aus bma 5/11 – Fahrbericht

von Felix Hasselbrink

Moto Guzzi Norge GT8V Modell 2011Einer der ältesten Motorradhersteller der Welt feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag: Moto Guzzi wird 90 Jahre alt. 1921 gründeten Carlo Guzzi und Giorgio Parodi die Firma Moto Guzzi mit Sitz am Comer See in Norditalien und bauten zuerst mehrere Modelle mit Starrrahmen. 1927 präsentierte man das erste Motorrad mit Hinterradfederung. Aber damals waren die Käufer skeptisch, ob diese Konstruktion stabil genug wäre, um sich im Alltag zu bewähren. Also machte sich Giuseppe Guzzi, der große Bruder von Carlo, mit der Moto Guzzi Gran Tourismo von Norditalien aus auf die Reise zum Polarkreis in Norwegen und zurück, um die Standfestigkeit der Konstruktion zu beweisen. Diese Fahrt über immerhin 4.000 Kilometer, zur damaligen Zeit sicher ein Abenteuer, bescherte dem Motorrad den Spitznamen „Norge“.

Auch heute hat Moto Guzzi ein Modell namens Norge im Programm. Seit 2007 bieten die Italiener diese Tourenmaschine an. Jetzt wurde das Motorrad überarbeitet und erhielt unter anderem den Vierventil-Motor aus der Griso mit deutlich mehr Leistung und ein strafferes Fahrwerk. So wurde aus der Norge 1200 die Norge GT 8V. Für das Jubiläumsjahr bekam der Reisedampfer aber mehr als nur ein paar Modifikationen: Laut Hersteller sollen 80 Prozent aller Bauteile entweder neu oder überarbeitet sein. Anfang April wurde die Presse zum ersten Fahrtermin nach Italien eingeladen.

Moto Guzzi Norge GT8V Modell 2011In edlem Weiß lackiert stehen die Motorräder vor dem Hotel und warten darauf, uns überzeugen zu dürfen. Die helle La­ckierung lässt die Maschinen leicht wirken, die 257 Kilo Trockengewicht sieht man ihnen so nicht an. Aber beim Rangieren vor der Abfahrt merkt man schon, dass man es nicht mit einem Leichtgewicht zu tun hat. Doch der große Lenkeinschlag sowie der breite Lenker erleichtern das Wenden. Aufi gehts.

Relativ leicht lässt sich die Norge durch den Florentiner Stadtverkehr Richtung Berge dirigieren. Im unteren Drehzahlbereich läuft der Twin nicht ganz rund, aber das liegt vielleicht daran, dass er sich noch in der Kaltlaufphase befindet. Schnell haben wir die Stadtgrenze passiert, und die kurvige Straße führt uns hinauf in die Hügel der Toskana. Die Norge überrascht mit guter Handlichkeit, fast schon leichtfüßig lässt sich die Maschine durch die Biegungen zirkeln, und auch kleine Serpentinen sind einfach zu meistern. Wechselkurven durcheilt sie ohne großen Kraftaufwand. Entspanntes Gleiten durch die italienische Landschaft ist angesagt.

Bequem throne ich hinter der Verkleidung und genieße den guten Windschutz. Die Scheibe lässt sich elektrisch in der Höhe verstellen. In der niedrigsten Stufe wird es etwas laut am Helm, in der höchsten Stellung fühle ich mich auch bei geöffnetem Visier wie in Abrahams Schoß. Der Lenker liegt gut in der Hand, die Sitzbank bietet viel Platz, und die Instrumente, deren Positionierung geändert wurde (etwas höher und dichter am Fahrer), lassen sich prima ablesen. Was mich etwas stört, sind die hohen Fußrasten und der daraus resultierende, enge Kniewinkel – eher sportlich als tourenmäßig. Außerdem stoßen die Knie beim starken Bremsen gegen die neuen Plastikabdeckungen über den Zylinderköpfen.

Moto Guzzi hat die Verkleidung im Windkanal komplett überarbeitet mit zwei Zielen: Als erstes sollte der Windschutz für Fahrer und Passagier verbessert werden. Als zweites hat man sich bemüht, den Fahrer vor der Wärmeabstrahlung des Motors zu schützen. Und gerade dafür sollen diese Plastikabdeckungen gut sein. Optisch verdecken sie einen Teil der Ventildeckel sowie die Ansaugstutzen und sind sicher Geschmackssache.

Moto Guzzi Norge GT8V Modell 2011Überhaupt ist von dem luftgekühlten V2, dem Erkennungsmerkmal jeder modernen Guzzi, außer den Ventildeckeln nicht mehr viel zu sehen. Dafür ist die Verkleidung so ausgeschnitten, dass die doppelwandigen Krümmer gut zur Geltung kommen. Eng schmiegt sich das Plastikkleid um den Motor. Im Verkleidungskiel befindet sich ein neuer Ölkühler mit elektrischem Lüfter, und für ein symmetrisches Erscheinungsbild sorgen die vier Ellipsoid-Scheinwerfer und zwei Standlichtbirnen.

Bereits das Vorgängermodell verfügte über 1.151 Kubikzentimeter aus zwei Zylindern, musste sich aber mit zwei Ventilen pro Brennraum begnügen. Der aktuellen Norge spendierte man den Vierventil-Motor aus der Griso. Das steigert die Motorleistung von 93 PS bei 7.250 U/min auf 102 PS bereits bei 7.000 U/min. Mit 104 Nm bei 5.500 U/min ist auch das Drehmoment etwas gewachsen. Das reduziert den Leistungsunterschied zum Konkurrenzmodell aus Bayern, der BMW R 1200 RT, deutlich. Der Motor hängt sauber am Gas, läuft für einen großen Twin sehr kultiviert und gibt die Leistung linear und unspektakulär ab. Vom Drehmomentloch, unter dem die ersten Vierventilmodelle aus Mandello del Lario noch litten, ist nichts mehr zu spüren.

Moto Guzzi Norge GT8V Modell 2011 CockpitIn jedem Krümmer befindet sich eine Lambdasonde und versorgt das Motormanagement mit den entsprechenden Daten, um für die Zylinder das Gemisch separat berechnen zu können.

Das Sechsganggetriebe lässt sich leicht und exakt schalten. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen die Guzzi-Schaltboxen etwas störrisch waren und sich leise Gangwechsel nur mit Zwischengas realisieren ließen. Lediglich die Betätigung der neuen Einscheibenkupplung könnte etwas leichtgängiger sein. Keinen Grund zur Klage bietet der wartungsfreie Endantrieb mit Momentabstützung zur Reduzierung der Lastwechselreaktionen.

Für die Federung haben die Ingenieure eine komplett neue Abstimmung, die etwas straffer als vorher ist, erarbeitet. Bei der voll einstellbaren Gabel ist ihnen eine Punktlandung gelungen. Auf diesen Straßen mit einigen Unebenheiten arbeitet die konventionelle Telegabel sehr gut. Die Hinterradfederung empfinde ich jedoch als etwas zu weich. Hier kann man über eine gut zu erreichende Schlitzschraube am unteren Ende des Stoßdämpfers die Zugstufendämpfung den eigenen Bedürfnissen anpassen. Noch einfacher lässt sich die Federbasis mittels eines Handrads einstellen. Dieses versteckt sich ­jedoch hinter einer kleinen ­Plas­­­tik­abdeckung, die man erst entfernen muss, was aber ohne Werkzeug geht.

Hinter einer weiteren Einsteckklappe mit Schnellverschluss befindet sich der Ölmessstab für die schnelle Schmierstoffkontrolle. Um die Maschine hierfür auf den Hauptständer zu stellen, benötigt man ein wenig Kraft.

Moto Guzzi Norge GT8V Modell 2011Neben der Mittelstütze und dem elektrisch verstellbaren Windschild gehören ein Bordcomputer, Heizgriffe mit drei Stufenschaltung, verstellbare Handhebel sowie zwei Seitenkoffer zur Serienausstattung. Es ist also schon fast alles dabei, was man für eine Motorradreise benötigt. Und selbstverständlich ist ein ABS der neuesten Generation an Bord, wie es sich für eine sichere Reisemaschine gehört.

Bei starkem Bremsen und gleichzeitigem Hinunterschalten merke ich ein paarmal, wie das abschaltbare ABS am Hinterrad sanft eingreift. Dort ist ein Doppelkolbenschwimmsattel an der Einarmschwinge verschraubt und sorgt für ordentliche Verzögerung.

Die Hauptaufgabe bei der Geschwindigkeitsreduzierung leis­ten aber die beiden Brembo-Vierkolbensättel am Vorderrad. Hier werden zwei große, 320 Millimeter messende Bremsscheiben in die Zange genommen. Auch bei einer Gewaltbremsung bleibt der Dampfer auf Kurs. Wenn man kräftig den Anker werfen will, muss man schon beherzt zugreifen, bei normalen Bremsungen reichen zwei Finger, um sauber dosiert zum Stehen zu kommen.

Die serienmäßigen Koffer lassen sich etwas umständlich bedienen, bieten aber viel Platz. Unter der großen Sitzbank befinden sich zusätzlicher Stauraum sowie eine Bordsteckdose.

Als Zubehör bietet Moto Guzzi eine Gelsitzbank an, welche die Sitzhöhe von 810 auf 780 Millimeter verringert. Außerdem ist ein Topcase in Fahrzeugfarbe erhältlich.

Seit der Übernahme von Moto Guzzi durch Aprilia im Jahre 2000 und der Integration in den Piaggio-Konzern Ende 2004 hat sich die Verarbeitungsqualität deutlich gesteigert. Aber in Details gibt es immer noch Verbesserungspotential, was zum Beispiel die Passgenauigkeit mancher Bauteile oder die Spaltmaße der Verkleidung angeht.

Mit der Norge hat Moto Guzzi ein komfortables Reisemotorrad auf die Beine gestellt. Die bequeme Sitzbank und der große Tank mit einem Fassungsvermögen von 23 Litern erlauben sicherlich lange Reiseetappen. Von Florenz bis nach Norwegen benötigt man bei einer Reichweite von knapp 400 Kilometern nur wenige Tankstops. Aber wir müssen die Motorräder leider heute wieder zurückgeben.

Die Norge GT 8V ist ab sofort bei den Moto Guzzi-Händlern in den Farben Schwarz, Silber und Weiß zum Preis von 15.500 Euro erhältlich.

Der Mutterkonzern Piaggio will in den nächsten Jahren mehrere Millionen Euro in das Moto Guzzi-Werk zur Modernisierung investieren. Außerdem ist geplant, das bisherige Museum aus der Fabrik auszugliedern. Man will in Mandello del Lario ein neues, größeres Museum mit längeren Öffnungszeiten einrichten. Zur Zeit ist das Museum ja nur eine Stunde pro Tag geöffnet.

Aber erst einmal gilt es, den 90-jährigen Geburtstag zu feiern. Hierzu werden vom 16. bis 18. September tausende Guzzis-Fans aus aller Welt am Comer See erwartet.