aus bma 10/12
von Klaus Herder
Kurz bevor ein Fahrberichts-Text in den PC gehackt wird, ist der Job eigentlich schon getan: Das Bildmaterial liegt vor und ist meist schon layoutet, die Fahreindrücke sind gesammelt, die technischen Details gesichtet, und eigentlich muss die Sache nur noch in (Text)-Form gebracht werden. Das Überraschungspotenzial ist in solchen Momenten normalerweise nicht mehr wirklich hoch.
Bei dieser Geschichte kam es dann aber doch etwas anders; denn unmittelbar bevor diese Zeilen in ein Word-Dokument verfrachtet wurden, besuchte der Autor noch ein letztes Mal die Homepage des Motorradherstellers – ein abschließender Preis-Check, reine Routine – und traute seinen Augen kaum: Was bei der Präsentation vor wenigen Wochen noch 8990 Euro (plus 275 Euro NK) kosten sollte, steht nun plötzlich (exakt am 9.9.2012) mit 9490 Euro (natürlich ebenfalls plus Nebenkosten) in der Liste. MV Agusta hat seinen vermeintlichen Preisbrecher Brutale 675 mal eben still und heimlich 500 Euro teurer gemacht. Eine Woche später: Der ob der vermeintlich frechen Preiserhöhungsgeschichte mit einer tadelnden Einleitung versehene Text ist gesetzt und in Form gebracht, der Schlussredakteur schaut routinemäßig auch noch mal auf die MV-Homepage – und wundert sich. Denn nun gibt’s wieder eine neue Preisangabe, diesmal sogar doppelt und sie lautet wieder 8990 Euro für das Basismodell bzw. 9390 Euro für die EAS-Version, also die Ausführung mit elektronischem Schaltassistenten, der besonders schnelle Gangwechsel ohne Kupplungsbetätigung und Schließen der Drosselklappen und damit praktisch ohne Zugkraftunterbrechung ermöglicht.

Den Anfang der MV-für-alle-Aktion machte der vollverschalte Supersportler F3 675 (siehe bma 5/2012), dessen Präsentation einige Monate vor der kleinen Brutale, die intern B3 heißt, erfolgte. Der zeitliche Versatz hatte Marketing- und Imagegründe – MV Agusta steht nun mal für kompromisslose Motorsportler. Stückzahlmäßig dürfte die B3 für die seit 1945 Motorräder bauende „Meccanica Verghera Agusta“ aber deutlich interessanter sein. Technisch sind das Schalentier und die Nackte sehr eng verwandt. Beide werden von einem komplett neu entwickelten und ultrakompakten Dreizylindermotor angetrieben. Der nur 52 Kilogramm wiegende extreme Kurzhuber (Bohrung 79,0 mm, Hub 45,9 mm) leistet in der F3 stattliche 128 PS bei 14400/min und stemmt maximal 71 Nm bei 10600/min – Werte, die deutlich machen, dass es den Entwicklern vorrangig um große Drehfreude und hohe Spitzenleistung ging. Die Brutale hat ihr Revier dagegen eher auf der Landstraße als auf der Rennstrecke.

ABS ist für beide Modelle (noch) nicht lieferbar, dafür gibt’s aber immerhin bei beiden 675ern eine serienmäßige achtstufige Traktionskontrolle, die vom linken Lenkerende aus bedient wird. An der rechten Armatur kann der Fahrer bei beiden Modellen zwischen vier Mappings wählen (Normal-, Sport- Regen- und ein individuell zu definierender Custom-Modus). Das Regenprogramm kann man getrost vergessen, denn es kappt die Leistung wenig elegant und sorgt für ein ruckliges Ansprechen bei niedrigen Drehzahlen. Im Normal-Modus gibt’s die volle Leistung, aber ein immer noch etwas verzögertes Ansprechverhalten. Bleibt also der Sport-Modus als Standardeinstellung, von optimaler Umsetzung der Gasgriffbefehle kann aber auch bei diesem Mapping keine Rede sein – doch dazu später mehr.



2013 wird es die Brutale auch mit ABS geben. Den Blockierverhinderer hat das in Rot/Silber, Weiß/Gold und Anthrazit lieferbare Feuerzeug verdient, denn ihre sensationelle Handlichkeit mag manchen Piloten dazu verführen, ab und an etwas über die Stränge zu schlagen. So etwas Wendiges wie die Brutale hat es in ihrer Klasse bisher noch nicht gegeben. Der rekordverdächtig kurze Radstand (1380 Millimeter), der steile Lenkkopfwinkel (66 Grad) und der sehr kurze Nachlauf (95 Millimeter) sorgen in Kombination dafür, dass das Leichtgewicht praktisch von allein durch noch so aberwitzig kurvige Kurvenkombinationen wuselt. Ihre Schräglagenfreiheit geht gegen Unendlich, Kurskorrekturen gelingen nahezu immer und überall mit Leichtigkeit und der Griff zur Bremse wird in Schräglage ohne nennenswertes Aufstellen pariert. In Verbindung mit der tadellosen Ergonomie sorgt das für eine leicht beherrschbare Wendigkeit, die es auch hubraum- und leistungsstärkeren Maschinen auf kurvigem Geläuf nahezu unmöglich macht, der Brutale zu folgen. Die MV setzt jeden noch so kleinen Lenkimpuls in eine Richtungsänderung um. Das macht sie im Winkelwerk nahezu unschlagbar – und unter einem unkonzentrierten Grobmotoriker auch etwas kippelig, was wiederum die Kehrseite der Handlichkeits-Medaille ist. Wer die Brutale aber mit kundiger Hand ums Eck treibt, wird mit ihr unglaublichen Spaß haben – und das meist auch trotz besagter Drive-by-Wire-Macken.
Die eher straff abgestimmten Federelemente sind keine Offenbarung – irgendwie muss der Preis ja realisiert werden – doch sie verderben den Kurven-Spaß auch nicht, vorausgesetzt es geht über halbwegs ebenes Geläuf. Wird der Belag allerdings zerfurchter, benimmt sich die Hinterhand gern etwas bockig. Dagegen gibt es ein probates Mittel: den Soziusbetrieb – das Brutale-Fahrverhalten gewinnt unter bestimmten Bedingungen im Zweipersonenbetrieb.
Die von Brembo stammenden Vierkolben-Stopper machen an der Vorderhand einen guten, sauber zu dosierenden Job und erfreuen passionierte Zweifinger-Bremser. Weniger erfahrene Piloten sollten sich in Ruhe an eine gewisse Bissigkeit gewöhnen, was besonders für die Hinterradbremse gilt. Der rückwärtige Stopper sorgt aufgrund der etwas frontlastigen Gewichtsverteilung bei harten Bremsmanövern dazu, das Hinterrad frühzeitig zum Stempeln zu bringen.
Der sehr attraktive Brutale Preis ist im wahrsten Sinne des Wortes preiswert, denn billig ist an diesem Hingucker bis auf ein paar kleine Ausnahmen (besagter Kupplungshebel, Ölpeilstab, einige ungeschützte Steckverbindungen) nichts gemacht. Im Gegenteil: Edelstahl-Auspuff, Kühlerblenden aus gebürstetem Aluminium, piekfeine Achsklemmungen – auch in Details ist die Brutale ein wirklich schönes Motorrad. Ihr einmaliges Design, das konkurrenzlos niedrige Gewicht, ihre geniale Handlichkeit und der betörene Sound sind gute Kaufgründe. Perfekt war eine MV allerdings noch nie, und das gilt auch für die Brutale 675 – doch als Zweit- oder Siebtmaschine für die Genießerstunden des Motorradfahrerlebens ist die Volks-MV allemal eine (Kauf-)Sünde wert. Aber testet sie bei eurem Händler am besten selbst…
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Kommentare
Ein Kommentar zu “MV Agusta Brutale 675 Modell 2012”
Wann kommt das ABS und wieso kommt 2012 immer noch ein Moped ohne ABS auf den Markt?????