aus bma 2/10
von Klaus Herder
GLÜCKLICH GESCHIEDEN! Noch ist es nicht so weit. Noch sind die beiden Protagonisten dieser Geschichte nicht geschieden, ja noch nicht einmal getrennt. Doch ein Ende ist abzusehen; denn der Haushaltsvorstand und Hauptverdiener hat Ende 2009 kundgetan, dass er eine Beendigung der Beziehung wünscht. Dabei hatte die Liaison im August 2008 doch so ungemein harmonisch begonnen: hier der gut situierte US-amerikanische Geschäftsmann auf Freiersfüßen, dort die etwas launische und permanent klamme italienische Schönheit – vielleicht keine Liebesheirat, aber doch zumindest eine potenziell erfolgreiche Zweckehe.
Doch die Umstände – die in diesen Zeiten für alles und jedes gern genommene Entschuldigung lautet „Weltwirtschaftskrise“ – sorgten dafür, dass aus der Beziehung Harley-Davidson / MV Agusta nichts Dauerhaftes werden sollte.
Harley möchte sich zukünftig auf das Kerngeschäft konzentrieren und MV so schnell wie möglich wieder loswerden. Und MV wird darüber nicht wirklich traurig sein, konnte den Italienern doch eigentlich nichts Besseres als diese kurze Affäre passieren. War man vor der Übernahme durch Harley-Davidson mal wieder kurz vorm endgültigen Aus, so wird man nach der in vermutlich naher Zukunft erfolgten Trennung besser denn je dastehen. Praktisch „glücklich geschieden“; denn das aktuelle, überaus reizvolle und – bei MV Agusta längst keine Selbstverständlichkeit – auch gut zu verkaufende Modellprogramm ließ sich erst mit Harley-Geld realisieren.
Doch der Reihe nach: Ende der 70er Jahre war MV Agusta mausetot. Irgendwo in Europa frickelten zwar immer wieder ein paar Enthusiasten aus Restbeständen „neue“ MVs zusammen, aber das am 12. Februar 1945 als „Meccanica Verghera Agusta“ gegründete Unternehmen spielte als Motorradhersteller keine Rolle mehr. Das änderte sich auch noch nicht, als die Brüder Castiglioni Anfang der 90er Jahre den Namen MV Agusta kauften. Ironie der Geschichte: Die Castiglionis hatten bereits 1978 von Harley-Davidson das alte Aermacchi-Werk am Lago Varese erworben und Cagiva gegründet. Harley hätte eigentlich damals schon kapieren können, dass italienische Abenteuer nur Geld kosten…
Egal, weiter mit einem kurzen Abriss der MV-Geschichte: Erst auf dem Mailänder Salon im Herbst 1997 erwachte MV Agusta wieder richtig zum Leben, denn dort präsentierten MV-Chef Claudio Castiglioni und sein Designer Massimo Tamburini die F4 750 Oro – und schufen damit einen neuen Meilenstein im Motorradbau und eine (Design)-Ikone. Doch wie das mit den Ikonen oft so ist: Genie und Wahnsinn liegen eng beieinander. Die beiden Motorradverrückten Castiglioni und Tamburini arbeiteten jenseits aller kaufmännischen Vernunft. Nur so lassen sich Augen-, Hand- und Ohrenschmeichler wie die geniale F4 erschaffen. Aber auch genau so bringt man es fertig, ein Unternehmen nach nur drei Jahren fast in den erneuten Ruin zu fahren. Irgendwie ging es aber immer weiter, doch auch mit dem unverkleideten, bereits im Herbst 2000 auf der Münchener Intermot präsentierten F4-Schwestermodell namens Brutale wurden die Probleme nicht weniger. Im Gegenteil: Bau und Auslieferung der Nackten verzögerten sich immer wieder, erst 2003 rollten die ersten Brutale 750 S zu den Kunden. Mitte 2005 wurde die Brutale 910 S als große Schwester dazugestellt. Zwischenzeitlich hing die MV-Zukunft immer wieder am seidenen Faden. Mal sollte der Piaggio-Konzern den Retter in der Not spielen, dann war es der malaysische Autokonzern Proton, der sich mit der exklusiven Motorradmarke schmücken wollte. Finanziell kehrte bei MV Agusta eigentlich nie wirklich Ruhe ein, und erschwerend kam hinzu, dass zum Teil kapitale Motorschäden nicht gerade für den Ruf berauschender Zuverlässigkeit sorgten. Da konnten Detaillösungen noch so toll und Anbauteile noch so edel sein, zusammen mit dem divenhaften Benehmen der Italienerinnen – die Stichworte lauteten biestige Gasannahme, heftige Lastwechselreaktionen und ultraharte Fahrwerks-Abstimmung – löste das beim potenziellen Publikum nicht gerade einen Kaufrausch aus. Der sportlich angehauchte Motorradfahrer mochte MV zwar, kaufte dann aber doch lieber Honda. MV Agusta war zu einer Marke für möglichst leidensfähige, aber umso zahlungskräftigere Individualisten geworden, was zwar prima zum Harte-Männer-Image passte, dem wirtschaftlichen Erfolg aber massiv im Wege stand. Dabei war in Italien durchaus bekannt, wo man hätte Hand anlegen müssen, doch zwei Dinge verhinderten das Eingreifen: Erstens basierten alle MV-Motoren auf dem Ur-Entwurf des ersten F4-Vierzylinders. Das Teil war ausgereizt, tiefgreifende Änderungen damit praktisch unmöglich. Abhilfe hätte nur eine radikale Weiterentwicklung, besser noch eine komplette Neukonstruktion gebracht. Womit wir bei „Zweitens“ wären: Dafür waren schlicht und einfach keine Mittel vorhanden.
Für die hätte man wiederum den wirtschaftlichen Erfolg gebraucht – die Katze biss sich in den Schwanz! Glücklichweise aber nur so lange, bis Harley-Davidson ins Spiel kam. Als Harley MV übernahm, lagen die Konstruktionspläne und Designentwürfe bereits fertig in der Schublade. Durch das finanzielle Engagement der Amis konnten sie endlich realisiert werden. Das Ergebnis heißt Brutale 1090 RR und ist eine komplett neue Brutale, auch wenn sie auf den ersten Blick gar nicht so aussieht. Doch MV verspricht, dass 85 Prozent aller Bauteile nichts mehr mit denen des Vorgängermodells zu tun haben. Das atemberaubende, auch nach über acht Jahren immer noch faszinierende Design gehört glücklicherweise zu den verbleibenden 15 Prozent. Zumindest weitgehend, denn Blinker in den Spiegeln, zierliche LED-Rückleuchten und diese Sozius-Haltegriffe gab‘s bislang noch nicht. Neues Cockpit, ein zehn Zentimeter breiterer und etwas höher montierter Lenker und die etwas verlängerten Auspufftöpfe verraten dem Brutale-Kenner ebenfalls, dass hier die Neue bereitsteht. Der etwas unsensiblere Nichtblicker spürt dann spätestens beim Probesitzen, dass einiges an der Brutale nicht mehr ganz so brutal ausfällt. Zumindest nicht mehr so brutal eng, denn der neue Arbeitsplatz ist deutlich geräumiger als bisher. Die eigentlichen Abmessungen haben sich dabei gar nicht so dramatisch verändert: die Schwinge ist 20 Millimeter länger, der Radstand legte um 28 Millimeter zu, der Lenkkopfwinkel fällt mit 65 Grad nur 0,5 Grad flacher als bisher aus. Es sind die Proportionen, die zugelegt haben. Scheinwerfer, 23-Liter-Tank, längere Sitzbank – alles wirkt deutlich erwachsener. Der Kniewinkel ist immer noch supersportlich eng, denn die mangels Gummiauflage ziemlich rutschigen Fußrasten sind immer noch recht hoch montiert, können per Exzenter aber immerhin etwas horizontal und vertikal verstellt werden.
Wer die neue Brutale nicht beim Ansehen oder beim Aufsitzen erkennt, hat noch die Möglichkeit, beim Anhören den Wechsel zu bemerken. Er hört nach dem problemlosen Anlassen nämlich erst einmal nichts. Zumindest fast nichts, wenn man es mit dem vergleicht, was der Reihenvierer früher so geboten hat. Kein melodisch-martialisches Aufheulen, kein Gurgeln, kein Mahlen – nichts. Nur ein harmloses Leerlauf-Prötteln, fast schon ein japanisches Leerlauf-Prötteln. Verantwortlich dafür ist eine Klappe im Auspuff. Sehen wir die Sache positiv, denn so ist auch am Sonntagmorgen ein nachbarschaftsverträgliches Warmlaufenlassen möglich und spätestens dann, wenn die Drehzahlmessernadel die 2 erreicht, hat die Klappe ausgeklappt und er ist wieder da: der böse, der herrlich fiese, der Nackenhaare aufstellende MV-Sound! Dann darf die Tamburini-Doppelrohrorgel wieder frei blasen, und alles klingt gut.
Die Kupplungsbetätigung erfordert auch bei der neuen Brutale ein entschlossenes Zupacken, und auch der Gasgriff dürfte etwas leichter abrollen, doch geschenkt. Entscheidend ist, was unten rauskommt. Und das ist eine deutlich bessere Gasannahme, die neue Mikuni-Einspritz-Hardware macht‘s möglich. Bereits ab Leerlaufdrehzahl geht‘s munter voran, ab 2500/min legt der exakt 1078 ccm große Kurzhuber reichlich Kohlen nach. Darüber hinaus geht‘s nicht nur für MV-Verhältnisse herrlich berechenbar und mit wunderbar sattem, linear ansteigenden Druck in Richtung Drehzahlbegrenzer bei 11650/min. Die Nennleistung von 144 PS liegt bereits bei 10600/min an, die vollen 115 Nm des maximalen Drehmoments werden sogar schon bei 8000 Touren auf die Kurbelwelle geschaufelt. Das eigentlich Beeindruckende ist aber die im Vergleich zur auf dem Papier stärkeren 1078 RR fülligere Drehmomentkurve. Bereits bei 4000/min stemmt die 1090 kräftige 80 Nm.
Wie ist das möglich? Wir erinnern uns: 85 Prozent Neuteile, beim Motor dürften es noch ein paar mehr sein. Zwar sind die Italiener von den F4-Grundprinzipien wie Vierzylinder-Reihenmotor und radial angeordneten Ventilen nicht abgewichen, doch die im Hinblick auf bessere Standfestigkeit erfolgte komplette Änderung des Öl- und Kühlkreislaufs und die erstmalige Verwendung einer Ausgleichswelle machten es erforderlich, auch den ganzen Motorblock zu ändern. Hub (79 mm) und Bohrung (55 mm) entsprechen zwar den Werten des Vorgängermodells Brutale 1078 RR, doch praktisch alle bewegten Teile wie zum Beispiel Pleuel und Kurbelwelle sind komplett neu – und damit auf dem Stand von 2009 und eben nicht 1997. Eine kleinere, dafür leistungsfähigere Ölpumpe macht nun dort Dienst, wo zuvor zwei größere, aber ineffektivere Teile arbeiteten. Lichtmaschine? Kleiner, leichter, besser – so kommt ein Puzzleteil zum anderen.
Änderungen im Ansaugbereich inklusive der besagten neuen Einspritzanlage trugen ebenfalls ihr Scherflein dazu bei, dass sich die Brutale vom zickigen Biest zur berechenbaren Partnerin gewandelt hat. Bassiges Ansauggeräusch und heiseres Auspufffauchen hat sie immer noch zu bieten, doch die dahinter stehende immense Power lässt sich nun viel gezielter abrufen. Auch während der Fahrt kann man zwischen zwei Mappings wählen: Sport und Normal. Das zweimalige Drücken auf den Anlasserknopf wechselt den Fahrmodus.
Die zur Verfügung stehende Leistung ist bei beiden Kennfeldern gleich hoch, doch das Sport-Mapping setzt die Gasgriffbefehle noch radikaler und digitaler um. Bei höheren Drehzahlen ist die Gasannahme dann schon ziemlich ruppig, was auf der Rennstrecke seine Berechtigung haben mag. Für den Alltagsbetrieb ist der Normal-Modus aber die bessere Wahl. Eine nette, im öffentlichen Straßenverkehr aber nur höchst selten zum Einsatz kommende Fahrhilfe ist die in jedem Fahrmodus achtfach einstellbare Traktionskontrolle. Für das tägliche Brutale-Zähmen entscheidender ist die knackig-kurze Übersetzung des leicht und präzise zu schaltenden Sechsganggetriebes.
Eine Brutale-Eigenschaft blieb praktisch unverändert: Sie ist immer noch unglaublich versoffen. Ein Verbrauch von unter sieben Litern ist selbst auf der Landstraße kaum machbar. Wer das Kabel kräftig spannt, fackelt locker acht oder mehr Liter auf 100 Kilometern ab. Aber interessiert das irgendeinen MV-Fan wirklich? Eben. Fahrtenbuchführer sind auf ihr äußerst selten anzutreffen. Eher schon Spätbremser und Extrem-Abwinkler – und beiden wird hier das volle Programm geboten.
Die Vierkolben-Brembo-Monoblocs sind die vielleicht besten Stopper, die momentan serienmäßig verbaut werden. Sie knallen ihre Beläge mit einer brillant dosierbaren Vehemenz auf die 320er-Scheiben, dass es eine wahre Freude ist. Das handgeschweißte Kunstwerk, das in Datenkästen schnöde als „Gitterrohrrahmen aus Stahl“ bezeichnet wird, ist die Basis eines Fahrwerks, das im Vergleich zur bisherigen Brutale nicht mehr wiederzuerkennen ist. Edel gemacht war auch schon das bisherige Tragwerk, doch eine für bundesdeutsche Landstraßen passende Abstimmung gibt‘s erst jetzt. Wo zuvor dank übertrieben sportlicher Auslegung das große Leiden und der anschließende Besuch beim Orthopäden angesagt waren, wird nun sauber gebügelt. Keine Sorge: Zu soft wird‘s mit der fetten Upside-down-Gabel allenfalls im Soziusbetrieb, der den wahren MV-Genießer nicht die Bohne interessieren dürfte. Ansonsten bieten die voll einstellbaren Federelemente genau das, was man von einem Sportmotorrad erwarten darf, das nicht nur in der Garage oder am Stammtisch schnell und dabei gut berechenbar sein soll, sondern auch auf einer in der Karte gelb markierten Landstraße. Die Brutale liegt stoisch ruhig bei Topspeed (laut Papieren immerhin 255 km/h), knallt durchaus komfortabel und mit feiner Rückmeldung über Schlechtwegstrecken und bleibt auch im kurvigsten Kurvengewirr sauber auf Kurs. Der serienmäßige Lenkungsdämpfer lässt sich mit einem kleinen Handrad etwas umständlich verstellen und dämpft nur nahezu geschlossen ganz ordentlich. Das erschwert das Geradeausfahren und präzise Einlenken allerdings, also öffnet man das nicht ganz ausgereifte Ding wieder so weit, dass es nicht weiter unangenehm auffällt. Kurzurteil: in dieser Form eher überflüssig. Stichwort überflüssig: Rückspiegel? Vibrieren kräftig und bieten nur minimale Rücksicht. Kontrolllampen im Cockpit? Leuchten nur schwach und sind kaum zu erkennen. ABS? Nicht lieferbar. Inspektionsintervalle? Nur 6000 Kilometer. Aber für diese Punkte dürfte das Gleiche gelten, wie für den Verbrauch oder die Soziustauglichkeit: Wer will es wirklich wissen? Interessanter dürfte da schon der Preis sein: 18500 Euro verlangt der MV-Dealer für die Brutale 1090 RR. Für 3000 Euro weniger gibt‘s die Brutale 990 R, bei der man u. a. auf fünf PS, das voll einstellbare Federbein, die geschmiedeten Leichtmetallräder, den Lenkungsdämpfer, die Monobloc-Bremszangen und die Antihopping-Kupplung verzichten muss und 310er- statt 320er-Bremsscheiben bekommt. Theoretisch kann man damit leben. In der Praxis würde immer das unbefriedigende Gefühl bleiben, dass man nur die kleine Schwester und nicht das wirkliche Luder an Land gezogen hat.
Ihre gemeinsame Mutter ist vermutlich auch bald wieder zu haben. Mal schauen, wen sich die dann glücklich Geschiedene als nächsten Sponsor angeln wird. Ihre Noch-Beziehung hat der Familie mütterlicherseits jedenfalls ziemlich gut getan.
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