit-grinsen. Für motorradmäßig monogame Menschen, die eine Partnerin für alle Tage suchen, ist die F3 vermutlich die denkbar ungeeignetste Vertreterin des Supersport-Segments. Und das, obwohl sie so unverschämt günstig zu haben ist…