aus Kradblatt 5/22, von Konstantin Winkler

Das Sonnenputzmittel

Moto Guzzi V35 / V50
Die kleine Guzzi macht auch in den Alpen viel Spaß

Für Udo Lindenberg war die Sache im Jahr 1974 klar: „Hey Baby, steig auf, lass uns nach Las Vegas, die Sonne putzen!“ Sein Cowboy-Rocker fuhr Moto Guzzi. 

Heute will die Sonne immer noch geputzt werden. Statt nach Nevada geht es aber nach Südtirol. Und als Sonnenputzmittel habe ich die V 35 gewählt. Der 90-Grad-V-Motor mit längs eingebauter Kurbelwelle hat bei Moto Guzzi ebenso Tradition wie der Boxermotor bei BMW. Mit der V 35 und der V 50 wurde 1977 die sogenannte kleine Baureihe präsentiert. Das Triebwerk hat, wie die legendäre V 7, einen Stoßstangenmotor mit gewaltiger Schwungmasse. Die betagte Zweizylinder-Konstruktion ist technisch solide. 1979 folgten dann die sportlichen Ableger V 35 Imola und V 50 Monza. Die vom Werk angegebenen 33 PS für die 350er und die knapp 50 PS für die nahezu baugleiche 500er erwiesen sich jedoch als reichlich optimistisch.

Moto Guzzi V35 - Anfahrt zum Stilfser Joch
Anfahrt zum Stilfser Joch

Motorräder wie die V 35 sucht man nur selten gezielt. Meistens laufen sie einem einfach nur über den Weg. Und mit der Zeit wächst dann die Zuneigung. So war es bei mir. 

Patina, wohin das Auge schaut. Sie bezeugt, dass sie nie eine Restauration benötigte. Lediglich der schwache 350er Motor wurde mal gegen den 500er ausgetauscht. Also die besten Voraussetzungen, mit der Guzzi ihre alte Heimat Italien zu erkunden.

So rustikal die Technik ist, so zuverlässig funktioniert sie auch. Benzinhahn auf, Choke am linken Zylinder betätigen und nach ein paar Anlasserumdrehungen wartet der V-Motor mit kernigem Sound auf Arbeit. Wenn er die bekommt, beginnt die ingeniöse Mechanik Stoßstange, Kipphebel, Stoßstange, Kipphebel … ihr virtuoses Spiel. 

Der Motor hängt sauber am Gas und dreht mühelos hoch – wenn es sein muss, bis 7.500 Umdrehungen pro Minute. Dabei zieht er die klare Bergluft durch die Vergaser.

Moto Guzzi V35 - Passo di Stelvio
Es müssen nicht immer BigBikes sein

Herbst in Südtirol. Für mich die schönste Zeit, um in den Bergen Motorrad zu fahren. Es ist meist sonnig bei noch milden Temperaturen und die herbstlich-bunten Weinberge bilden einen hübschen Kontrast zu den verschneiten Gipfeln im Hintergrund. 

Vor uns liegt der höchste Pass Italiens, das 2.758 Meter hohe Stilfser Joch. Fahrspaß pur! Die 50 Pferdestärken fühlen sich mächtig an. Anfänglich führen die Kurven und Spitzkehren durch dichten Wald und schon bald hat man freie Sicht auf das Ortler-Massiv und dessen Gletschereis. 

Italo-Treffen in Bormio
Italo-Treffen in Bormio

Man spürt, dass Motorradfahren in den 1970er Jahren noch deutlich erlebnisorientierter war als heute. Sehr lang sind die Schaltwege des Fünfgang-Getriebes. Eine gut trainierte Fußspitze erleichtert das Hochschalten. Besonders der letzte Gang rastet bisweilen sehr unwillig ein. Die Lastwechselreaktionen des Kardans halten sich in Grenzen.

Es ist eine ungewöhnliche Truppe italienischer Oldtimer-Enthusiasten, die ich auf dem Weg zur Passhöhe kennenlerne. Ducati, Vespa-Roller und Fiat 500 werden meine Begleiter durch die insgesamt 48 Spitzkehren. Die kleine Moto Guzzi ist Dank ihres niedrigen Schwerpunktes und nur 175 Kilo Leergewicht wunderbar zu händeln. Noch nie hat mir das Fahren auf dieser extremen Bergstrecke so viel Spaß gemacht. Auch bergab!

Moto Guzzi V35 - Klassisches Cockpit der 1970er
Klassisches Cockpit der 1970er

Seit 1975 verbaute man in Mandello del Lario am Comer See das sogenannte Integral-Bremssystem, bei dem eine Scheibe des Vorderrades und die des Hinterrades mit dem Fußbremshebel betätigt werden. Die zweite vordere Scheibenbremse wird mit dem Handbremshebel bedient. Funktioniert perfekt. Sowohl in der norddeutschen Tief­ebene als auch in den Alpen.

 Es gibt nicht viele Motorräder, die so ein grandioses Fahrerlebnis versprechen, wenn man zur richtigen Zeit auf der richtigen Straße unterwegs ist. 

Es gibt viele Orte in Italien, an denen die Zeit stillsteht. Die Leute am Straßenrand lächeln und winken. Sie denken an die alten Zeiten, als die Motorräder noch spartanisch waren. Wo auch immer die kleine Guzzi auftaucht, wird sie bewundert. Liegt es an der schlanken Formgebung oder ist es die Verbindung von klassischer Einfachheit und dem Charakter des V- Motors? 

Es gibt einige Motorräder, denen ewige Jugend beschieden ist. Die Moto Guzzi-Modelle V 35 und V 50 gehören dazu. Noch heute wirken sie frisch und elegant. Das Besondere: Auch ohne Hund kommt man mit fremden Menschen ins Gespräch. Und das nicht nur in Südtirol.