aus Kradblatt 7/24, von Dr. med. Daniela Mathein

Gedanken zur Vermeidung von Motorradunfällen aus Sicht einer Ärztin, selbst Motorrad- u. Autofahrerin.

Tipp von Frau Dr. med. Mathein: Fahren mit Köpfchen, sie sieht uns lieber on the road als im OP!
Tipp von Frau Dr. med. Mathein: Fahren mit Köpfchen, sie sieht uns lieber on the road als im OP!

Die rasen doch alle wie die Verrückten, war stets mein Gedanke, als ich mit meinem BMW-Cabrio die ersten Ausfahrten in die Fränkische Schweiz unternahm. Denn je näher man Aufseß und dem legendären Bikertreff „Kathi Bräu“ kam, umso kürzer wurden die Abstände, in denen einem Motorräder samt Fahrer in die Fahrspur ragten – in Schräglage versteht sich.

2012 hatte ich meinen Job als Ärztin am Klinikum Coburg aufgenommen. Doch erst als ich 2017 an das Universitätsklinikum Erlangen wechselte, stellte sich ein völlig anderes Bild dar: Bis auf wenige Ausnahmen waren es die Motorradfahrer, die schwer- und schwerstverletzt eingeliefert wurden. Fast immer hatte sie ein Auto, ein Traktor oder ein LKW einfach „übersehen“. „Wie ist das möglich? Wie kann man nur so blind sein?“ dachte ich. „Motorräder sind doch hoch und zudem beleuchtet.“

Bis es mir beinahe selbst passierte. Ich fuhr mit einem Kumpel zum Klettern und wollte vorher an einer Tankstelle noch etwas Proviant besorgen. Um in die Tankstelle einzufahren, musste ich links abbiegen. Auf der Gegenspur waren zwei Autos. Nachdem diese vorbeigefahren waren, fuhr ich an und begann mit dem Abbiegevorgang. Plötzlich war ein Motorrad direkt vor mir! Ich schlug die Hand vor den Mund und sah bereits das Auto mit dem Krad kollidieren. Dieser Eindruck musste getäuscht haben, denn der Fahrer hatte noch Zeit unfallfrei auszuweichen und wütend zu gestikulieren. 

Ich fuhr in die Tankstelle ein und war wie paralysiert: „Wo war dieses Motorrad hergekommen? Warum hatte ich es nicht gesehen?!“

Wenige Jahre später hatte ich ein ähnliches Erlebnis, doch dieses Mal wesentlich unspektakulärer. Ich war in der Bibliothek des DAV Erlangen und wollte vom Parkplatz nach rechts ausfahren. Wieder zwei Autos. Als diese vorbei waren, hatte ich noch nicht einmal mit dem Abbiegevorgang begonnen, als ich sah, dass praktisch auf der Stoßstange des zweiten Autos ein Motorrad mitfuhr. Der jugendliche Fahrer fuhr anschließend Schlangenlinien bevor er mitten im Stadtverkehr zu einem – zum Glück erfolgreichen – Überholvorgang ansetze. Wieder war das Motorrad komplett hinter einem Auto verschwunden! Dieses Mal hatte ich noch nicht einmal daran gedacht das Abbiegen einzuleiten.Dennoch war ich erschrocken: Wieder ein Motorrad, mit dem man nicht im Mindesten gerechnet hätte. Wie aus dem Nichts!

Nun jedoch war der Mechanismus offensichtlich: Der junge Mann war durch seine Ungeduld so nahe auf das Auto vor ihm aufgefahren, dass er von diesem quasi „verschluckt“ wurde! Der abbiegende Kraftfahrzeugfahrer sieht somit das Bike nicht und hat im Kopf die Info: Noch zwei Autos, noch eines, dann frei – und beginnt mit dem Abbiegevorgang. Und ehe er sich versieht, ist plötzlich das Motorrad direkt vor ihm! 

Diese Situation ist jedoch nicht nur den Kraftradfahrern zuzuschieben. Nicht alle drängeln, doch vielen scheint dieser Mechanismus beim Fahren nicht präsent zu sein. Ebenso wenig wie zahlreichen Autofahrern.

Was meiner Meinung nach dieser Sache leider massiv Auftrieb gegeben hat ist, dass seit einigen Jahren das Sicherheitsbedürfnis vieler Leute durch sogenannte SUV im wahrsten Sinne des Wortes „erhöht“ wird. Regelhaft komme ich nun beispielsweise nach einem Einkauf auf einen Parkplatz und bekomme einen Schreck: Mein Auto ist weg! Bisher hat es sich glücklicherweise – stets eingerahmt von zweien der erwähnten rollenden Hochsitze – wiedergefunden. Wie geht es da erst einem Motorradfahrer! Es ist zu befürchten, dass dieses Phänomen durch diese Unvernunft in einer Zeit, in der das Benzin immer teurer wird, sich immer größere und vor allem höhere Autos zu leisten, noch stark zunehmen wird.

Seit Ende letzten Jahres arbeite ich als Fachärztin für Anästhesiologie wieder auf der Intensivstation. Ab dem Frühjahr sah ich wieder vermehrt Motorradfahrer. Oft junge Männer in den Zwanzigern. Fast immer der gleiche Unfallmechanismus. Nicht nur die allseits bekannten Knochenbrüche zählten zu den Diagnosen. Auch Hirnblutungen, eröffnete Eingeweide und sogar Amputationen waren nicht selten. Manche wurden wieder gesund und schickten bunte Postkarten aus der Rehaklinik. Andere hatten nicht so viel Glück. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass diese schicksalshafte Pathogenese (Kausalkette) sowohl Auto- als auch Motorradfahrern praktisch unbekannt ist.

Im Herbst 2021 hatte ich nach Jahren des Zweifelns wegen der vielen Schwerverletzten schließlich selbst den Motorradführerschein gemacht. Ich bin eine vorsichtige, wahrscheinlich manchmal sogar zu ängstliche Fahrerin. Als Frau in den Dreißigern und mit meinem Hintergrund geht man die Sache anders an als jemand, der noch nicht einmal 20 Jahre alt ist.

Bislang bin ich unfallfrei geblieben. Auf der Intensivstation reifte mehr und mehr der Entschluss meine Eindrücke zu teilen und hoffentlich einen kleinen Beitrag zur Reduktion dieses so vermeidbaren Unfallmechanismus beitragen zu dürfen. Allzeit gute Fahrt!