aus bma 12/03

von Klaus Herder

MV Agusta BrutaleEs geht schon irgendwie. Kündigen Sie den Bausparvertrag, pumpen Sie unter fadenscheinigen Gründen („Die Kinder brauchen warme Sachen”) die Oma an, überziehen Sie gnadenlos den Dispo-Kredit. Es muss gehen. Aber verkaufen Sie bitte nicht die CBR oder GSX-R. Sie benötigen schließlich etwas Fahrbares für alle Tage. Etwas, das nass werden darf. Etwas, bei dem eine dicke Schicht erlegter Insekten nicht weiter stört. Und etwas, auf dem Ihre Frau mitfahren würde. Mit der müssen Sie sich schließlich verdammt gut stellen, denn zu den 15.130 Euro fehlt Ihnen vielleicht nur noch der Erlös aus dem Verkauf des Zweitwagens. So – und nun bringen Sie den Gegenwert eines mittelprächtig ausgestatteten Opel Corsa bitte sofort zum nächstgelegen MV Agusta-Händler. Das ist der nette Kerl, der sich die letzten zwei Jahre lang immer wieder fragen lassen musste, wann sie denn nun endlich käme, die F4 Brutale S. Nun ist sie tatsächlich da – und Sie kaufen gefälligst dieses wunderbare Kunstwerk.
Na also, das hätten wir. Das gute Stück steht jetzt vielleicht schon bei Ihnen im Wohnzimmer. Dort, wo gestern noch der Fernseher stand. Den brauchen Sie jetzt nicht mehr, denn MV-Gucken ist viel besser. Jedes Detail – und ich meine wirklich jedes – ist genial gemacht. Sie werden feststellen, dass Schweißnähte geil aussehen können und dass Achsklemmungen etwas Erotisches haben.

 

MV Agusta BrutaleOkay, wenn sie rund 14.000 Euro mehr ausgegeben hätten, würden Sie jetzt auf jede Menge Magnesium-Teile (Räder, Schwinge etc.) und größere Kohlefaser-Flächen schauen, doch erstens waren die 15 Mille schon schwer genug zu stemmen, und zweitens muss es das limitierte Schwestermodell „F4 Brutale Serie Oro” eigentlich auch gar nicht sein. Von den ganz edlen Werkstoffen einmal abgesehen, sind die beiden Nackten nämlich technisch und auch in Sachen Verarbeitungsqualität nahezu identisch. Ihre gemeinsame Basis ist die MV Agusta F4. Sie wissen schon: Jener 750er-Supersportler, der den traditionreichen Hersteller aus Varese 1998 zurück in die Schlagzeilen und drei Jahre später fast in den erneuten Ruin katapultierte.
MVs sind vielleicht einfach zu gut für diese Welt. Ihr Schöpfer Massimo Tamburini nimmt bei ihrer Entwicklung nämlich keinerlei Rücksicht auf Produktionskosten oder gar Großserientauglichkeit. Zu allem Überfluss bestärkt ihn sein Chef Claudio Castiglioni auch noch in diesem Vorgehen. Die beiden Motorradverrückten arbeiten jenseits aller kaufmännischen Vernunft. Und das ist gut so, denn unglaublich vernünftige und profitable Motorräder gibt’s eigentlich genug.
Spätestens jetzt stöhnen vielleicht einige bma-Leser mit der Bemerkung „Ich kann dieses Italiener-sind-Kult-Geschwafel nicht mehr lesen” auf und drohen damit, die Lektüre dieses Fahrberichts (der kommt noch – versprochen) zu verlassen. Gemach. Bitte bleiben Sie. Ich kann alle Alfasud-Traumatisierten doch nur allzu gut verstehen. Mangelnde Zuverlässigkeit, lausige Verarbeitung und das Fehlen jedweder Praxistauglichkeit wurden uns schließlich jahrelang als lockere südländische Lebensart und Charakterstärke verkauft. Raten Sie mal, warum mir bis heute keine gebrauchte Guzzi oder irgendeine Laverda ins Haus kommen. Eben.
Doch bei dieser MV ist wirklich alles anders. Das liegt am grundsätzlichen konstruktiven Ansatz. Wenn irgendein (japanischer) Großserienhersteller nämlich auf die Idee kommt, eine flott motorisierte Unverkleidete auf die Räder zu stellen, nimmt er einen bewährten Sportmotor und steckt ihn in ein Fahrwerk, das sich meist deutlich von dem des Organspenders unterscheidet, also weniger aufwändig gemacht ist. Simplere Rahmen, billigere Federelemente und einfachere Bremsen sind die Regel. Schließlich muss das Naked Bike (zugegeben, eine extrem dämliche Wortschöpfung) deutlich günstiger als das verkleidete Sportmodell sein und soll dabei auch noch eine größere Zielgruppe ansprechen. Heraus kommen nette, aber oftmals recht langweilige Kompromisse.
CockpitDer MV-Ansatz war ein völlig anderer. Meister Tamburini war der Meinung, dass der Fahrer einer F4-Nacktversion auf nur eine einzige Sache verzichten sollte: auf die Verkleidung. Was nach dem Striptease zum Vorschein kam, wurde dann optimal dem veränderten Einsatzzweck angepasst. Egal, ob sich ein neuer Zylinderkopf mit geänderter Kanalführung und Nockenwellen mit zahmeren Steuerzeiten stückzahlmäßig überhaupt rechnen – die Teile wurden technisch für notwendig erachtet und damit auch verbaut. Runter mit den Lenkerstummeln, rauf mit dem Superbikelenker. Nicht irgendein billiges Allerweltsrohr, sondern mit seiner konischen Form für sich schon ein Kunstwerk. Der Scheinwerfer ist nicht irgendein Leuchtheimer, sondern bestes Industriedesign, das garantiert (fernöstliche) Nachahmer finden wird und so ganz nebenbei auch recht erhellend wirkt. Und dann erst der Auspuff: Natürlich hätte es auch die unterm Bürzel endende F4-Anlage getan, doch die rechtsseitig verlegte Vier-in-zwei-Anlage der Brutale passt einfach noch besser zum Macho-Auftritt.
Was ebenfalls auf Anhieb perfekt passt, ist die Sitzposition. Der Fahrer hat das Gefühl, die Brutale schon ewig zu kennen, so vertraut ist der Arbeitsplatz. Menschen bis knapp einsneunzig Länge sind bestens untergebracht, der Knieschluss gelingt perfekt, alles ist genau dort, wo es Hände und Füße erwarten.
Der von einer Einspritzanlage befeuerte und extrem kurzhubig (Bohrung 73,8, Hub 43,8 mm) ausgelegte 750er-Reihenvierzylinder springt kalt wie warm völlig problemlos an und läuft auch ohne Choke-Unterstützung sofort rund. Der wassergekühlte Vierer leistet 127 PS, die bei 12.500 U/min anliegen. Die Gasannahme ist etwas ruppig, aber noch durchaus alltagstauglich. Der Gasgriff dürfte zudem etwas leichtgängiger sein. Unter 4000 Touren geht’s recht unspektakulär voran. Ohne großartige Kupplungszauberei lässt sich mit der MV auch dichter Stadtverkehr recht locker bewältigen. Der schmal bauende Motor nimmt auch untertouriges Bummeln im sechsten und letzten Gang nicht übel. Bewegt sich die Nadel des klassisch gezeichneten Analog-Drehzahlmessers (über den Digital-Tacho breite ich den Mantel des Schweigens) aber oberhalb der 6000er-Marke, brennt die Luft und auch akustisch bricht ein Sturm los. Der Vierzylinder giert nach hohen Drehzahlen, Vibrationen kommen zwar spürbar durch, sind aber niemals wirklich störend.
MV Agusta BrutaleWas im vierstelligen Bereich noch als kehliges Röhren durchging, wird in höheren Drehzahlregionen zum infernalischen Brüllen. Den Mördersound gibt’s hauptsächlich aus der Airbox, was dem Fahrer einen Direkt-auf-die-Ohren-Genuss beschert und Unbeteiligte einigermaßen in Ruhe lässt – ein tolles Beispiel für gelungenes Sound-Engineering, oder wie das neudeutsch heißt. Der Vierventiler (radial angeordnete Ventile!) ist eine faszinierende Drehorgel, deren Lebendigkeit glücklicherweise nicht zu Lasten des Durchzugs geht. Ganz im Gegenteil. Im 750er-Feld zieht die MV ganz weit vorn durch. Im Vergleich zur vollverschalten Schwester ist sie etwas kürzer übersetzt. Die Brutale braucht keinen hektischen Schaltfuß, aber wer trotzdem gern und oft die Gänge sortiert, wird bestens bedient. Das Kassettengetriebe lässt sich absolut exakt und auf sehr kurzen Wegen bedienen.
Der Brutale-Motor macht schon Spaß, doch wirklich süchtig macht erst das Fahrwerk. Neutraler, zielgenauer und leichtfüßiger geht’s eigentlich nicht. Die Brutale scheint immer extrem frühzeitig zu spüren, was ihr Fahrer vorhat und macht es ihm so leicht wie irgend möglich. Wenn’s darauf ankommt, läuft sie völlig unbeirrt und ohne jedes Pendeln mit Vmax 250 km/h geradeaus. Heftigstes Kurvenräubern im engen Winkelwerk macht die megahandliche MV ebenso locker und traumhaft berechenbar mit. Vorausgesetzt, der Belag ist einigermaßen eben, denn Fahrbahnverwerfungen sind nicht das Ding des Sachs-Zentralfederbeins. Das vollverstellbare Teil ist ein ziemlich harter Hund, daran ändert auch die softeste Einstellung nichts. Die fette Marzocchi-Gabel arbeitet da schon deutlich sensibler. Die Nissin-Sechs- (vorn) und Vierkolbensättel (hinten) machen ihren Job an den Scheiben ebenfalls hervorragend. Fein zu dosieren und heftig in der Wirkung haben die Stopper die vollgetankt 212 Kilogramm schwere MV bestens im Griff.
Volltanken steht bei der MV F4 Brutale S öfters an. Oder anders gesagt: Das Ding ist ein Säufer. Unter acht Litern geht praktisch nichts, es dürfen auch schon mal zehn sein, dann reicht der 19-Liter-Tank keine 200 Kilometer. Aber wen interessiert das wirklich? Okay, die Sache mit dem fehlenden Kat ist tatsächlich dämlich und einigermaßen unverständlich. Aber für die langen Strecken haben Sie ja sowieso die CBR oder die GSX-R.
Damit wir uns aber nicht falsch verstehen: Die MV ist eben keine launische Diva und garantiert kein Italo-Sensibelchen. Ganz im Gegenteil, sie ist ein bestens funktionierendes und hervorragend gemachtes Sportgerät. Natürlich würde sie Regenfahrten vertragen, und tote Tierchen können ihren edlen Oberflächen auch ganz sicher nichts anhaben. Aber die wunderbare MV ist für solches Tun eigentlich viel zu schade. Sie ist ein Genussmittel. Also holen Sie das gute Stück zu sich ins Wohnzimmer und gönnen ihr an perfekten Tagen etwas Auslauf. Der Kaufpreis ist absolut fair – irgendwie kriegen Sie das schon hin.