aus bma 01/06

von Klaus Herder

Moto Guzzi GrisoNein, dieses Motorrad hat nichts mit einem kleinen, niedlichen Drachen zu tun. Das Kerlchen, das Sie meinen, wird am Ende mit „u” geschrieben. „Griso” mit „o” ist eine Figur aus dem Werk „I Promessi Sposi” des italienischen Schriftstellers Alessandro Manzoni. Den müssen Sie nicht unbedingt kennen, die Moto Guzzi Griso sollten Sie als Freund des kernigen Landstraßensurfens aber unbedingt kennen lernen. Doch dazu später mehr, hier und jetzt ein paar Worte zur Namensfindung: „I Promesi Sposi” spielt am Comer See. Der Böse im Stück heißt Don Rodrigo. Und nun raten Sie mal, wie der treuste und wagemutigste Leibwächter dieses unglaublich bösen Adeligen heißt. Genau: Griso. Dieser Griso arbeitet also praktisch für die Mächte der Finsternis, ist aber eigentlich ein ganz netter Typ, fast schon ein Guter. So, und weil Moto Guzzis Firmensitz nun mal in Mandello del Lario und damit praktisch am Comer See liegt, heißt der böseste V-Twin, der in den letzten 20 Jahren die etwas altersschwachen Guzzihallen verlassen hat, Griso.
Auf der Intermot 2002 in München war die Griso das erste Mal zu sehen. Damals noch als Studie und mit dem Vierventilmotor der glücklosen Daytona. Eine Studie! Und dann ausgerechnet auch noch von Moto Guzzi – einem Hersteller, der damals wirtschaftlich ähnlich erfolgreich wie Simson war. Jeder, der auch nur im Entferntesten ein Herz für Muscle Bikes hatte, fand die Griso richtig klasse. Daran geglaubt, daß das scharfe Gerät jemals den Weg zu den Moto Guzzi-Händlern finden würde, hat eigentlich niemand.

 

Doch seit 2002 ist in Mandello del Lario eine Menge passiert. Aprilia, der damalige Guzzi-Eigner, ging pleite und wurde Ende 2004 vom Piaggio-Konzern geschluckt. Seitdem haben die Verantwortlichen wohl kapiert, daß Moto Guzzi nur als eigenständige Firma überleben kann, die nicht nur x-mal aufgehübschte Uralt-Modelle im Programm hat, sondern auch regelmäßig Neuentwicklungen präsentiert. Tja, und so kam es glücklicherweise zur Griso als Serienmodell. Seit Oktober 2005 gibt’s sie für 11.990 Euro inklusive Nebenkosten ganz offiziell zu kaufen.
Moto Guzzi GrisoDas atemberaubende Design der Studie blieb gottlob unangetastet. Für Vortrieb sorgt nun aber nicht mehr der eher unbefriedigende Vierventiler, sondern Moto Guzzis jüngste Zweiventiler-Kreation, der 1100er-Motor, der auch in der großen Breva Dienst tut. Der luftgekühlte 90-Grad-V-Motor trägt seine Lichtmaschine nicht mehr vor sich her. Das E-Werk sitzt nun nicht mehr auf dem Kurbelwellenstumpf, sondern zwischen den beiden Zylindern. Der Ölkühler ist platzsparend unterm rechten Zylinder montiert. Zum einen schuf das alles vier Zentimeter Platz, um die der Motor nach vorn wandern konnte (was unter anderem Platz für die Fahrer-knie schuf). Zum anderen blieb noch genügend Raum, um der Griso zwei doppelwandige und damit unterarmdicke Auspuffkrümmer zu spendieren. Die Zwei-in-eins Anlage endet in einem Schalldämpfer, der dem der Yamaha Road Star Warrior – und damit dem bislang fettesten Topf – mächtig Konkurrenz macht. Den Abschluß des unglaublich dicken Dings bildet ein Endstück, das schwer nach Turbinenschaufel aussieht. Guzzisti mit Geschichtskenntnissen merken jetzt auf. Richtig, da war doch was: Moto Guzzi nahm 1950 als erster Motorradhersteller der Welt einen eigenen Windkanal in Betrieb. Und der hatte genau so eine Schaufel.
Bei dieser Moto Guzzi braucht das Auge viel Zeit, um sich an jeder Menge Design satt zu sehen. Weitere Blickfänge sind der breite Brückenrahmen aus Stahl und die gewaltige Einarmschwinge aus Aluminium. Alles zusammen wirkt unglaublich flach und extrem langgestreckt. 1545 Millimeter Radstand sprechen für sich. Zum Vergleich: Die Räder eines handelsüblichen Supersportlers stehen rund 15 Zentimeter dichter zusammen. Die 800 Millimeter Sitzhöhe lassen ebenfalls das Schlimmste befürchten, aber bereits die erste Sitzprobe macht klar, daß die Griso bei aller Flachheit nichts Cruisermäßiges an sich hat, von einer gehörigen Portion Coolness einmal abgesehen. Der recht bodennah untergebrachte Fahrer muß sich mächtig über den 17-Liter-Kunsstofftank strecken, um an den breiten, konifizierten Stahlrohrlenker zu gelangen. Der Kniewinkel fällt sportlich spitz aus, die recht straff gepolsterte Sitzbank bietet dem Fahrer ausreichend Platz, für einen Sozius wird’s aber mächtig eng. Direkt im Blickfeld liegt eine Kombination aus klassischem Analog- Drehzahl- messer und modernem Digital-Mäusekino. Der gut ablesbare Minicomputer gibt auf Knopfdruck Informationen über Benzinverbrauch, Außentemperatur, Bordspannung, Uhrzeit und bietet zudem zwei Tageskilometerzähler. Beide Handhebel lassen sich verstellen, der Umgang mit der hydraulisch betätigten Trockenkupplung fällt auch sensiblen Klavierspielerhänden leicht. Die Rücksicht in den Spiegeln ist perfekt, etwas verwirrend wirkt höchstens die Anordnung des Blinkerschalters unterhalb der Hupenbetätigung, doch nach zwei, drei ungewollt lauteren Touren hat man sich daran gewöhnt. Der Seitenständer sitzt ziemlich weit vorn, für kurzbeinige Griso-Fahrer ist das Teil eine echte Herausforderung.
Moto Guzzi Griso Die Choke-Fummelei entfällt, denn die von einer Weber-Marelli-Einspritzanlage befeuerte Guzzi erledigt die Kaltstartprozedur vollautomatisch. So mächtig der Auspuff aussieht, so gedämpft bassig klingt das, was dem Riesenrohr entweicht. Etwas mehr Sound-Engineering hätte es dann schon sein dürfen. Das typische Guzzi-Gefühl gibt’s trotzdem, denn mit jedem herzhaften Gasstoß geht zwar kein Ruck durch Deutschland, aber immerhin rechtswärts durchs Fahrwerk, der längs liegenden Kurbelwelle sei Dank. Bereits ab Leerlaufdrehzahl legt der Twin unglaublich gleichmäßig los. Die Gasannahme ist herrlich direkt, ab 2000 U/min sitzt auch spürbar Druck dahinter. Richtig Bumms aus dem Drehzahlkeller hatten V2-Guzzis entgegen landläufiger Meinung noch nie, die Griso macht da keine Ausnahme. Ihre 88 PS liegen erst bei 7600 U/min an. Eine hubraum- und leistungsmäßig vergleichbare BMW R 1150 R benötigt knapp 1000 Umdrehungen weniger. Schwächlich wirkt der Griso-Auftritt trotzdem nicht. Ganz im Gegenteil: Die sehr homogene Leistungsabgabe und das vorbildliche Ansprechen auf Gasgriffbefehle sorgen dafür, daß der Griso-Antrieb eine unglaubliche Souveränität ausstrahlt. Doch Lässigkeit hat bei ihr nichts mit Lahmheit zu tun. Wer es wissen will, steppt etwas mehr im leicht, aber nicht immer leise und exakt zu schaltenden Sechsganggetriebe. Die Gänge sind deutlich kürzer als bei der motormäßig weitgehend baugleichen Breva und damit perfekt übersetzt. Wer die Drehzahlmessernadel etwas über die 6000er-Marke treibt, ist im Bereich des maximalen Drehmoments (89 Nm bei 6400 U/min) unterwegs. Und genau diesen Bereich liebt die Griso. Wer möchte, läßt die Kurbelwelle noch locker und willig bis zum Beginn des roten Bereichs bei 8000 U/min rotieren, 500 Umdrehungen später greift der Drehzahlbegrenzer ein.
Bei der lustvollen Jagd durchs Drehzahlband stellt sich der Griso nichts und niemand in den Weg. Da gibt es kein Ruckeln, keine Durchhänger, und auch der Kardan spielt artig mit. Aufstellmoment und Lastwechselreaktionen? Fehlanzeige, völlig neutral und absolut berechenbar geht es mit der Griso ums Eck und geradeaus. Halt, da war noch was: 1545 Millimeter Radstand, wir erinnern uns. Das Länge geradeaus gut läuft, wissen wir. Aber wie läuft’s im Winkelwerk? Bestens, denn was nach Cruiser aussieht, läßt sich wie ein gut abgestimmtes Naked Bike ohne großen Aufwand um Kurven aller Art schwenken. Natürlich läßt einen die Griso spüren, daß da ein ausgewachsenes und vollgetankt immerhin 243 Kilogramm schweres Motorrad bewegt wird, ein Fahrrad fährt anders um die Kurve. Übermäßig viel Körpereinsatz braucht es aber nicht, um mit der Guzzi sauber einzulenken. Anfangs ungewohnt wirkt allerdings die Sitzposition, denn der breite Rahmen sorgt für eine weit gespreizte Beinhaltung, der klassische Knieschluß läßt sich auf der Griso kaum realisieren. Doch das ist wirklich nur eine Gewöhnungsfrage, und unbequem wird es wirklich nur auf sehr langen Touren.
Moto Guzzi Griso CockpitDie kommen aber vielleicht schneller als man glaubt, denn die Griso ist ein Kostverächter. Selbst bei flotter Landstraßen-Gangart hält sich der Spritverbrauch mit unter fünf Litern Super in erstaunlich geringen Grenzen. Nonstop-Touren von über 300 Kilometern sind also durchaus machbar. Vollgas auf der Autobahn bringt etwas über 200 km/h und kostet knapp sieben Liter auf 100 Kilometer. Spaß macht das aus verständlichen Gründen nicht, doch bis um die 160 km/h hält sich der Winddruck auf den leicht vornübergebeugt sitzenden Fahrer in erträglichen Grenzen. Es darf mit der Griso also durchaus sportlich zur Sache gehen, und dabei spielen die in der Grundabstimmung eher straff daherkommenden Federelemente, die vorn wie hinten mächtig zupackenden Brembo-Stopper und auch die fast schon übertrieben wirkende „Metzeler Rennsport”-Bereifung prächtig mit. Eine zumindest fernab der Rennstrecke gegen Unendlich tendierende Schräglagenfreiheit überrascht ebenfalls angenehm. Die mächtige Upside-down-Gabel und das Zentralfederbein sind übrigens voll verstellbar, bereits geringes Zurückfahren der Dämpfung sorgt für angenehmen Tourensport-Komfort.
Die in Rot, Gelb, Hellblau und natürlich in bösem Schwarz lieferbare Griso ist ein auch in Details (Lampenfassung, Tankdeckel etc.) sehr liebevoll gemachtes Designerstück, das sehr gut aussieht und sich noch viel besser fährt. Die wilde Mischung aus Power-Cruiser, Naked Bike und Sportler spricht direkt Bauch und Herz an. Die gute Verarbeitung, die völlig problemlose Bedienung und das jederzeit gut berechenbare Fahrverhalten sind auch etwas für Vernunftmenschen. Die Griso bietet das spektakulärste Design und den besten Motor der jüngeren Guzzi-Geschichte. Und sie hat es verdient, daß sich auch bisherige Nicht-Guzzifahrer zumindest eine Probefahrt gönnen. Danach ist in Sachen Griso alles möglich.