aus Kradblatt 6/19 von Francesco Ciarfaglia & Lynn Woithon-Ciarfaglia
Von wegen… nur Prag !
Ein Freund erzählte mir vor Jahren, sich nach seinem Prag-Besuch, in Absenz anderer Ziele, durch das Land gewagt zu haben. Er erzählte mir von Dörfern, in denen abends die Lichter früher erloschen, Tante-Emma-Läden Omniversorger seien, Wirte noch Zeit für Geschichten hätten und Verehrer der kalorienreichen Küche die Wahl hätten zwischen Hausmannskost mit viel Bier oder mit viel Wein. Da wollte ich auch hin!
„Was wollt ihr euch denn da überhaupt angucken! Da ist doch nur Prag!“, sagt Bernd beim Stammtisch vor dem Sommerurlaub. Stammtischparolen. Nun ja, es wäre auch ein bisschen so, würden wir es nicht herzlichst ernst nehmen, das mit unserem ungefilterten Fenster zur Welt – dem Reisen. Wir wissen schon: Die Erzählungen, Bilder und Erlebnisse werden unsere Sitzungen womöglich bis Weihnachten prägen.
Es ist ein schönes Spiel, das wir da spielen. Als leidenschaftliche Anhänger von Small-Towns-Reisen sind wir meist in ganz Europa unterwegs. Jedes Jahr etwas Neues. Zuhause dann, im Winter, zwischen einer Runde Billard, einer Schüssel Kartoffelspalten mit Knoblauchsoße und dem neuen Renner aus der Sparte „ausgefallene Biersorten“ unserer Kneipe, werden dann die „Fakten“ auf den Tisch gelegt. Am Ende ist es so, als ob man bei den Anderen ein bisschen mit dabei war.
Das ist unser Spiel! Die Anreise durch das Erzgebirge nach Litoměřice ist schon nicht von schlechten Eltern, trotz Gepäck und mich durch ihre Präsenz über das normale Maß hinaus ehrende Ehefrau auf dem Bock. Der Grenzübergang findet in Mníšek statt. Der 271 folgend, ist es grün und schön hügelig, man fährt durch kleinste Agglomerate. Kurven gibt es auch.
Litomerice ist ein reizvolles Kleinod im böhmischen Mittelgebirge. Das Herz der denkmalgeschützten Altstadt ist der kopfsteingepflasterte Friedensplatz, der zu den weiträumigsten und ästhetischsten Böhmens gehört. Ihn rahmen aufreizende Laubenhäuser in Bauform der Gotik und der Renaissance. Allseitig gibt es ein Labyrinth an belebten oder verträumten Gassen zu entdecken. Viele der Laubenhäuser sind unterirdisch durch ein labyrinthähnliches Gängesystem miteinander verbunden. Vom Restaurant Radnici Slipek aus, direkt am Marktplatz, kann man 366 Meter tief in die Unterwelt absteigen und die atmosphärisch spärlich beleuchteten Gänge über eine Gesamtlänge von 3 km besichtigen. Absolut sehenswert, vor allem, wenn man Freund von leicht klaustrophobischen Erlebnissen ist.
Weiter geht es auf der 261, der Elbe entlang Richtung Hřensko. Die Stadt ist auf tschechischer Seite das Tor zur Böhmischen Schweiz. Die Aufmachung ist spektakulär. Direkt unter den hochragenden Felsen wurden stilvolle Häuser gebaut, die man mutig durch riesige Felsfangnetze geschützt hat. Wir sind gewillt anzuhalten, bemerken allerdings eine unendliche Reihe von Souvenirläden und Imbissbuden, die gerade von Ladungen von Tagestouristen gestürmt werden, welche man direkt am Ortseingang aus Reisebussen geworfen hat. Wir fahren weiter, um die Landschaft zu genießen. Es lohnt sich.
Das enge und gut asphaltierte Sträßchen schlängelt sich auf und ab durch das Herz der böhmischen Schweiz, immer beiderseits überragt von Felsformationen und dichtem Wald. In Jetřichovice ist aber höchste Zeit für eine Kaffeepause. Die Häuser säumen hier die 25861 und es ist ruhig. Wir halten beim ersten Café und bitten um Asyl. Der Kellner sagt es ist erst 10.50 Uhr, wir sollten lieber in 10 Minuten kommen. In meiner Verzweiflung begebe ich mich gegenüber in einen Laden, der nicht den Anschein eines Cafés macht. Es sind aber gerade zwei ältere Damen mit buntem Kopftuch und einem Stück Brot unterm Arm herausgekommen. Ich trete ein und plötzlich wird mir klar: Ja, das ist es. Das ist einer der Läden, von denen mein Freund gesprochen hat. Ich sehe Käse, Tomaten, Brot, Konserven, Turnschuhe, Glühbirnen und Plastikkanister nebeneinander. Von Kaffee allerdings keine Spur. Ich frage mutig mit einem breiten Lächeln die zerzauste Chefin an der betagten Kasse. Ich verstehe kein Wort, sie jedoch versteht zum Glück „Kaffee“. Ich solle mich draußen hinsetzen, gestikuliert sie und schickt die Adjutantin in den Hinterraum. Keine 5 Minuten später stehen 2 Becher Kaffee auf dem Tisch. Die Adjutantin ist nicht begeistert. Sie redet ernst, wir verstehen kein Wort. Sie kommt wieder mit Zucker und Milch. Diesmal guckt sie nur grimmig. Ich lächle sie unterwürfig an und bedanke mich überschwänglich. Später setzt sie sich daneben und raucht mit uns eine. Sprachlos. Immerhin! Ich fühle mich angekommen. Das, genau das sind die Dörfer, wo ich hinwollte. Ich bin begeistert. Meine Frau weniger. Es ist also Zeit weiter zu fahren. Wir wollen heute noch den Ještěd erklimmen, den Hausberg von Liberec bevor wir Jičín erreichen.
Wir verlassen die 25861, machen einen kurzen Schlenker Richtung Süden auf der 9, nur, um sie ein paar Kilometer später zugunsten der 26844 Richtung Osten wieder zu verlassen.
In Mařenice kommt gleich Freilichtmuseumsfeeling auf. Viele der Holzhäuser, die hier die Hauptstraße säumen, haben prächtige Farben und geschnitzte Verzierungen. Ein verträumtes Dorf, in Wald getaucht. Ich würde mich nicht wundern, wenn Fabelwesen jetzt die Straße überquerten. In einem der Blockhäuser erblicken wir eine Art Schnellrestaurant auf tschechisch und machen Halt. Am Küchenfenster wird das Essen auf die Faust serviert. Davor ein Holztisch mit Getränken zur Selbstbedienung und Holzsitzbänke. Spartanisch, ehrlich. Ich liebe es. Die Brokkolisuppe der tschechischen Signora kostet 80 Cent und ist mit das Leckerste, was uns auf der Reise aufgetischt wird. Ein Gedicht.
Weiter geht es Richtung Südosten auf die 2784. Von hier aus geht es kilometerweit kurvenreich zum Ještěd auf 1012 Meter hinauf. Es ist also wieder an der Zeit richtig Motorrad zu fahren. Es macht Spaß und es klappt ganz gut, bis auf die letzten paar hundert Meter. Dort reduziert sich die Straße auf eine Breite von gut 2 Meter und klettert weiter hinauf zum Gipfel. Rechts die Felswand, links eine winzige Steinmauer als Schutz zur Klippe. Ich suche den ersten Gang und fahre im Slalom durch die Wanderer bis zum kleinen Parkplatz auf der Bergspitze. Dort stelle ich die GS in einer Ecke ab, merke, dass mich die Aktion mit dem Fahren, voll beladen neben der Klippe, Schweiß gekostet hat und realisiere, wieso meine Frau über Funk nicht mehr zu hören war. Sie hat Höhenangst. Zehn Minuten später liebt sie mich aber wieder.
Auf der Spitze des Berges wurde in den 1970ern ein Fernsehturm gebaut, der später im mittleren Stockwerk um ein Hotel bereichert wurde. Dazu kam ein Café im Untergeschoss. Als ich den Turm sehe, muss ich ans Raumschiff Enterprise denken. Drinnen wurde gekonnt und passend zum Äußeren eingerichtet. Farben und Formen aus der Avantgarde jener Epoche dominieren die Räumlichkeiten. Captain Kirk lässt grüßen.
Richtung Südosten geht es weiter, an Burgruinen, die auf Gipfeln thronen, und an gut erhaltenen Burgen inmitten von mittelalterlichen Dörfern vorbei. Jičín bildet das Tor zum böhmischen Paradies: Eine als Weltnaturerbe in die Liste der UNESCO aufgenommene Landschaft, geprägt von aus dem Wald emporschießenden Sandsteingebilden, umsäumt von auf Felsen fußenden Burgen und Burgruinen.
Mit Turnschuhen und T-Shirt machen wir uns daran, die Altstadt zu erkunden. Wir verschaffen uns einen Überblick vom Valdická brána aus, dem 52 Meter hohen Wahrzeichen der Stadt und genießen nach 156 Stufen das Panorama. Vieles erinnert an Litomerice. Hier erscheint nur alles bunter, größer, gepflegter. Die Altstadt ist als verkehrsberuhigt deklariert und wird nicht komplett als Parkplatz benutzt. So kann man die Geschäfte, Cafés und Restaurants in den Laubenhäusern, die hier den Valdštejnovo náměstí umsäumen, aber auch die imposante Residenz und die Kirchen, erbaut von dem hier omnipräsenten Albrecht von Wallenstein im 17. Jh., entspannt erkunden. Imposant ist auch die 2 km lange und mit 1200 Bäumen geschmückte Lindenallee, die aus der Altstadt führt.
Wir laufen weiter. Architektur erzählt viel über die Geschichte der Menschen und wie sie Lebensraum gestaltet und gelebt haben. Es ist uns schon aufgefallen, dass hier der Schnitt zur planwirtschaftlichen Architektur um die Altstadtkerne herum zwar deutlich, dennoch nicht brachial verläuft. Die Plattenbauten sind klein gehalten und dazu hat man ihnen eine farbliche Verjüngungskur verpasst. Nur vereinzelt sind architektonische Sünden aus der sozialistischen Ära noch im Originalzustand anzutreffen.
Weiter geht es Richtung Riesengebirge und Schneekoppe, mit 1800 Metern der höchste Berg Tschechiens. Der Kamm bildet die Grenze zu Polen. Die Straßen sind hier eine Nummer breiter, als diejenigen, die wir bisher gefahren sind. Das lädt ein, einen Gang höher zu schalten.
Die Landschaft ist hier teilweise sehr karg. Wir fahren an mehreren alten und verlassenen Fabrikgebäuden vorbei, die Geschichten von besseren Zeiten dieser Gegend zu erzählen scheinen. In Petzer angekommen, bei nur 1000 Metern Höhe, endet die Straße in einem riesigen Parkplatz. Wir stellen fest, dass die im Navi und auf der Karte gezeichneten Straßen zur Schneekoppe nur zu Fuß oder mit Sondergenehmigung befahrbar sind. Alternativ kann man auch mit dem Lift nach ganz oben fahren, wie es gerade Hunderte tun. Wir sind enttäuscht. Petzer hat an sich auch nichts Schönes. Es ist ausgestattet für die Durchgangstouristen die nach oben wollen. Nach einem Kaffee fahren wir weiter.
Auf dem Weg nach Litomyšl fahren wir auf die 301 und später auf die 303 durch das Adršpacher Gebirge entlang der Grenze zu Polen. Die Gegend ist hier auch hügelig, dicht bewaldet und mit beeindruckenden Felsformationen bestückt. In Adršpach, Hauptort der Gegend, halten wir an. Ein typisch mit Pastellfarben bunt gemalertes Holzhaus beherbergt ein kleines Café. Weit und breit sonst absolute Stille. Wir werden von jungem Personal empfangen, das gut englisch spricht. Grund genug, um zu fragen, wieso hier nichts los ist. Die Kellnerin Tereza zeigt auf eine steinerne Statue im Garten und auf die Kletterseile, die daran hängen. Diese sei eine Art Heilige für die Kletterer, die sich damit bei ihr bedanken, wenn sie eine gefährliche Felswand erklommen haben. Drinnen sitzt noch eine Kletter-Gruppe kurz vor dem Aufbruch. Früh morgens und abends sei hier was los, erzählt Tereza. Dies sei ein Eldorado für Kletterer, gut bekannt in der Szene. Die Kletterer seien die meiste Zeit eben klettern. Tatsächlich höre ich zum ersten mal hier spanisch, englisch, französisch und italienisch. Ein paar Jungs zeigen mir ihren alten umgebauten Bully auf dem Hinterhof, wochenlang bewohnbar mit Frau und Kind bei Bedarf, erzählen sie mir stolz. Ich höre und schaue mit großen Augen zu. Ihre Fröhlichkeit und ihre Begeisterung für ihr Hobby beeindrucken mich.
Ich spiele am ESA meiner GS rum, stelle alles auf hoch und fest und stürze mich die 303 hinunter, um dann auf die 304 Richtung Süden zu wechseln. So geht es besser. Das Nachwackeln der Masse auf der Rücksitzbank werde ich allerdings bis Ende der Reise nicht ganz ausmerzen können. Ich behalte dies für mich und schalte in den Kurven auf Konzentration oder eben einen Gang zurück.
Kurz vor Litomyšl in der Mittagshitze eine kleine Tankstelle mit Kassenhäuschen und überdachter Sitzbank. Wir sind die Einzigen hier. Es dauert eine Weile, bis das erste Auto anhält. Ein wasserblaufarbener Trabbi, mit Anhängerkupplung natürlich. Der kräftige Fahrer in den Fünfzigern kümmert sich persönlich mit selbst mitgebrachtem Öl um die Zweitaktmischung, während die ältere zierliche Beifahrerin sich für uns interessiert. Wir nicken respektvoll zurück. Aneta kommt zu uns. Sie spricht ein bisschen Deutsch. Gut, findet sie, was wir jungen Menschen machen. Mann und Frau schön mit dem Motorrad auf Reise. Früher habe sie mit ihrem Mann auch so was gemacht. Mit dem Trabbi. Der Mann sei seit Jahren nicht mehr da, sagt Aneta mit glänzenden Augen. Aber das Auto, das Auto habe sie behalten. „Mein Sohn bringt mich damit zu meinen Enkelkindern.“ Dabei erstrahlt ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht.
Litomyšl ist eine der schönsten Städte nicht nur Ostböhmens, sondern des ganzen Landes. Der Hauptplatz ist gepflegt und umsäumt von Arkaden, unter denen kleine Läden ihre Waren anbieten. Einzig stört hier, dass der wunderschöne Smetanovo náměstí auch als riesiger Parkplatz benutzt wird. Litomyšl hat aber nicht nur ein Herz, sondern zwei. Hier wurde der große Komponist Bedřich Smetana geboren ein paar 100 Meter von dem Hauptplatz entfernt. Sein Vater war Hofbraumeister und bewohnte eine kleine Wohnung in den Brauereigebäuden gegenüber dem Schloss. Die Brauerei beherbergt heute ein Museum und Seminar-Räume, in denen das musikalische Erbe des Maestros gefördert wird. Ihm zu Ehren finden jeden Sommer die Smetana-Festspiele im fabelhaften Innenhof des Schlosses, charakterisiert durch eine ihn umgebende, dreistöckige Loggia, statt. Das Schloss selbst ist eine Augenweide in jeder Hinsicht. Als wunderschönes Beispiel der Renaissancebaukunst ist es UNESCO Wertkulturerbe. Äußerlich beeindrucken vor allem die 8000 Sgraffiti-Vertäfelungen, die das ganze Gebäude ummanteln, auf denen unzählige Figuren zu entdecken sind. Sgraffiti ist eine Baukunstform, die in Zeiten der Renaissance hier angewandt wurde. Diejenigen, die es sich leisten konnten, ließen sogar Künstler aus Italien kommen. Es müssen mehrere Putzschichten aufgetragen werden, die vorletzte in schwarz und die letzte in weiß. Die letzte wird anschließend den Figuren entsprechend, die man formen möchte, wieder abgekratzt.
Die nächste Etappe führt uns weiter Richtung Osten nach Nordmähren durch das Altvatergebirge, das uns mit Fichtenwäldern und Bergen um die 1500 Meter empfangen sollte.
Es regnet zum ersten Mal seit einer Woche auf dem Weg dahin. Das beeindruckt uns zunächst einmal nicht. Wir haben ja Regenkombis. Es stellt sich allerdings ein dauerhafter Nieselregen ein, der uns stark an unsere norddeutsche Heimat erinnert. Die daraus resultierende Stimmung bei meiner Frau kenne ich gut. Vielleicht auch deshalb entscheide ich kurzfristig, die kurvigen und grünen Berge zu umfahren und das Weite zu suchen. Da oben sieht es noch dunkler aus als hier unten.
Wir biegen auf die 449 ab, vorbei an Bruntal, Troppau und Ostrava. Hier ist die Gegend karg, grau und von Industrie geprägt. Wir peilen einfach unser nächstes Ziel an, Příbor.
Die Stadt ist Geburtsort Sigmund Freuds. Sein Geburtshaus wurde aufgehübscht und für einen kleinen Obolus ist es heute möglich, Exponate über das Leben des Professors zu betrachten und multimedial einen Einblick in seine Arbeit und Wirken zu gewinnen. Ich stehe voller Ehefurcht vor dem Haus des Maestros und denke: „Hier hat also die wichtigste orale und anale Phase der Geschichte stattgefunden“. Das Haus ist das gepflegteste des Ortes. Das stellen wir schnell fest, während wir das Örtchen erkunden. Der Hauptplatz und die Gässchen besitzen Potenzial und Charme. Geld sitzt hier allerdings nicht gerade locker, Schönheitsarbeiten an den Gebäuden kommen nicht an erster Stelle.
Nový Jičín ist dagegen eine Perle Nordmährens. Nach viel grau und viel Regen stößt unser Interesse für Kultur allerdings heute an seine Grenzen. Wir haben nur Lust auf was zu essen. In einer Ecke ein überdimensionierter Pizzaaufkleber, umgarnt von italienischen Flaggen. Da müssen wir reinschauen. Es begrüßen uns zwei junge Männer und eine junge Frau. Auf tschechisch. Meine Versuche auf italienisch, deutsch und englisch Kontakt aufzunehmen, schlagen fehl, sie bringen uns aber zum Lachen. Die jungen Leute sind keine Italiener. Wir sind uns auf Anhieb sympathisch und alle drei zusammen können dann doch mehrere Brocken italienisch, englisch und sogar deutsch. Erst nachdem wir uns gegenseitig gezeigt haben, woher wir kommen und welche Route wir fahren, fällt uns ein, dass wir hier sind, um Pizza zu essen. Die Pizzabäcker kommen aus dem Kosovo und haben von Kindesbeinen an ein bewegtes Leben gehabt. Ihre Familien haben alle eines gemeinsam: eine Art Diaspora, welche Mütter und Geschwister nach Italien, Deutschland und Tschechien verschlagen hat. Über Väter wird nichts erzählt. Wir umarmen uns zum Abschied und ich bin zum wiederholten Mal erstaunt, wie viel Kommunikation stattfinden kann, ohne die Sprache des jeweilig Anderen zu sprechen.
Unsere Reise führt uns ab jetzt in Richtung Südwesten durch die Beskiden. Das Gebirge mit bis zu 1400 Meter Höhe, gehört zu den Ausläufern der Karpaten, befindet sich im Südosten an der Grenze zur Slowakei und besticht durch sattgrüne Bergwiesen und Wälder. Die Gegend wurde im 15. Jh. von Walachen besiedelt, die die Schafzucht herbrachten. Leider sind im Laufe der Zeit ihre spektakulären Holzbauten anderen, moderneren, aber nicht immer schönen Gebäuden gewichen. Anfang des 20. Jh. aber wurde in Rožnov pod Radhoštěm mit dem Aufbau des Walachischen Freilichtmuseums für Volksarchitektur begonnen. Heute unterteilt in 3 Bereiche, sind hier über 120 Gebäude aus mehreren Dörfern wieder aufgebaut worden und zusammen mit unzähligen Exponaten dort zu besichtigen. Man sollte viel Zeit mitbringen für den Besuch des Museums, aber es lohnt sich. Die Gebäude stehen nicht einfach zum Reinschauen da, sie werden durch Komparsen zum Leben erweckt, die sich wie früher um Tiere kümmern und Obst und Gemüse anbauen. Der Müller betreibt die Wassermühle, der Schmied seine Werkstatt, die Frauen backen Brot im Steinofen. Man kann den Menschen von damals über die Schulter schauen, wie sie gelebt haben. Es fasziniert mich die Frage, wie der Technologietransfer damals stattgefunden haben mag. In Nordnorwegen, Mitteldeutschland, Süditalien oder Osttschechien haben die Menschen erstaunlich ähnliche oder ähnlich funktionierende Lösungen gefunden.
Wir fahren weiter auf der 69 Richtung Südwesten. Die Berge weichen langsam von sanften Wiesen geprägten Hügeln, sanfte, lange Kurven laden förmlich zum Cruisen ein. Nächster Halt ist die Stadt Zlin, ein Muss für Architekturinteressierte. Zlin ist eine sogenannte Planstadt. Für Liebhaber von Humangeografie stellt Zlin allerdings ein besonderes Beispiel dar, das Fragen aufwirft, aber auch beantwortet. In der sozialistischen Ära war die Stadt Heimat der Bata-Brüder, die eine Schuhfabrik aufbauten. Der Erfolg wurde so groß, dass die Fabrik lange Schuhlieferant der meisten Ostblockstaaten war. In einem Land, in dem die Politiker im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten eine Art Lightversion des Sozialismus praktizieren konnten, gab dies den Bata-Brüdern gewisse Freiheiten, ihre Ideen von einer menschenachtenden, aber gut funktionierenden Wirtschaft zu realisieren. Auf dem Areal der Schuhfabrik wurden ein Krankenhaus, eine Kinderkrippe, ein Kindergarten und eine Schule für die Kinder der Mitarbeiter gebaut. Eine hauseigene Bank verteilte sehr humane Kredite, um eine Wohnung auf dem grünen Hügel gegenüber der Fabrik zu kaufen. Die Menschen haben gerne und lange für die Brüder Bata gearbeitet. 5-Tagewoche, 8-Stundentag, für Essen, Kinder und Freizeit, war gesorgt und schon war die Planwirtschaft erfolgreich. Die Fabrik kam ohne Subventionen aus. Das funktionierte gut bis zum Tod der Bata-Brüder und die Übernahme von Investoren, deren Interesse in Zeiten der Marktwirtschaft darin bestand, Gewinne zu maximieren. Das war das Ende der Fabrik, des Motors dieser Stadt. Heute kämpft diese mit vielen strukturellen Problemen und das sieht man ihr auch an.
Wir haben inzwischen das Zentrum Südmährens erreicht, eine Region, die für ihre mit Weinstöcken beschmückten Hügeln und ihre Weine hier im Lande bekannt ist. Die GS fühlt sich hier auch mit den 200 Kilo Zuladung pudelwohl. Wir genießen das Touren in vollen Zügen und freuen uns jeden Abend darauf, keine Kette schmieren, spannen oder Öl nachkippen zu müssen. Tanken – und weiter geht’s. Meine Frau hat inzwischen auch verstanden, wofür ein Dynamic ESA alles gut sein kann und präferiert offensichtlich die Einstellung „soft“ bei buckeligen Nebenstraßen.
In Mikulov quartieren wir uns vor den Toren der Altstadt ein. Marek, der Betreiber der unscheinbaren Pension, muss hier im Dorf ein ziemlich bunter Vogel sein. Er ist für seinen Geschmack wenig rumgekommen, erfahren wir später, aber durch seine Pension, die er im Alleingang betreibt, holt er sich die Welt nach Hause und freut sich über Leute, die ihm Geschichten aus anderen Gegenden erzählen. Er spricht nur tschechisch, dafür allerdings Brocken von unzähligen anderen Sprachen. Wir werden mehrmals von ihm eingeladen, uns ein Bier zu gönnen. Wir lehnen freundlich ab. Es ist zu früh und wir wollen uns noch das Dörflein anschauen.
Der Stadtkern ist malerisch. Auf dem höchsten Punkt dominiert ein sehr gut erhaltenes Renaissanceschloss. Die Gassen drum herum sind gepflegt und voller Überraschungen. In vielen versteckten Ecken gibt es kleinste Läden, in denen Weinproben und dazu passende Leckereien angeboten werden. Auf dem Hauptplatz spielen dezent Bands auf einer Bühne unterschiedliche Stilrichtungen. Die Stadt ist umgeben von sanften Hügeln und Weinstöcken. Wir genießen die Landschaft und die Atmosphäre und wundern uns angesichts des Angebots über die überschaubare Anzahl von Touristen. Beim Essen wird uns klar, dass das Angebot wahrscheinlich bewusst für Genießer ausgelegt ist, die gerne ein paar Groschen mehr zahlen, dafür gutes Essen, guten Wein und Spaziergänge in einer malerischen Kulisse angeboten bekommen.
In der Pension werden wir am Tor von Marek abgefangen. Diesmal müssen wir ein Bier mit ihm trinken. In seinem Hinterhof mit Blick auf die unten liegenden Weinstöcke, hat sich der Wirt eine überdachte Partyoase gebaut, mit steinerner Bartheke, Kaminofen, urigen Holztischen und langen Sitzbänken. Dort sitzen schon 10 seiner Freunde und feiern fröhlich mit Bier und Slibowitz. Wir werden herzlich in die Runde eingebunden. Die Sprachkenntnisse hier übersteigern nur leicht die von Marek. Aber es werden uns Fragen gestellt und Geschichten erzählt bis in die frühen Morgenstunden. Das ganze garniert von Slibowitz, Marille und Bier. Zwischendurch besuchen wir den privaten Zoo von Marek, gleich nebenan. Neben Schafen, Ziegen, Eseln, Enten und Hühnern werden auch einige kleine Kängurus beherbergt, alle bereitstehend für Streicheleinheiten. Wir bezahlen nur ein Bier. Zum Rest wurden wir eingeladen.
Das nächste Ziel heißt Krumlov und liegt in Südböhmen. Die Strecke bis dahin wird entspannt, aber zügig mit der GS bewältigt, immer entlang der österreichischen Grenze inmitten von einer flüssig zu befahrenden Hügellandschaft. In ein paar Ortschaften muss auch Pause gemacht werden. In Orten wie Slavonice lohnt es sich besonders. Den Kaffee kann man inmitten der schönen Sgraffiti-Gebäude auf der Piazza zu sich nehmen.
In Krumlov selbst ist es mit dem Motorrad unerlässlich, sich in einer Pension außerhalb der Innenstadt einzuquartieren. Český Krumlov, so der vollständige Name, hat sich seit der Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste zum Touristenmagnet entwickelt – und dies zu Recht. Die Donau zieht hier um die Innenstadt mehrmals eine Schleife und ist Mittelpunkt und Verzierung zugleich. Kanu- und Bootstouren werden angeboten, Kanuten, die größere Abschnitte befahren, machen hier Halt und bevölkern die vielen in den hübschen, historischen Häusern untergebrachten Cafés und Restaurants am Ufer der Lebensader. Der Altstadtkern gleicht einem bewohnten, mit der Zeit Schritt haltenden, sehr gepflegten Freilichtmuseum und scheut wirklich keinen Vergleich mit italienischen Städten à la Siena. Wohin man nur schaut, Sgraffiti, enge Gassen, rote Dächer, Kopfsteinpflaster, Holz-Brücken und Piazzas, Uferpromenaden, gesäumt von wunderschönen Restaurantterrassen, auf denen man den ganzen Tag verweilen möchte, um das Panorama und Treiben drum herum einatmen zu können. Thronend über der Altstadt liegt die imposante gotische Burg, die von italienischen Künstlern in den Zeiten der Renaissance aufgepeppt wurde, traditionell mit Wassergraben, noch heute von echten Bären geschützt. Die mittelalterliche Zitadelle in den Innenhöfen gleicht der eines Hollywoodfilms und kann ohne weiteres als Kulisse dienen. Die Amerikaner und Asiaten, die aus Prag hierher gelotst werden, die deutschen und österreichischen Wanderer, Rad- und Kanufahrer, sind meist Tagestouristen.
Abends wird es ruhiger in den Gassen. Ehrlich gesagt aber, war die Furcht vor Menschenmengen im Voraus schlimmer, als das Erlebnis selbst. Das Angebot an Läden, die zur Einkehr einladen, die Burganlagen, die Kirchen und die Innenstadt sind so weitläufig, dass keiner irgendwo zu warten braucht oder befürchten muss, auf die Füße getreten zu werden. Es sind hier keine brüllenden Menschen unterwegs, meist kulturinteressierte Touristen. Es ist eine Stadt, deren Besuch sich lohnt.
Auf dem Weg nach Mittelböhmen machen wir einen Abstecher auf der 14313 nach Holašovice. Das Dörflein wurde aufgrund der besonderen Architektur seiner Häuser zum UNESCO Weltkulturerbe erhoben. Es besteht aus zwei praktisch parallel verlaufenden Straßen die einen riesigen Platz umarmen, auf dem früher Bauern und Handwerker aus der Gegend Waren und Dienste anboten. Die Architektur, die Holašovice zu einer Besonderheit macht, wird als Bauernbarock bezeichnet. Die Fassaden der allesamt zum Marktplatz gerichteten Häuser wurden von den Bauern mit Mühe und Geld gebaut und verziert, sodass sie nach ihrem Geschmack schön und am Besten noch pompös aussahen. Das entsprach nicht dem akademischen Barockgeschmack der Epoche. Schön sieht es trotzdem aus. Vor allem fasziniert mich das, was man sieht, wenn man durch das Eingangstor so einer Konstruktion geht und zum Innenhof gelangt. Erst dann verstehe ich, dass jedes Haus eigentlich zwei Fronten hat, mit einem Tor zum Innenhof in der Mitte. Im Innenhof selbst sieht es aus wie in einer Zitadelle. Dort sind um die lang gezogenen Innenhöfe Gebäude errichtet, die als Wohnungen für die Mitarbeiter, als Lager für Güter, Maschinen, Werkzeuge oder als Arbeitsstätte dienten. Jeder Hof, ein kleines Dorf im Dorfe, der an seinem Ende Zugang zu Obstgarten und Ländereien gewährt. Es ist ruhig hier, es gibt ein Innenhofcafé, ein Innenhofrestaurant ein Innenhofmuseum.
Weiter geht es, vorbei an kleinen Seen und Dörfern auf der 3 Richtung Hauptstadt. Prag kann übrigens auch im Sommer mit genügend Ruhe erkundet werden, entgegen läufigen Meinungen und hat wirklich viele schöne Seiten, nicht nur die Touristenaltstadt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Vier Wochen sind vergangen, erstes Stammtischtreffen nach der Sommerpause. Wir sitzen in unserer Kneipe bei Bier und Kartoffelspalten vor einer Dartrunde. Erste Eindrücke werden ausgetauscht, erste Bilder werden gezeigt. „Na, Bernd!“, frage ich, „Und? Was denkst du denn jetzt?‘‘ „Ja.“, sagt er. „Tschechien …! Von wegen nur Prag!“
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