aus Kradblatt 5/23 von Guido Schmidt, www.bmm-magazin.de
Fahraufnahmen & Titelseite 5/23: Sven Ketz
Mehr als nur eine Wortspielerei
Die Älteren unter uns kennen sie sicherlich noch, die italienischen Motorräder und Kleinkrafträder von Moto Morini, die bekanntesten Modelle mit diversen Hubräumen waren die Corsaro, die Granpasso und die 3½ (Tre e mezzo = drei und einhalb). Gerade die kleine Corsaro (Corsarino) mit 48 Kubikzentimeter Hubraum sieht man heute noch öfter bei den klassischen „Fuffziger-Treffen“.
Moto Morini wurde 1937 von Alfonso Morini in Bologna gegründet. In der Nachkriegszeit war Morini mit Zweitaktern im Motorsport erfolgreich. Dann erschien 1953 das erste Viertakt-Modell mit Straßenzulassung: die 175 Turismo.
1969 starb Firmengründer Alfonso Morini und seine Tochter Gabriella übernahm die Geschicke des Unternehmens. In der Folge wurde immer wieder an der Motortechnik gefeilt und weiterentwickelt. Anfang der Siebzigerjahre wurde die TREEMEZZO vorgestellt. 1986 übernahmen die Gebrüder Castiglioni, die seinerzeit auch Cagiva, Ducati und Husqvarna besaßen, Moto Morini. 1991 wurde die Produktion der Morini-Motorräder eingestellt und die Marke verschwand gänzlich vom Markt, bis 1999 Motori Franco Morini (ein Inhaber dieser Firma ist Maurizio Morini, ein Neffe von Alfonso Morini) die Markenrechte erwarb. 2004 wurden die Modelle NOVEEMEZZO und die Corsaro 1200 vorgestellt.
Vier Jahre später erschien mit der Granpasso 1200 eine Reiseenduro. 2009 ging Moto Morini in den Konkurs. Seniori Capotosti und Jannuzzelli ersteigerten 2011 Moto Morini und erweiterten das Modellportfolio unter anderem um die Rebello 1200. 2018 wurde Moto Morini von der chinesischen Zhongneng Vehicle Group übernommen. Moto Morini bleibt aber weiterhin designed und erprobt in Italy, im Firmensitz in Trivolzio bei Pavia in der Lombardei.
Auf das Adventure-Bike X-Cape im Jahr 2022 folgen nun zwei weitere Portfolio-Ergänzungen von Moto Morini: Die 6½, zwei Varianten stehen zur Wahl: Die STR (steht für Street) und die SCR (steht für Scrambler). Die italienisch ausgesprochene Namensbezeichnung SEI E MEZZO (sechseinhalb) haben die Morini-Leute mit einem kleinen Wortspiel versehen: SEIEMMEZZO. Identisch ausgesprochen, aber zusammen geschrieben und mit zwei M garniert. Die zwei M stehen, wer hätte das gedacht, für Moto Morini.
Ich durfte Anfang April bei strahlendem Sonnenschein, aber durchaus kühlen Temperaturen um maximal 10 Grad Celsius, die Variante STR ausgiebig fahren.
Die Seiemmezzo gefällt durch ihr kompaktes, modernes Retro-Design. Kennzeichen und Schmutzfänger sind mitfedernd an der Aluschwinge montiert. Kunststoffblenden unterhalb des Motors verbergen z.T. die Krümmer. Die STR und die SCR werden beide vom gleichen Triebwerk befeuert, einem 649-Kubikzentimeter-Reihentwin mit 61 PS bei 8.250 Umdrehungen und einem maximalen Drehmoment von 54 Nm bei 7.000 U/min. Der Motor basiert auf dem der bekannt zuverlässigen Kawasaki ER6 und wird in China beim Morini-Eigner Zhongneng Vehicle Group gefertigt. Das Sechsganggetriebe lässt sich butterweich schalten. Untertouriges Fahren mag die Sechseinhalb allerdings nicht so sehr. Am wohlsten fühlt sie sich im Drehzahlbereich ab 2.500 U/min. Beim Beschleunigen aus dem vierten Gang beweist die Seiemmezzo überraschende Spritzigkeit. Durchaus angenehm und gut auch für fremde Ohren ist der sonore Sound der Auspuffanlage. Beim Sprint darf es auch gerne mal etwas rotzig sein. Das eher weniger aussagekräftige Standgeräusch liegt bei 92 Dezibel, hiermit ist man in manchen Gegenden mit Dezibelbeschränkung in jedem Fall fein raus.
Sehr schön aufgeräumt und puristisch designed ist das Cockpit. Das Zündschloss liegt vor der Gabelbrücke und verhindert – wie bei manchen Motorrädern – das Gefummel, um den Schlüssel in das Zündschloss zu stecken. Das 5-Zoll-TFT-Farbdisplay hat eine matte Oberfläche und ist auch bei direkter Sonneneinstrahlung gut ablesbar.
Ausgestattet mit LED-Technik sorgt der vordere Scheinwerfer für eine gute Lichtausbeute. Das kreisrunde Tagfahrlicht ist sehr gefällig. Minimalismus herrscht am Heck: das Rücklicht ist quasi ins hintere Ende der Sitzbank integriert und fällt für meinen Geschmack etwas zu klein aus.
Die Bremsanlage kommt aus dem Hause Brembo und wartet vorne mit zwei 298 Millimeter Scheiben sowie hinten mit einer 255er-Scheibe auf, die die rund 200 Kilogramm schwere Morini sicher zum Stehen bringt. ABS ist selbstverständlich auch an Bord und wird von Bosch geliefert, auch die Einspritzung stammt aus dem Hause Bosch. Die Stoßdämpfung übernehmen Bauteile des japanischen Herstellers Kayaba. Die 43er USD-Gabel und das direkt angelenkte Federbein sind jeweils in Zug- und Druckstufe voll einstellbar. Ich bin während der Probefahrt allerdings mit der Werkseinstellung gefahren und war damit zufrieden.
Im Gegensatz zur X-Cape, die mit dem gleichen Motor bestückt ist, verzichtet Moto Morini bei der Sechseinhalb auf unterschiedliche Fahrmodi und eine Traktionskontrolle.
Die Seiemmezzo ist mit ihrer Sitzhöhe von 810 mm auch für kleinere Menschen gemacht. Für mich, mit meinen 186 cm Körpergröße, sowieso kein Problem. Der schön geschnittene Tankkorpus des 16 Liter fassenden Tanks bietet einen guten, sicheren Knieschluss. Durch die nicht allzu hoch angebrachten Fußrasten sind gerade bei größeren Menschen die Beine nicht so stark angewinkelt, was letztlich eine sehr entspannte Fahrt zulässt.
Für die „Connectivity“ hat die Sechseinhalb Bluetooth an Bord. Ein Smartphone und zwei Headset-Geräte lassen sich so über das TFT-
Instruments ganz easy verbinden und verwalten.
Zwei Displaylayouts können ausgewählt werden: STR und SCR. Mir persönlich gefällt das SCR-Layout besser, aber das ist reine Geschmacksache.
Die STR, die ich fahren durfte, habe ich in Kooperation mit dem Moto Morini Importeur Motomondo in Haslach-Schnellingen bei „Ilonas Schwarzwald Garage“ entgegengenommen.
Einer großen Einweisung bedarf es nicht – Gas und Bremse ist rechts, der einstellbare Kupplungshebel links. Etwas verwirrend ist auf den ersten Blick der Schalter für das Tagfahr- und Abblendlicht. Das kleine Symbol für das Tagfahrlicht verstehe ich eher als Abblendlicht und umgekehrt. Aber wenn man es weiß, ist es ja kein Problem.
Dann kann’s ja losgehen, auf zur ersten Runde durch das Kinzigtal und „meine“ Schwarzwälder Berglandschaft – auch für den (Motorrad-) Urlaub sehr zu empfehlen.
Beim Drehen des Zündschlüssels erscheint, wie inzwischen fast überall üblich, erst mal ein animiertes Signet und das Modell-Logo.
Die Seiemmezzo Modellvariante STR fährt auf bewährten Pirelli Angel GT (die Scramblerversion ist mit Pirelli MT60RS bestückt). Die nackte Morini reagiert in den Kurven geschmeidig auf das Drücken am Lenker und auf zusätzlichen Druck auf die Fußraste. So lässt sie sich willig durch das Kinzigtäler Kurveneldorado schwingen. Auf der Schnellstraße zwischen Waldkirch und Freiburg geht es dann auch mal zügiger geradeaus. 170 km/h gibt Morini als Höchstgeschwindigkeit an. Die bin ich nicht gefahren, das macht auf einem Naked-Bike ja auch nicht unbedingt Spaß. Aber sprinten kann sie, die 6½.
Auf einer einsamen Straße dürfen auch mal die Bremsen zeigen, was sie können. Das ABS greift eher spät ein, dafür aber sehr sicher und intensiv.
Moto Morini gibt den Durchschnittsverbrauch mit 3,8 Litern auf 100 Kilometer an. Nach meinen drei Testtagen waren es eher 3,5 Liter, ich habe die STR aber auch nur sehr wenig im Stadtverkehr bewegt und bin meist auf Landstraßen gefahren.
Wesentliche Unterschiede von der Street- zur Scramblerversion: Die SCR besitzt einen anderen Charakter als die STR. Wesentliche Unterschiede machen der höhere und breitere Lenker, was zu einer aufrechteren Sitzposition führt, der höher gelegte Front-Kotflügel und die Drahtspeichenräder mit den stärker profilierten Enduroreifen. Mit der SCR kann man auch mal problemlos über ungeteerte Pisten fahren. Für echtes Offroadfahren ist die SCR nicht gemacht, aber das war auch nicht beabsichtigt. Die golden eloxierte Gabel, die braune Sitzbank, der Mini-Windschild und das verlängerte Heck mit Haltebügeln unterstreichen den Scramblercharakter eindrucksvoll.
Zubehör und Goodies: In Sachen Zubehör haben die Macher von Moto Morini einiges in Planung.
Die Haltegriffe der SCR lassen sich auch an der STR verbauen. Stylische Packtaschen aus Leder sind derzeit noch in der Entwicklung, sollen aber Anfang Mai zur Verfügung stehen. Wer mag, kann auch für die SCR eine schwarze Sitzbank bestellen. Bei GIVI (givishop.de) ist ein Träger für ein Topcase sowie ein Windschild bestellbar. Beim spanischen Zubehörhändler SHAD (shad.es/de/) lassen sich Gepäcklösungen wie Topcase und Seitentaschen inkl. Halterungen ordern. Wer auf Heizgriffe steht, dem seien Griffe von KOSO (kosoeurope.com) passend für die Seiemmezzo empfohlen.
Fazit: Mit der 6½-Familie ist Moto Morini der Start in die Reihe des mittleren Straßensegments gut gelungen. Das italienische, zeitlose Design gefällt mir genauso gut, wie der quirlige, spaßige Motor und die positiven Fahreigenschaften. Beide Modelle sind selbstverständlich auch als A2-Version erhältlich. Die STR gibt es in den Farben Starlight White, Fire Red und Smoky Anthracite ab 7.599 Euro. Die SCR ist ab 7.799 Euro in den matten Farben Navy Green, Blue Storm und Night Black ab sofort erhältlich – jeweils zuzüglich 268 Euro Liefernebenkosten.
Mehr Infos und Probefahrten gibt es bei den Moto Morini Vertragshändlern.
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Fahrzeugschein Moto Morini Seiemmezzo:
- Motor: Paralleltwin mit 4 Ventilen
- Getriebe: 6 Gang
- Antrieb: Kette
- Hubraum: 649 ccm
- Leistung: 61 PS bei 8.250 U/min.
- Drehmoment: 54 Nm bei 7.000 U/min.
- Gewicht: 200 kg
- Tankinhalt: 16 Liter
- Sitzhöhe: 810 mm
- Höchstgeschwindigkeit: 170 km/h
- Verbrauch: 3,8 Liter auf 100 km
- Preis: ab 7.867 € inkl. LNK
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