aus Kradblatt 4/19, von Felix Hasselbrink, www.motalia.de
Unerwartete Fahrdynamik …
Um es gleich vorweg zu sagen: Vergesst alles, was ihr bisher über Moto Guzzi, speziell die kleine Baureihe, gehört oder gelesen habt. Diese V85 TT sieht zwar aus wie eine typische Moto Guzzi, aber sie fährt sich doch ganz anders.
Zum ersten Fahrkontakt hatte Moto Guzzi die Presse auf die Mittelmeerinsel Sardinien eingeladen. Mit viel Erwartung aber auch einiger Skepsis trat ich die Reise an. Die neue Maschine soll der Grundstein einer neuen Baureihe sein und die (Leistungs)Lücke zwischen den kleinen und großen Modellen schließen. Obwohl die Eckdaten (Hub und Bohrung) des V2s gegenüber der V9 unverändert geblieben sind, versprechen die Techniker etwa 50 Prozent Mehrleistung gegenüber der V9 – kann das sein?
Die neue Mitte: Nach der Einführung der Norm Euro 4 wurde bei Moto Guzzi das Programm auf die beiden Baureihen V7/V9 und 1400er zusammengestrichen. Die kleinen Modelle sind handlich und lassen sich sehr entspannt fahren, aber viele Besitzer wünschen sich mehr als die vorhandenen 52 bis 55 PS. Die großen Guzzis bieten zwar fast die doppelte Leistung, sind aber mit 314 bis 356 Kilogramm recht schwer. Sie lassen sich zwar handlicher fahren, als die Kiloangabe erwarten lässt, aber von wirklicher Fahrdynamik kann da eigentlich nicht die Rede sein.
Die V85 TT ist als Reiseenduro mit serienmäßigem Gepäckträger stabil gebaut, trotzdem beträgt das Trockengewicht laut Werk lediglich 208 Kilogramm. Für eine Reichweite von mehr als 400 Kilometern fasst der große Tank 23 Liter, und die Sitzhöhe beträgt 830 Millimeter – für eine Maschine dieser Gattung erträglich.
So hat man dann auch nicht das Gefühl, auf einem klobigen Reisedampfer zu sitzen, sondern man kommt sich vor wie auf einem geräumigen Mittelklasse-Motorrad mit entspannter Sitzposition. Bereits nach wenigen Metern wundert man sich über die Handlichkeit der Maschine. Mit dem breiten, konifizierten Lenker und den schmalen Reifen (110/80-19 und 150/70-17) lässt sich die Guzzi unerwartet leichtfüßig über den Parkplatz und die Zubringerstraße dirigieren, das hatte ich so nicht erwartet. Das Motorrad ist offensichtlich gut ausbalanciert.
Aber nun auf ins Kurvenparadies! Die ersten paar Kilometer absolvieren wir auf einer recht geraden Bundesstraße. Zeit, um noch mal die Einstellungen zu überprüfen. Die V85 TT ist die erste Moto Guzzi mit dem kleinen Motor, die über Ride-by-Wire verfügt. Das ermöglicht die drei Leistungskennfelder Pioggia (Regen), Strada (Straße) und Off-Road (Gelände). Je nach gewähltem Modus wird auch die dreistufige Traktionskontrolle voreingestellt und die Motorbremswirkung beeinflusst. Das Menü ist übersichtlich und lässt sich über einen Knopf am rechten Lenkerende einfach bedienen. Im Gegensatz zu vielen anderen Motorrädern sind die Armaturen nicht mit unzähligen Schaltern überfrachtet. Warnblinkanlage und Tempomat gehören zur Serienausstattung, genauso wie eine USB-Steckdose im Cockpit. Eine zweite, unter der Sitzbank, ist nachrüstbar.
Der Motor: Das Werk gibt 80 PS bei 7.750 U/min und 80 Nm bei 5.000 U/min an. Zudem sollen zwischen 3.500 und 8.000 U/min stets mehr als 70 Nm zur Verfügung stehen. Das kann man kaum glauben, wenn man bedenkt, dass der äußerlich fast identische V7/V9-Motor jahrelang nie über 55 PS und 62 Nm herausgekommen ist, obwohl die Guzzi-Gemeinde stetig nach mehr Power gebettelt hat.
Außer der äußerlichen Erscheinung haben die Motoren aber nur noch sehr wenig gemeinsam, kaum ein Bauteil ist untereinander austauschbar. Wesentliche Unterschiede sind die Einlassventile aus Titan, Rollenstößel, eine Semi-Trockensumpfschmierung mit zwei Ölpumpen, diverse Gewichtserleichterungen und vieles mehr. Außerdem atmet der V2 durch eine deutlich größere Drosselklappe: 52 anstatt 38 Millimeter Durchmesser bedeuten fast eine Verdoppelung der Durchlassfläche von 1.134 auf 2.124 mm².
Der Motor ist weder eine Evolution noch eine Revolution sondern ein Quantensprung, wie die Fahrpraxis zeigt: Der V2 überrascht mit einer Laufkultur, wie ich sie von keiner anderen Moto Guzzi kenne – trotzdem ging der typische Charakter nicht verloren. Über den ganzen Drehzahlbereich eine gleichmäßige, vibrationsarme Leistungsabgabe und es steht wirklich Leistung zur Verfügung: Die 80 PS erscheinen nach ein paar Zwischensprints durchaus als glaubwürdig. Das Beschleunigungsgefühl erinnert an die 1200er-Modelle aus gleichem Hause, nur ohne den Punch im Drehzahlkeller.
Von 3.500 bis 7.000 U/min fühlt sich der Motor am wohlsten. Ortsdurchfahrten sind mit 2.500 U/min möglich, er dreht aber auch frei bis in den Begrenzer bei etwa 8.000 U/min. Für den Fahrer tönt ein kerniger Sound aus der Airbox, Passanten empfinden die Maschine im Vorbeifahren nicht als laut: schön dumpfer Klang, das haben die Italiener gut hinbekommen. Gemütliches Dahinbummeln ist im hohen Gang möglich, Überholmanöver erfolgen ohne mehrfach herunterschalten zu müssen.
Das völlig neu entwickelte Getriebe mit anderen Übersetzungen der einzelnen Gänge gegenüber den aktuellen kleinen Modellen aus Mandello del Lario lässt sich butterweich schalten. Das „Klonck“- Geräusch ist zwar noch da, aber die Gänge flutschen wie bei keiner anderen Guzzi. Hochschalten funktioniert auch ohne Kupplung geschmeidig, und mit Zwischengas ist auch Herunterschalten ohne Kupplung möglich. Diese, nun in einer verstärkten Ausführung, wird per Bowdenzug sehr leichtgängig betätigt. Dazu treten trotz des Kardanantriebs ohne Momentabstützung kaum Lastwechselreaktionen auf, selbst wenn man diese absichtlich provozieren will.
Auf den kurvigen Straßen im hügeligen Südsardinien lässt sich die V85 durchaus sportlich um die Ecken scheuchen. Ohne großen Kraftaufwand folgt die Guzzi der eingeschlagenen Linie, die Federelemente bügeln einiges weg, sind aber nicht zu weich abgestimmt. Weil vermutlich die meisten Käufer dieser Maschine sie doch auf asphaltierten Straßen bewegen werden, wählten die Entwickler die entsprechende Grundeinstellung.
Die Bremsen haben alles im Griff ohne nerviges Aufstellmoment. Die Bremsanlage mit zwei 320 Millimeter großen Bremsscheiben und radialen Vierkolbenbremssätteln entspricht ebenfalls eher einer Straßen- als Geländemaschine. Hier gibt es mit klarem Druckpunkt und ordentlicher Verzögerung keinen Kritikpunkt. Mit der Hinterradbremse, hier sorgt ein Zweikolbenschwimmsattel für die Verzögerung, komme ich zusammen mit der Motorbremse öfter mal in den Regelbereich des ABS.
Das Motorrad lässt sich so easy wie die kleinen Guzzis fahren und bietet fast die Power der großen Mandello-Bikes ohne deren Gewichtshandicap, einfach klasse. Das ist mehr als nur der goldene Mittelweg, das ist der Aufbruch in eine neue Ära, sollen doch bald weitere Modelle auf dieser Basis folgen.
Das Fahrwerk: Um eine komplette Neuentwicklung handelt es sich bei dem Stahlrohrrahmen ohne Unterzüge, was auch für die lange Hinterradschwinge aus Aluminium gilt. Diese ist weiterhin im Getriebegehäuse gelagert. Die seitlichen Aluminiumplatten dienen lediglich als Fußrastenhalter.
Positiv überraschen die Federelemente von Kayaba, bei denen sowohl Federvorspannung als auch Zugstufe einstellbar sind. Für den rechtsseitig montierten Stoßdämpfer mit Ausgleichsbehälter befindet sich der passende Hakenschlüssel im Bordwerkzeug. Vorne und hinten stehen 170 Millimeter als Federweg zur Verfügung.
Ergonomie: In puncto Ergonomie bietet die V85 einen bequemen Arbeitsplatz mit aufrechter Haltung. Auf der Sitzbank kann man nach Bedarf vor oder zurück rutschen, hier hat der Fahrer viel Platz und einen guten Knieschluss zum Tank. Auf beiden Seiten lässt sich die Entfernung der Handhebel zum Lenker einstellen, die Pins der Fußhebel sind exzentrisch drehbar. Bei den Fußrasten kann man die Gummis entfernen. Gedacht ist das für Geländefahrten, ändert aber gleichzeitig die Höhenposition der Füße. Als Zubehör bietet das Werk zwei Sitzbänke (Sitzhöhe 810 bzw. 850 Millimeter) an. Zudem gibt es unterschiedlich hohe Windschilder, deren Anstellwinkel serienmäßig verstellbar ist. Hierfür benötigt man einen kleinen Innensechskantschlüssel, der sich im Bordwerkzeug befindet.
Die Guzzi macht auf Anhieb einen so bequemen Eindruck, dass ich mir damit Tagesetappen von mehr als 500 Kilometern (ohne Autobahn, also ca. acht Stunden reine Fahrzeit) problemlos vorstellen kann. Heute müssen wir die Maschinen leider nach knapp 250 Kilometern wieder zurückgeben.
Was bedeutet „TT“? „TT“ steht für „Tutto Terreno“, was so viel heißt wie „alle Untergründe“, so wagen wir auch einen kleinen Off-Road-Ausflug. Hierfür wechseln wir in das entsprechende Leistungsmapping, gleichzeitig deaktiviert die Bordelektronik die ABS-Funktion am Hinterrad und ändert die Regelintervalle am Vorderrad. Es geht über Feldwege mit Geröllpassagen und Abschnitte mit tiefem, feinem Sand. Das meistert die Guzzi ohne Probleme. 210 Millimeter beträgt die Bodenfreiheit.
Moto Guzzi definiert die neue Maschine als Classic Enduro und sieht diese positioniert zwischen Crossover/Easy Enduro und Scrambler/Adventure. Hierfür fiel die Wahl auf Drahtspeichenräder in den Größen 19 Zoll vorne und 17 Zoll hinten mit Schlauchbereifung.
Als einzige Reiseenduro in der Mittelklasse bietet die Moto Guzzi V85 TT einen wartungsarmen Kardanantrieb. Für Fahrer, die weite Strecken abseits asphaltierter Straßen zurücklegen wollen, ein wichtiger Faktor.
Fazit: Kein Zweifel, mit der V85 TT ist Moto Guzzi ein großer Wurf gelungen. Das Motorrad verhilft dem Adler aus Mandello del Lario sicherlich zu neuen Höhenflügen. Und spätestens für die EICMA in diesem Herbst wird die Präsentation einer weiteren V85-Variante erwartet.
Ausführungen: Die Moto Guzzi V85 TT ist selbstverständlich auch in einer 48 PS-Version für die entsprechende Führerscheinklasse erhältlich.
Moto Guzzi bietet das neue Modell in den Farben Blue Atlante (Blau), Grigio Atacama (Grau) und Rosso Vulcano (Rot) für 11.990 Euro inklusive Nebenkosten an. Diese Maschinen sind serienmäßig mit Metzeler-Reifen vom Typ Tourance Next ausgestattet. 12.300 Euro kosten die mehrfarbigen Ausführungen Giallo Sahara (gelb/weiß/rot) und Rosso Kalahari (rot/weiß). Bei diesen sind Michelin Anakee Adventure mit etwas gröberem Profil montiert und die Sitzbank verfügt über einen anderen Bezug.
Die lackierten Tankabdeckungen können übrigens relativ leicht ausgetauscht werden, falls man mal das Farbkleid wechseln möchte.
Zubehör: Moto Guzzi bietet für die V85 TT drei Zubehörpakete an.
Das Touring Pack besteht aus zwei Alu-Koffern (33/39 Liter) und einem Topcase (41 Liter) im beliebten Weltumrunderlook, einem größeren Windschild, Schutzbügeln, zwei LED-Zusatzlampen und einem Hauptständer.
Das Sport Adventure Pack setzt sich zusammen aus einem Arrow-Titanschalldämpfer, der 50 Prozent leichter sein soll als der originale Auspuff, einem voll einstellbaren Öhlins-Federbein, klappbaren Spiegeln und den Schutzbügeln.
Kunststoffkoffer mit Aluminiumblenden (28/37 Liter), Hauptständer und eine elektronische Antidiebstahlvorrichtung mit Fernbedienung hat Moto Guzzi zum Urban Pack zusammengefasst. In den rechten Koffer passt ein Integralhelm.
Außerdem gehört Moto Guzzi MIA, eine Schnittstelle zum Smartphone, bei den Packs Touring und Urban zum Lieferumfang. Mit dieser Erweiterung kann über die entsprechende App das neue TFT-Display auch als Navi mit Piktogrammangabe genutzt werden. Dazu gibt es diverse Kommunikationsfunktionen und Aufzeichnungsmöglichkeit der Fahrdaten.
Alle Vertragshändler sind angehalten, eine V85 TT als Vorführmotorrad für Probefahrten bereitzuhalten. Bei verschiedenen Veranstaltungen und auch im Internet kann man sich für Probefahrten anmelden. Diese Gelegenheit sollte man nutzen, um die neue Ära von Guzzi selbst zu erfahren – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hoffe, ihr seid genauso positiv überrascht, wie ich!
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Kommentare
4 Kommentare zu “Moto Guzzi V85 TT, Modell 2019”
Auch ich habe meine Stelvio 1200 gegen eine V85TT eingetauscht…. Es ist einfach ein Traum : sie läßt sich leichtfüßig fahren, vermisse keine Leistung, da 50Kg leichter als die Stelvio.
Heute habe ich eine Probefahrt gemacht. Und ich bin begeistert. Der Autor hat nicht übertrieben. Die v85tt paßt auf Anhieb und man möchte nicht mehr absteigen. Das Fahren macht einfach Spaß und sie ist super leicht zu bewegen. Meine California 2 wird im nächsten Jahr wohl Gesellschaft bekommen… 🙂
Ich bin Umsteiger von der Stelvio 8V, habe die V85 erst zwei Wochen und 500 km.
Bin sehr begeistert über das leichte Handling, fühle mich ausgesprochen wohl auf der V85. Die Leistung kann ich noch nicht bewerten, da noch im Einfahrmodus. Der erste Eindruck ist aber sehr gut.
Bei über 50 kg weniger gegenüber der Stelvio fühle ich bisher kein Defizit. Ich bin sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Eines hat der Autor vergessen: Allein der Brunftschrei aus Richtung Airbox ab 5.000 Umdrehungen ist schon ganz große Unterhaltung..😬