aus bma 9/12
von Klaus Herder

Moto Guzzi Stelvio 1200 8V Modell 2012Ist es vermessen, ein vollgetankt 282 Kilogramm wiegendes Dickschiff ausgerechnet nach einem der fahrerisch anspruchsvollsten, mit 48 sehr spitzen Spitzkehren gespickten Alpenpass zu benennen, dem Stilfser Joch (italienisch: „Passo dello Stelvio“)? Ist es nicht, doch dazu später mehr. Der Reihe nach…

Zu einem Zeitpunkt, als BMW allein von der R 1200 GS weltweit über 30.000 Exemplare pro Jahr verkaufen konnte, brachte es Moto Guzzi auf eine komplette Jahresproduktion von unter 10.000 Motorrädern. Die Ende 2004 durch den Piaggio-Konzern erfolgte Übernahme hatte dem Hersteller aus Mandello del Lario zwar – etwas salopp gesagt – wirtschaftlich erst einmal den Arsch gerettet, doch es war abzusehen, dass mit der x-ten Kosmetik-Aktion nach dem Motto „Uralt-Technik in aufgehübschter Verpackung“ auf Dauer kein Staat mehr zu machen war. Was also sollte man tun?

Mit dem brandneuen Straßenfeger Griso 8V hatten die Italiener ab 2007 endlich ein auch technisch neues Eisen im Feuer. Der neu konstruierte und 110 PS leistende 1200er-Vierventil-Vauzwo drängte sich geradezu auf, um auch in einem der wichtigsten europäischen Marktsegmente, nämlich dem der großen Reise-Enduros, mitzumischen. Bei den Stichworten „Vierventiler“ und „Enduro“ stellten sich aber sogar bei den überzeugtesten Guzzisti die Nackenhaare auf, denn in beiden Bereichen hatten sich die Italiener bislang nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die drei von Moto Guzzi bisher gebauten Zweizylinder-Offroadmodelle, als da waren TT 350, NTX 650/750 und natürlich die Quota, gehörten nicht unbedingt zur Kategorie „Bestseller“ – vorsichtig formuliert. Und auch der alte, nie wirklich konkurrenzfähige 1000er-Vierventiler aus seligen Daytona-Zeiten gehörte nicht wirklich zur Kategorie „Meilensteine“.

Moto Guzzi Stelvio 1200 8V Modell 2012Eine Kombination aus zwei Flops der Guzzi-Historie – was sollte daraus wohl werden. Natürlich ein neuer Flop. Zumindest anfangs, denn die im Herbst 2007 vorgestellte Stelvio machte zwar auf dem Papier und im Verkaufsraum eine richtig gute Figur, schwächelte aber ausgerechnet dort, wo stollenbereifte Dickschiffe unbedingt abliefern müssen, um erfolgreich zu sein: im unteren und mittleren Drehzahlbereich. Da half es nur wenig, dass der neue Quattrovalvole-Motor praktisch eine Neukonstruktion darstellte – Moto Guzzi sprach von 563 neuen Teilen, was fast 80 Prozent der Gesamtkonstruktion ausmachte. Der luft-/ölgekühlte, exakt 1151 cm³ große und 63,8 Kilogramm schwere 90-Grad-V-Motor kam im Drehzahlkeller einfach nicht aus dem Quark, zwischen 3000 und 5000 Touren war die ganz große Depression angesagt, erst darüber ging’s munter zur Sache. Dafür aber gönnte sich der V-Twin bei etwas flotterer Gangart gern ein Schlückchen mehr, was dem Stelvio-Treiber in Zusammenhang mit dem etwas unterdimensionierten 18-Liter-Tank alle 200 Kilometer eine Tankpause bescherte. Übermäßig viele Reisende wird das allerdings nicht gestört haben, denn Zulassungszahlen im untersten dreistelligen Bereich machten die Stelvio hierzulande nicht gerade zum Bestseller. Die etwas lässige Verarbeitung mancher Details und eine ziemlich großzügige Serienstreuung in Sachen Motorleistung machten die Sache nicht unbedingt besser.

Moto Guzzi Stelvio 1200 8V Modell 2012Ein gelungener Arbeitsplatz mit tollem Wind- und Wetterschutz, eine saubequeme Sitzposition für Fahrer und Sozius sowie das hervorragend gelungene Fahrwerk samt überraschend guter Handlichkeit standen dafür auf der Haben-Seite. Zu viele Pluspunkte also, um die Stelvio einfach so im Modell-Nirwana der Guzzi-Historie verschwinden zu lassen, die Fuhre hatte eine zweite Chance verdient. Also machten sich die Guzzi-Techniker flott ans Werk und verpassten dem etwas flügellahmen Reise-Moppel im März 2009 eine geänderte Airbox, neue Nockenwellen mit anderen Steuerzeiten und ein Software-Update. Von den ursprünglich angekündigten 110 PS waren mittlerweile 105 übrig geblieben, die Überarbeitung bescherte der Stelvio dafür aber 113 statt 108 Nm maximales Drehmoment, welches auch schon bei 5800 und nicht erst bei 6500/min auf die Kurbelwelle geschaufelt wird. Das tiefe Drehmomenttal wurde damit zur nur noch dezent spürbaren Senke, doch richtig gut war irgendwie anders. Besonders dann, wenn ein Wettbewerber BMW R 1200 GS heißt und weitere Konkurrentinnen wie Yamaha Super Ténéré und Honda Crosstourer bereits mit den Hufen scharren.

Also bekam die Stelvio 2011 eine weitere Frischzellenkur spendiert: Neue Ventile und Nockenwellen, ein größerer Ölkühler, eine modifizierte Auspuffanlage sowie eine optimierte Abstimmung sorgen seitdem dafür, dass das Leistungsloch-Thema nun endlich vergessen ist. Das Verbrauchs-Thema ging Moto Guzzi richtig offensiv an: Ein 32- anstelle des 18-Liter-Tanks bescherte der Stelvio bei halbwegs artgerechter Gangart eine Reichweite von deutlich über 450 Kilometern. Das große Fass integrierten die Techniker recht unauffällig, eine neue Verkleidung mit dem werkzeug- und stufenlos verstellbarem Windschild macht’s möglich. Guss- statt Drahtspeichenräder für das Basismodell Stelvio 8V und ein schmaleres Hinterrad (150er statt 180er) machen die sehr wirkungsvolle Modellpflege komplett.

Moto Guzzi Stelvio 1200 8V Modell 2012 CockpitBereits seit 2009 treten unter dem Oberbegriff Stelvio zwei Modelle an: Die bereits erwähnte (und in diesem Fahrbericht behandelte) Stelvio 1200 8V für 14290 Euro und ihre deutlich martialischer antretende Fernreiseschwester Stelvio 1200 NTX (16190 Euro). Die NTX bietet ab Werk zusätzlich einen Alu-Motorschutz, Stahlrohr-Schutzbügel für Krümmer und Zylinder, zwei Zusatz-Scheinwerfer, Kunststoff-Handprotektoren und schwarz eloxierte 37-Liter-Alukoffer mit Klappdeckel. Außerdem rollt die NTX auf Drahtspeichen- statt Gussrädern, und sie wiegt rund 15 Kilogramm mehr als die Basis-Stelvio. ABS und Traktionskontrolle, beides für den ambitionierten Geländebetrieb abschaltbar, sowie Hauptständer sind bei beiden Stelvios serienmäßig.

Der Guzzi-Vierventiler erwacht mit freudigem Beben zum Leben. Wer im Stand an der Kordel zieht, kann beobachten, wie sich die Wuchtbrumme aus der Mittellage erst nach rechts und dann nach links neigt – die längs liegende Kurbelwelle ist dafür verantwortlich. Der überarbeitete und ziemlich fette Auspuff tönt derweil herrlich bassig, und fröhlich tickern die je vier Ventile in den Zylinderköpfen. Weich und doch sehr nachdrücklich setzt sich der Sechs-Zentner-Brocken in Fahrt. Die sechs Gänge rasten butterweich und exakt, die nicht gerade übertrieben kurzen Schaltwege passen gut zu grobem Schuhwerk in Größe 48. In Sachen Kupplungshandkraft sind auf Dauer ebenfalls eher Eisenbiegerpranken als Klavierspielerhände gefragt. Wer die Starkgreifer nicht mitbringt, kommt mit dem strammen Teil nach etwas Eingewöhnung aber auch klar und darf die Arbeit am verstellbaren Handhebel als Gratis-Trainingsprogramm für bislang unterforderte Körperpartien betrachten. Was man auch durchaus gern tut, denn die Unterbringung ist ansonsten absolut tadellos und auch auf sehr langen Etappen äußerst bequem. Übertrieben häufige Schaltarbeit ist ohnehin nicht angesagt, denn dank ihrer recht kurzen Gesamtübersetzung zieht die Stelvio auch bei eher schaltfauler Fahrweise ordentlich durch.

Moto Guzzi Stelvio NTX 1200 8V Modell 2012Vom lästigen Leistungseinbruch ab 3000/min ist praktisch nichts mehr zu spüren, wer die Erstauflage nicht kennt, wird kaum glauben können, dass es überhaupt jemals Probleme im unteren und mittleren Drehzahlbereich gegeben hat. Die neue Abstimmung ist gelungen und erfordert nun wirklich keine Nacharbeit mehr. An der Tatsache, dass die Guzzi eher etwas höhere als sehr niedrige Drehzahlen mag, hat sich aber nichts geändert. Bummeln unter 4000/min geht schon, doch wer es richtig dynamisch mag, sollte mindestens 4500/min auf dem Drehzahlmesser angezeigt bekommen. Da erwacht die in Schwarz, Weiß und Orange lieferbare Stelvio 1200 8V so richtig zum Leben und überrascht mit einer für diese Gewichtsklasse sensationellen Handlichkeit. Es ist kaum zu glauben, wie leicht der Koloss abklappt, wie präzise und neutral er in Schräglage bleibt und wie wenig er sich von Fahrbahnverwerfungen irritieren lässt.

Moto Guzzi Stelvio 1200 8V Modell 2012Die Stelvio macht immer genau das, was ihr Fahrer von ihr verlangt. Kein fieses Aufstellen, kein Versetzen, kein Pumpen – die Fuhre wuselt einfach sehr locker durchs Winkelwerk, bleibt dabei immer berechenbar, bittet dafür allerdings darum, dass die ganze Sache immer schön unter Zug geschieht. Wer von einer BMW auf die Guzzi umsteigt, wird sofort sehr gut klarkommen und wundert sich allenfalls darüber, dass auch andere Hersteller einen Kardan mit gut funktionierender Momentabstützung verbauen können – ein durch engagierte Gasgriffarbeit verursachtes Auf und Ab gibt es auf der Stelvio einfach nicht. Das Fahrstuhlfahren überlässt sie anderen. Gute Fahrwerke hat Moto Guzzi ja eigentlich schon immer gebaut, doch nun merkt man der Konstruktion auch im Detail an, dass bei der Entwicklung nicht nur Motorrad-Enthusiasten, sondern auch hervorragende Techniker am Werke waren. Die Zugehörigkeit zur Piaggio-Gruppe und das Know-how der Aprilia-Entwicklungsingenieure haben der Stelvio spürbar gut getan. Das gilt auch und besonders für die Abstimmung der Brembo-Stopper: Fein dosierbar, sehr transparent und auf Wunsch sehr, sehr kräftig ankern die ABS-bestückten Bremsen.

Wer partout etwas zu meckern finden möchte, kann sich über einen Ölpeilstab (statt Schauglas), über den billigen Plastikschützer für die Ölwanne oder über die fehlende Ganganzeige im vom Lenker aus bedienbaren Bordcomputer mokieren – Kleinkram! Wenn es an einer Moto Guzzi (!) nicht wesentlich mehr zu nörgeln gibt, müssen fast schon paradiesische Zeiten angebrochen sein. Okay, einen haben wir noch: Zumindest beim Rangieren merkt man der Guzzi an, dass sie doch mächtig Übergewicht mit sich herumschleppt. Ihr kleiner Wendekreis, der große Lenkeinschlag und das kinderleichte Aufbocken auf den serienmäßigen Hauptständer relativieren die Kilo-Kritik dann aber auch schon wieder etwas. Außerdem ist es viel entscheidender, wie sich die vielleicht beste Guzzi aller Zeiten dort benimmt, wo abgeliefert werden muss. Zum Beispiel in den Alpen. Zum Beispiel am Stilfser Joch. Klares Urteil dazu: tadellos. Und mit einem ungeheuren Spaß-Faktor. Die Stelvio ist der Geheimtipp für alle, die keine GS wollen, aber trotzdem nicht auf einen Motor mit „Charakter“ verzichten wollen. Und bevor wir es noch vergessen: Sie trägt ihren Namen völlig zu Recht.