Vom Schnupperkurs zum Guzzi-Gespann
aus Kradblatt 12/24 von Andreas Thier

Prolog – Die Rechtskurve. Die Rechtskurve naht. Ich peile den Scheitelpunkt an und leite wie gewohnt die Richtungsänderung ein. In der Folge des nach vorne bewegten rechten Lenkerendes erwarte ich intuitiv die Schräglage nach rechts und das saubere Abzirkeln der gedachten Linie.
Die Schräglage bleibt aus, der Scheitelpunkt verschwindet aus dem Blickfeld, von Richtungsänderung keine Spur – nichts ist wie gewohnt. Die gedachte Linie verschwindet, das Asphaltband geht zu Ende.
Zum Glück ist der Verlauf des Asphaltbandes auch nur gedacht und lediglich mit hochmobilen, kleinen Hütchen begrenzt. Wir schreiben das Jahr 2008 und ich nehme an einem Gespann-Kurs teil. Die Versuchsfläche ist großzügig bemessen, so dass die Folge des Fehlers kein Schaden, sondern Erkenntnis ist. Erfahrung im ureigensten Sinne des Wortes.

Unvorbereitet. Mit zur Verfügung gestellten Gespannen, höchster Kompetenz und noch mehr geduldigem Einfühlungsvermögen, ermöglichen uns die Instrukteure diese wertvollen Erfahrungen. Mein eigenes neugieriges Interesse paart sich mit mangelnder Auseinandersetzung im Vorfeld des Kurses. Dass Fahrtechnik und -dynamik eine derart eigene Disziplin darstellen, erwischt mich unvorbereitet. Ich arbeitete mich dann dennoch tapfer durch den Kurs. Letztendlich gelingen mir die Fahr- und Bremsübungen und ich bin den Instrukteuren wirklich dankbar für ihre Geduld. Aber trotz aller Bemühungen will der Gespann-Funke nicht so wirklich überspringen.
Was blieb? Ein Feuer wurde damals nicht entfacht. Es blieb jedoch irgendwo ein kleines Glutnest. Das Gespann-Thema verfolgte ich nur beiläufig, eher aus allgemeinem Interesse. Jedenfalls bis 2019, als ich an der Rally „The Great Mile“ teilnahm. Von Lizard Point im äußersten Südwesten der britischen Insel ging es über schmale Landstraßen in den Norden bis nach John o’ Groats. Mit von der Partie unter rund einhundert Solomotorrädern, ein deutscher Teilnehmer mit seinem Triumph Gespann. Nicht weniger beeindruckend als das Gespann selbst, war seine souveräne Fahrweise.
Feuer gefangen. Aus der Glut von einst entwickelte sich ein loderndes Feuer. Von allgemeinem Interesse konnte nun keine Rede mehr sein.
Eine vage Idee wurde zum Projekt. Irgendwann standen die Eckdaten des Wunschgespannes fest: Kompakt, agil, flach, alltags- sowie tourentauglich und auch ohne Bootsbesatzung kurvenstabil. Bei der Wahl der Zugmaschine war ich im Grunde tolerant, solange es sich um eine Moto Guzzi handeln würde.

Gespann-Idee. Weitaus kniffeliger als die Erstellung eines Lastenheftes gestaltete sich die Wahl des Gespannbauers. Aus der engeren Wahl von drei uneingeschränkt Geeigneten, ging Alois Löw (Kirchham/Bayern) hervor, der nebenbei bemerkt auch das phantastische Triumph Gespann gebaut hatte.
Ziele sind Träume mit Termin (Ellen MacArthur, britische Einhandseglerin). Somit galt es nun meinem Traum Termine zu hinterlegen. Vertragsabschluss im Dezember, Überführung der Zugmaschine im April und Übernahme des Gespanns im August lautete von nun an das Ziel.

Vorbereitet. Damit nimmt die Sache nun ihren Lauf und ich kann im Grunde nichts weiter tun. Nein, nicht ganz. Schließlich will ich nicht unvorbereitet auf mein Gespann stoßen.
Möglichkeiten zum Trainieren ohne eigenes Gespann erweisen sich als rar und erfordern vom nördlichen Schleswig-Holstein ausgehend, lange Anreisen. Ich beschließe, mich einfach auf die damaligen Erfahrungen zu besinnen.
So kultiviere ich mir kleine Zeitfenster, in denen ich mich intensiv auf die Übungen des 2008er Kurses konzentriere. Vor allem auch auf die Übungen, die mir eher schwergefallen waren. Das mag nun etwas esoterisch klingen, aber ich habe einen gewissen Sporthintergrund, der mich derartige Vorbereitungen gelehrt hat.
Spannung. In jedem Fall steigt die Spannung. Ich bin mir sehr bewusst, dass sich meine Bezugsbasis letztendlich auf einen zweieinhalbtägigen Kurs beschränkt, der zudem Jahre zurück liegt. Robustes Können wird viele Erfahrungskilometer erfordern.
Zwischenzeitlich versorgt mich Alois Löw mit Fotos zum Baufortschritt. Ich bin begeistert. Aber wie wird sich das Gespann anfühlen? Wie wird es fahren? Freudige Nervosität macht sich breit.

Erlösung. Die erlösende Nachricht erreicht mich im Juli. Mein Gespann ist für Mitte August zur Übergabe vorgesehen.
Wie vereinbart bin ich dann vor Ort. Das Werkstatttor ist weit geöffnet. Die eindringenden Sonnenstrahlen lassen den Chrom bis nach draußen glitzern. Stolz präsentiert sich meine V7 mit ihrem neuen Anhang.
Freudige Begrüßung mit Alois Löw und dem Werkstattspezialisten Thomas Gruber. Ich bin hin und weg. Er schiebt die V7 mit ihrem Boot vor die Werkstatt, wo sie sich in Gänze bewundern lässt – zum Niederknien schön, kommt es mir in den Sinn und ich lächle nicht nur innerlich. Tief, breit und mit symbiotischer Verschmelzung von Boot und Maschine. Meine Erwartungen sind übertroffen.
Alois schenkt mir einen Augenblick der Einkehr. Andächtig streiche ich mit der Hand über den Tank der Maschine und über das Boot. Wir drei werden uns nun auf den kommenden 2.000 Kilometern intensiv mit miteinander beschäftigen und hoffentlich gut miteinander auskommen. Anschließend schnacken Alois und ich noch eine Weile und beenden dann die Übergabe.
Die Stimmigkeit des Erscheinungsbildes ist zweifellos gelungen. Offen ist die Frage, wie sich das Gespann nun fährt? Zwangsläufig denke ich an den britischen Sinnspruch: The proof of the pudding is in the eating. (Sinngemäß frei übersetzt: Die Bewährungsprobe einer Sache ist das Ausprobieren.)

Dann wird es ernst – und der Spaß beginnt. Helm auf, Handschuhe an und den V2 Motor zum Leben erweckt. Auf dem Werkstatthof drei Mal links und drei Mal rechtsherum im Kreis und eine Handvoll Bremsversuche müssen für ein erstes Fahrgefühl ausreichen. Es lenkt sich leicht, verhält sich agil und bremst geradeaus. Zudem steigt rechtsherum nicht gleich das Boot.

So starte ich zu meinen ersten Kilometern mit dem eigenen Gespann. Drei Tage will ich mich in der Region einfahren, bevor ich zur Überführung aufbreche.
Ich folge Wirtschaftswegen und kaum befahrenen Landstraßen und fahre sehr konzentriert, vor allem wenn es in spitzwinkelige Rechtskurven geht. Eine gehörige Portion Respekt ist mit an Bord und natürlich läuft längst noch nicht alles rund. Hin und wieder hole ich auch mal tief Luft, bin aber keineswegs verkrampft. Dazu gibt es auch überhaupt keinen Grund, denn das Gespann liegt richtig gut in der Hand und auf der Straße. Das kann auch ich als Anfänger klar sagen.
Bereits am zweiten Tag dehne ich meine Runde deutlich aus und genieße wie auch am dritten Tag die Voralpenlandschaft mit den wunderbar dreidimensional geschwungenen Wegen und Landstraßen zwischen Bad Füssing, Chiemsee und dem Mattsee in Österreich. Selbst schmale Serpentinenwege bringen mich nicht aus der Ruhe. Mit etwas Konzentration bleibt alles unter Kontrolle und ich freue mich wie Bolle.
Roadmovie. Die Überführungsreise ist von großer Gelassenheit und Leichtigkeit geprägt. Das Zeitfenster ist ausreichend, meine Zeltausrüstung macht mich frei und unabhängig, mit meiner Fahrpraxis traue ich mir die Reise zu, die Großwetterlage verspricht für mindestens eine Woche Sonnenschein und noch nie war das morgendliche Verstauen der Ausrüstung so einfach.
Ich folge keiner festen Route, sondern eher groben Richtungen, die mich über Landstraßen und Wirtschaftswege durch Gegenden Deutschlands führen, die mir bislang unbekannt waren.

Den Bayrischen Wald durchfahre ich so weit östlich, dass ich eigentlich schon im Böhmerwald bin. Viel Wald, weite Mittelgebirgslandschaften, ländliche Räume und hin und wieder ein Dorf. Die V7 verbraucht hier im Landstraßenbetrieb rund 4,7 Liter Benzin auf einhundert Kilometer. In Kombination mit dem 21 Liter Tank kann man wirklich von Reichweite sprechen.
Im Fichtelgebirge stoße ich auf historische Zeugnisse bergbaulicher Aktivitäten. Als Kind des Ruhrgebietes mit familiären Wurzeln im Steinkohlenbergbau lässt mich das natürlich nicht kalt. Bereits seit dem frühen Mittelalter wurden hier Erze abgebaut.
Über wirklich schmale Wege gelange ich durch einen Zipfel Tschechiens ins Erzgebirge und folge mehr oder weniger dem Kamm, mal auf der deutschen, mal auf der tschechischen Seite. Dabei habe ich die Gelegenheit die Unterschiede der Lebensverhältnisse wahrzunehmen.
Das Erzgebirge im Speziellen und Sachsen im Allgemeinen nehmen mich schnell ein. Die Tradition von Bergbau und Technik sowie nicht zuletzt die Zweitaktzweiradkultur begeistern mich. Und auch die wanderbaren Landschaften fordern unbedingtes Wiederkommen. In einem Boot findet sich ja schließlich auch locker Platz für Wanderstiefel.
Das alles wirkt wie die langsam vorbeiziehende Kulisse eines Roadmovies. Urbane Hektik, dicht getaktete To-do-Listen, Hast zum Entspannungsyoga scheinen hier ohnehin unbekannt.
Ganz besonders sind die Begegnungen. Zufallsbegegnungen. Begegnungen an einem beliebigen Punkt im Verlauf der Straße, der Reise, des Lebens: Ein Pausen-Marktplatz inmitten von Fachwerkhäusern. Vater und Tochter beim Eisessen. Er ist wohl schon in den Achtzigern. Sie saß als Kind beim Papa im Beiwagen. Papa fuhr ein Dienst-MZ-Gespann. Ganz persönliche Geschichten werden erzählt.

Vormittags an einer modernen Tankstelle in einer Kleinstadt im deutschen Teil des Erzgebirges. Ich bin der einzige Kunde und möchte eigentlich nur meine Tankfüllung bezahlen. „Was für ein schönes Motorrad! Was fährst Du alleine?“, fragt mich die aus Tschechien stammende, wirklich nette Kassiererin mit einem Lächeln. „Da musst Du jemand mitnehmen.“ „Öhm, ich habe aber schon ein paar Sachen geladen“, stammle ich, wahrscheinlich überrascht durch ihre Offensive. „Macht nix. Lädst Du aus, kommst Du zurück. Um 12:00 habe ich Feierabend, zwinkert sie mir zu.“ Aber ich bin leider auf der Durchreise, versuche ich mich zu retten. Wenn sie jetzt geantwortet hätte, macht nix, ich wollte hier schon immer weg, dann wäre es wohl die perfekte Roadmovie-Szene gewesen. Wir lachen beide herzlich. Sie gibt einen Automatenkaffee aus. Ich bin noch immer der einzige Kunde. Wir plaudern unbeschwert über das Leben. Und irgendwie ist es doch ein Roadmovie.
Zufallsbegegnungen mit Lebensgeschichten, die unvoreingenommen ausgetauscht werden. Auch das ist Reisen. Mir scheint, Gespanne allgemein und vielleicht klassisch erscheinende im Besonderen, sind nicht nur bei Menschen mit persönlichen Gespannerfahrungen sehr positiv besetzt. Auch Menschen ganz ohne eigene Bezugspunkte kommen über das Gespann mit mir ins Gespräch. Es sind zahlreiche Gespräche im Verlauf der Reise. Und besonders intensive haben bleibende Wirkung auf mich. Niemals hätte ich ein Motorradgespann mit derartigen kommunikativen Effekten in Verbindung gebracht.
Nicht nur landschaftlich ist dieser Teil der Reise kaum zu übertreffen. Im Anschluss einer Visite in Dresden folge ich mehr oder weniger der Elbe bis in den Norden.
Epilog – Die Rechtskurve. Die Rechtskurve naht. Ich peile den Scheitelpunkt an. Das Körpergewicht ist zum Kurveninneren verlagert. Die aktive und direkte Einlenkbewegung steuert das V7-Gespann exakt entlang der gewünschten Linie. Es ist eine rechtwinkelige Rechtskurve einer schmalen, schleswig-holsteinischen Landstraße. Ich fahre sie täglich auf dem Heimweg von der Arbeit. Der Knickbewuchs und die historische Kate im Kurveninneren erinnern an britische Kulissen. Ich lächle zufrieden – nicht nur in Erinnerung an The Great Mile, sondern vor allem wegen des intensiven Gespann-Kurvenspaßes. Wer hätte das 2008 gedacht?
Und wie war das jetzt mit dem Pudding? Während diese Zeilen entstehen, habe ich über 11.000 Gespannkilometer hinter mir. Das Gespann ist überlegt konstruiert. Es ist kompakt, agil, flach und hat die Lizenz zum Kurvenräubern. Also ich sag mal: Der Pudding ist gegessen – und für richtig gut befunden.
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