aus Kradblatt 6/20 von Sabine Deutscher

10.000 Kurven und ganz nah am Himmel …

Sabine in Indien - Spiti Valley

Der Monsun dauert lange in diesem Jahr. Ende September prasselt noch immer dichter Regen über Stadt und Land und lässt die Straßen schnell zur Matschlandschaft werden. Doch er hat die Umgebung verändert – war es im Mai noch unerträglich heiß, die Farbe von Himmel, Luft und Erde nicht zu unterscheiden, gleichmäßig rötlich braun, so ist nun alles in frisches sattes Grün getaucht. Die Felder wiegen sich im Wind und die Luft ist klar. Sogar über Delhi zeigt sich ab und zu der blaue Himmel. 

Die Reise geht mit der legendären Royal Enfield Bullet 500 nach Nordwesten, von Delhi über Chandigarh und Shimla durch die wilde karge Hoch­ebene des Spiti Valley, hoch oben am Rande der 7-Tausender des Himalayas, über den Kunzum und Rohtang Pass hinunter ins grüne Kullu Valley. 

Wir folgen der einzigen Hauptverkehrs­ader, die durch die Felsen der mächtigen Berge geschlagen wurde, steil über dem Abgrund, in engen Serpentinen immer höher hinauf, bis auf 3500 m, Apfelplantagen und Ackerbau, danach nur noch Felsen, Steine, Geröll, Staub und der Himmel zum Greifen nahe. 

Reisebericht Indien - Spiti Valley

Die Straßen gleichen oft einem schlecht befestigten Feldweg, einem Flussbett mit großen rundgewaschenen Steinen, die es einem schwer machen die Spur zu halten. Von den steilen Abhängen rauschen Bäche, manchmal kleine Flüsse über den Weg. Das Geröll, welches das Wasser mitnimmt, schlägt tiefe Löcher in die Strecke, reißt ganze Stücke mit in die Tiefe oder versperrt den Weg. Dann räumen im besten Fall ein Bagger oder ein Schaufellader das Hindernis beiseite bzw. den Abhang hinunter. 

Ganz Indien scheint eine einzige Straßenbaustelle zu sein. Die wenigen guten Asphaltstücke, welche die vielen fleißigen Straßenarbeiter/innen in Handarbeit und ohne Arbeitshandschuhe erstellen, gleichen innerhalb kürzester Zeit wieder einem Trümmerfeld, denn der gesamte Schwertransport an Gütern ist auf 4 Rädern unterwegs. Eine Baustelle wird nicht abgesperrt, sondern es wird bei fließendem Verkehr gebaut und gleich hinter der Dampfwalze wird wieder gefahren, dadurch ist die Haltbarkeit mehr als begrenzt. Wind und Wetter, Steine und Wasser tun ihr Übriges.

Reisebericht Indien - Spiti Valley Auffällig viele Frauen arbeiten im Straßenbau. Oftmals mit kleinsten Kindern, die sie im Tuch auf dem Rücken tragen, schleppen sie schwere Metallschalen mit Schotter und Zement auf dem Kopf, sitzen in der prallen Sonne und zerkleinern große Steine zu Schottersteinen oder kehren mit gebeugtem Rücken die endlosen Straßen.

Es wird viel getan für die Verbesserung der Verbindungswege. Wie bei uns in den 70er Jahren wird dem Individualverkehr alles geopfert – steht ein Haus im Weg wird es kurzentschlossen abgerissen oder zumindest die Zimmer auf seiner Vorderseite, Hänge werden abgegraben für eine breitere Spur, auch wenn der restliche Berg die große Mauer bereits bedenklich nach vorne drückt und spätestens der nächste Monsun sie umwerfen wird – nachhaltige Verkehrs- und Straßenplanung sieht anders aus. 

Das erste Ziel ist Shimla, eine Hillstation in den grünen Hügeln auf 2100 m Höhe. Shimla ist die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Himachal Pradesh. Anfang 1800 nahmen die Briten das damalige Shyamala in Besitz und machten es zu ihrer Sommerresidenz in luftiger Höhe. Geplant für 5000 Einwohner umfasst das heutige Einzugsgebiet an die 5 Mio. Menschen und die Stadt selbst an die 200.000 Einwohner. Viele der einstmals herrschaftlichen britischen Villen sind baufällig und könnten ohne weiteres einem Alfred Hitchcock Film als Kulisse dienen.

Reisebericht Indien - Spiti Valley

Die Fahrt geht weiter über Sarahan, Kalpa, Nako nach Kaza. 

Geprägt sind die kleinen Orte vom Einfluss des tibetischen Buddhismus. Teilweise sind es nur 20 km Luftlinie bis Tibet und entsprechend auffällig ist die militärische Präsenz. Überall wehen zahllose Gebetsfähnchen und der Wind trägt das „om mani padme hum“ hinaus in die Welt. 

Indien wäre nicht Indien, wenn man nicht einen Plan B zur Hand haben sollte, wenn die Hauptstraße nach Sarahan gesperrt ist. Nach einem langen Tag auf dem Motorrad ist die Ersatzstrecke ein elender steiler, steiniger und matschiger Trampelpfad, der Fahrerin und Maschine so einiges abverlangt. Der aus Holz und Stein gebaute Bhimakali Tempel erhebt sich in der Mitte von Sarahan, und seine Erweiterungsbauten werden im traditionellen Baustil erstellt. Auch hier viele Frauen, die die schweren Lasten auf dem Kopf zur Baustelle tragen. 

Weiter geht es am Satluj Fluss entlang, auf immer enger und schlechter werdenden Straßen, hoch oben in die Felswand gefräst. Der feine Glimmer der Berge schwirrt bei den Baustellen durch die Luft und bedeckt alles mit einem glitzernden Staub. In den engen Tälern wird Strom aus der Kraft des Wassers gewonnen, und der Schiefer des Hima­layas dient als Ziegel für die Häuser.

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Kalpa, ein malerischer Ort in Kinnaur, einem der zwölf Distrikte des indischen Bundesstaates Himachal Pradesh, bietet einen traumhaften Blick auf den Kinner Kailash und eine ganze Menge anderer Sechstausender. Umgeben von duftenden Wäldern riecht die Luft nach Himalaya Zeder und Kiefer und immer wieder süßlich nach der Lieblingspflanze des Shiva, Hanf. So manches Mal trifft man auf alte Frauen in traditioneller Kleidung, die die Blätter vom Strauch streifen und zwischen den Handflächen reiben als natürliches Schmerzmittel bei steifen Gelenken.

Eine Fahrt nach Lippa, einem kleinen Dorf in der Nähe fällt auf halber Strecke aus, denn die Straße ist zum Teil weggebrochen. Es ist gut einen erfahrenen Guide zur Seite zu haben, denn auch wenn die Fahrt möglich wäre, beim kurz darauf beginnenden Regen ist die Tour lebensgefährlich. Abdul, der viele Jahre als Bergführer auf den Siebentausendern des Himalayas unterwegs war, riecht wahrscheinlich den Regen, bevor ihn irgendjemand auch nur erahnen kann. Dafür gibt es noch einen Abstecher zum „suicide point“. Hier stürzt der Fels in einer Kurve 1500 m hinab ins Flusstal – Absperrung gibt es keine …

Entlang des Spiti Flusses in Richtung Nako, immer höher hinauf in die Kaltwüste von Spiti. Nun ist ein „innerline permit“ erforderlich, ohne das man sich hier nicht bewegen kann und das an den Kontrollstellen akribisch geprüft wird. Nako liegt auf 3600 m und die Straße hinauf ist ein Genuss. Schleife um Schleife, Kurve um Kurve windet sich das Band hinauf durch die steinige Umgebung.

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Die Berge ringsherum sind von der Sonne in 1000 verschiedene Ockertöne getaucht, und die Luft ist dünn. Eng schmiegen sich die niedrigen Steinhäuser von Nako aneinander und der Ausblick vom Hügel mit der großen Gebetstrommel hinein ins Spiti Valley ist sensationell. Die Nächte sind kalt und oftmals schlaflos, der Körper ist die Höhe nicht gewohnt, und der Geist schickt verrückte Träume und Gedanken. Hier oben weichen die kargen Berge nach rechts und links, der Spiti fließt spärlich durch sein viel zu breites Bett und die Abhänge vermitteln den Eindruck, dass der Wind den Fels zu Staub macht. Unendliche Geröllhalden, schroffe Felsspitzen und feiner Staub prägen das hohe weite Tal, irgendwann wird er abgetragen sein der hohe Himalaya, fein zermahlen und dann davongeweht.

Kaza liegt ebenfalls auf über 3600 m und ist ein guter Ausgangspunkt für Ausflüge in die Umgebung. Spektakulär ist das nahe Kloster Kee. Auf einem kleinen Hügel thront es weiß leuchtend. Im Augenblick sind 150 Mönche im Kloster untergebracht, der jüngste Schüler ist 6 Jahre alt. Der Weg hinauf ist steil, und so freut sich der Mönch, dass er hinten auf dem Motorrad Platz nehmen kann, um den anstrengenden Fußweg abzukürzen. Schön, eine Fahrt mit einem Mönch, der die Mala durch die Finger gleiten lässt und ein Mantra rezitiert. Es ist hier wie in einer anderen Welt. Berge, Steine, der Spiti im Tal, und das einzige, was zu einem dringt, ist das Geräusch des Windes und das Flattern der Gebetsfahnen. 

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Die Klöster des Spiti Tals werden alle 3 Jahre vom Dalai Lama besucht, und so findet man in allen Hallen Bilder seiner Heiligkeit.

Was gibt es Schöneres, als den Tag mit einer Meditation und Yoga auf dem Hoteldach zu beginnen? Kalt ist es, denn die Sonne hat es noch nicht über die Berghänge ins Tal geschafft. Der Himmel ist strahlend blau, die Luft klar und so rein, dass die Augen tränen. Pünktlich zum surya namaskar, dem yogischen Sonnengruß, ist auch die Sonne da und erwärmt rasch die Umgebung und die Haut – om sūryāya namah.

Die Dörfer im Hochtal sind klein und die Häuser im tibetischen Stil erbaut. Trutzig, rechteckig, weiß gekalkt mit dunkelroten Balken und Verzierungen. Auf den flachen Dächern trocknen die Bewohner das spärliche Grün für die Kühe, Ziegen und Yaks. Selbst hier oben gibt es Äpfel aus denen leckerer Saft entsteht und Aprikosen und Mandelkerne, die zu Öl gepresst werden. Die Menschen tragen die typische Kleidung der Tibeter, die Frauen lange bunte Schürzen und Männer wie Frauen auf dem Kopf die gefilzten Kappen aus Wolle.

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Eindeutiger Höhepunkt sind die Pässe, Kunzum La und der Rohtang La. Eine ganz besondere Herausforderung ist der Kunzum Pass mit seinen 4551 m. Der Großteil der Strecke wird stehend bewältigt. Offroad oder besser gesagt Steine, Matsch und Wasser bestimmen den Weg und das Tempo. Hier lernt der Motorradfahrer Achtsamkeit. Kein Blick nach rechts und links, nur die Orientierung auf die nächsten 3 m vor dem Vorderrad, ganz im hier und jetzt. Links der Abgrund, auf dem Weg unsagbar tiefe Schlaglöcher, die aus dem Nichts auftauchen, ebenso wie die großen Lastwagen, die urplötzlich vor einem stehen und zum Anhalten zwingen. Und zwischendurch das Atmen nicht vergessen, tief einatmen und tief wieder ausatmen. Wie ging das Mantra vom Mönch? Om mani padme hum …

Reisebericht Indien - Spiti Valley Die Passhöhe des Kunzum belohnt mit einem fantastischen Blick auf hohe, schneebedeckte Berge, ein kurzes Innehalten beim Drehen der Gebetsmühlen – om mani padme hum. Immer wieder trifft man auf andere Motorradfahrer. In Gruppen oder auch allein sind sie unterwegs, wie der junge österreichische Medizinstudent, der ein halbes Jahr im Krankenhaus in Dharamsala gearbeitet hat und nun mit der Enfield Himalayan über die Berge fährt. Nach 180 km und 8 Stunden auf dem Motorrad ist der Körper am Ende und der Schlaf tief und fest.

Der Rohtang Pass ist nach dieser Pass­überquerung fast ein Kinderspiel. Die Auffahrt ist allerdings noch übersät von Baustellen. Tiefe Spurrillen im Matsch zwingen das Motorrad in der Spur zu bleiben; möglichst nicht bremsen und keine hektischen Lenkbewegungen – trotzdem hüpft es über einen Stein im Untergrund in eine neue Rille, der riesige Lastwagen kommt immer näher und dann springt auch noch der Gang raus und die Maschine bleibt 2 m vor dem Laster stehen. Lächeln, tief durchatmen, neu starten und versuchen ohne Sturz den lächelnden Lastwagenfahrer und sein Vehikel zu passieren. Doch dann geht es auf brauchbarem Asphalt flott voran, die Passhöhe ist rasch erreicht und die Fahrt hinunter bis Manali könnte nicht schöner sein. Eine Kurve nach der anderen lassen die Enfield tanzen und einen selbst alle Strapazen der letzten Stunden vergessen.

Reisebericht Indien - Spiti Valley Die grünen Hügel um Manali, die kleinen schiefergedeckten Holzhäuser von Naggar, das alles erinnert an Bergdörfer im Wallis oder den französischen Seealpen. In der angenehmen warmen und feuchten Umgebung gedeiht Obst und Gemüse in Hülle und Fülle.

Es gibt nicht viele Tunnel in den Bergen, doch einer reicht durchaus, um sich ein Bild davon zu machen. Dunkel und stickig ist es, auch die Lastwagen oft nur spärlich oder gar nicht beleuchtet. Schemenhaft tauchen Fahrzeuge vor einem auf und man fühlt sich wie in Moria, im Reich der Zwerge, es fehlt nur der Drache. Es ist eine Erlösung, wenn einen nach knapp 3 km die Helligkeit wieder empfängt. 

Rewalsar, ein vom tibetischen Buddhismus geprägter Pilgerort, dessen Häuser und Tempel sich um einen kleinen See drängen, mit seiner 37,5 m hohen Statue des Padmasambhava, der über die Bewohner wacht, ist das Ziel einer kurvenreichen Fahrt durch nicht enden wollende grüne Hügel. Der Duft von Räucherstäbchen liegt in der Luft, und aus den Tempeln dringt das gleichmäßige Rezitieren der Mönche, die Blatt um Blatt aus den alten Texten lesen. Alte Frauen sitzen am Boden im Hof, drehen die Gebetsmühlen in ihren Händen und murmeln ihr Mantra. Es ist ein schöner Platz, um sich langsam von Indien und seinen Menschen zu verabschieden.

Reisebericht Indien - Spiti Valley

Es hat sich in Indien einiges verändert in den letzten Jahren. Es ist sauberer geworden auf den Straßen – ob es an den neuen Abfallbehältern liegt, die in jedem noch so kleinen Ort aufgestellt werden? Spannend auch die Meldung der plastiktütenfreien Stadt Delhi. Auch wenn es ein guter Ansatz ist, in die Realität ist dies bislang noch nicht so ganz durchgedrungen. Allein auf der Zugfahrt nach Delhi haben wir beim Frühstück eine gefühlte Tonne Müll durch einzeln eingepackte Miniportionen produziert. Wie schön war es, als noch der Chai Wallah durch den Zug ging und jeder seinen Metallbecher für den Tee dabeihatte. Es gibt sie hoffentlich noch lange, die kleinen Haushaltswarenläden in denen Tins in jeder Größe und für jeden Einsatz in der Küche angeboten werden. Einige Bundesstaaten sind bereits auf einem sehr guten Weg und praktizieren Plastikvermeidung vorbildlich mit Tüten aus Zeitungspapier und deutlich weniger Müll in der Landschaft. Und das kleine Sikkim im Norden Indiens mausert sich zum Bio-Land, in dem chemische Dünger und Pestizide verboten sind. 

Die Reise endet dort wo sie begonnen hat, im schwül warmen Delhi. Laut und quirlig, chaotisch und irgendwie trotzdem geordnet bewegt sich alles nach einem ungeschriebenen Gesetz – alles fließt.

Reiseinfo …
Geführte Reisen in Indien bietet seit vielen Jahren der Reiseveranstalter Wheel of India aus 29640 Schneverdingen. Die 2020er Termine stehen dabei z. T. unter Vorbehalt aufgrund der Corona-Pandemie, Reisen für 2021 können aber auch schon gebucht werden. Alle Infos gibt es stets aktuell unter Telefon 05193-519191 sowie online unter www.WheelOfIndia.de.