aus Kradblatt 07/22 von Alexander Krützfeldt, www.thewild.de

Unfreiwillige ohne Navi durch die Dunkelheit …

Im Februar-Kradblatt berichtete Alexander über seinen Weg zum B196-Führerschein, dem prüfungslosen Einstieg in die Motorrad-Welt. Seitdem sammelt er mit seiner 125er Brixton Erfahrungen, an die wir alten Hasen und Häsinnen uns schon gar nicht mehr erinnern …

Auf gehts, ist ja nicht so weit …
Auf gehts, ist ja nicht so weit …

Ich will also nach Soltau. Das kündigt sich an einem Mittwochmorgen an, als ein Freund mir erzählt, er sei zufällig gerade in Soltau, was nicht so weit ist wie Berlin, und ich denke: Fahr einfach hin. Für jede Freundschaft, die man länger führen möchte, ist es sicher von Vorteil, wenn man sich mal persönlich gesehen hat. Was in den letzten beiden Jahren wegen Corona erschwert war.

Bis Soltau sind es 50 Kilometer, und es geht überwiegend durch dichte Wälder, die alles Licht schlucken, und über Landstraßen, die ich nie zuvor gefahren bin. Doch statt jetzt das Auto zu nehmen, kam ich auf eine wunderbare Idee: Nimm einfach das Motorrad!

Jetzt, wo ich das aufschreibe und am Schreibtisch sitze, leuchtet mir das auch nicht mehr ein. Es wäre mindestens die sichere Variante gewesen, garantiert aber die wärmere.

Eine derart lange Fahrt hatte ich bisher nie gemacht und ich besitze auch kein Navi fürs Motorrad. Weil es so stark rüttelt auf meiner 125er, dass ich schlicht Angst hätte – und es gibt sicher noch effektivere Varianten, sein Handy zu verlieren unterwegs.

Gegen späten Nachmittag setze ich mich also auf das Bike, starte den Motor, schiebe mein Sonnenvisier herunter und machte mich bereit für eine Fahrt ins vollständig Ungewisse (Soltau). Den Weg hatte ich mir vorher über Google Maps angesehen. Ich bin zwar recht sicher, dass ich ihn sofort wieder vergessen würde, aber es gibt ja Leute, die sagen, wenn man sonst immer alles mit dem Navi macht, verlernt man das Orientieren (beispielsweise am Sonnenstand). Und ich kann mir auch vorstellen, dass das zutrifft, bin auch bereit, denke ich, während ich den Motorradständer wegklappe, diese Frage einem ausführlichen Praxistest zu unterziehen.

Läuft - dank B196 mit der 125er auch auf zwei Rädern mobil
Läuft – dank B196 mit der 125er auch auf zwei Rädern mobil

Die Hinfahrt verläuft blendend. Ich knattere über die Felder und verfahre mich einige Male. Mehrfach muss ich aufs Handy schauen, wenn die Wegschilder nichts hergeben, aber ich beschränke mich auf die groben Himmelsrichtungen, denn ich habe ja Zeit. Unterwegs sind wirklich ausgesprochen viele Wälder, und an den Seiten aufgeschichtete Baumstämme, und Häuser, die aussehen, als wohnten kleine Försterinnen und Förster darin, und Rehe springen kokett vor mir über die Straße.

Eins bleibt in einer 50er-Zone neben der Fahrbahn stehen und sieht mich an und ich stelle zum Gruß, ich trage ja mein schwarzes Visier und will es nicht ängstigen, eine Hand gerade in die Luft und es knittert mit dem rechten Ohr.

Im Prinzip sind alle Dörfer um Soltau herum ausgeschildert, nur Soltau nicht. Als Soltau unmittelbar bevorstehen muss, jedenfalls meiner Meinung nach, weist nur ein derart kleines Schild darauf hin, dass daneben auch gleich eines für einen Unfallschwerpunkt gehört. Ich gehe komplett in die Eisen. Glücklicherweise ist hinter mir frei.

Ich kenne hier nur den Heide-Park, aber auch den nur noch aus meiner Kindheit, weshalb ich kurz schockiert bin, als ich am Stadtschild vorbeifahre. Soltau begrüßt mich wie Diepholz. Menschenleer und völlig am Ende. Die Fußgängerzone sieht aus, als hätte das Architekturbüro räumlich versucht, seine Depression abzubilden. Ich parke das Motorrad vor einer Pizzeria, die „Pizza Garten“ heißt, aber keinen Garten hat, und klappe den Ständer auf.

Links oder rechts? Und wo bin ich überhaupt?
Links oder rechts? Und wo bin ich überhaupt?

Der Abend ist schön. Ich esse eine Pizza Mafia mit scharfen Peperoni. Wir quatschen, über die Welt, die prekäre Arbeit von Journalist*innen, und die Fußgängerzone um uns herum leert sich weiter, je dunkler es wird, bis sie am Ende aussieht, als habe dort nie Leben existiert. Der Chef des Ladens kommt an den Tisch. Er schlägt die Hände zusammen und sagt, es täte ihm leid; er müsse Feierabend machen. Wir zeigen Verständnis und geben artig Trinkgeld.

„Und du musst echt noch eine Stunde zurück“, fragt Dirk und ich nicke und sehe prüfend in die Finsternis und sage: „Eher anderthalb Stunden.“ Beim Gedanke daran erfasst mich eine innere Unruhe, und kleine Tiere krabbeln über meinen Unterarm, weshalb ich erschaudere. „Schreib bitte mal, wenn du gut angekommen bist?“, sagt Dirk zum Abschied. Wir hatten uns mit der Faust begrüßt, nun verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung.

„Ja“, sage ich und klappe den Ständer zurück. Dirk wird immer kleiner im Rückspiegel und noch bevor ich die Stadt verlasse, auf Höhe eines geschlossenen Einkaufszentrums, in dem die Einkaufswagen in den Garagen warten, überkommen mich selbst leise Zweifel. Hatte er es nicht so gesagt, als hielte er das selbst – selbst als Autofahrer – für unmöglich?

Handy raus, ich bin irgendwie lost …
Handy raus, ich bin irgendwie lost …

Ich halte an dem Parkplatz an und muss kurz durchatmen. Ich kann kaum mein Tachometer in der Dunkelheit erkennen. Meine Augen sind müde. Mir ist kalt. Die Aussicht auf eine warme Decke kommt mir unendlich weit weg vor.

Eigentlich ist es ganz einfach
Eigentlich ist es ganz einfach

Ich fahre über menschenleere Straßen und das Licht der Laternen sickert über meinen Benzintank wie Quecksilber. Die erste Abbiegung nehme ich zuverlässig falsch, und auch die zweite. Verden ist nicht ausgeschildert, nur Bad Fallingbostel, und ich denke, die Hexe hat Hänsel und Gretel auch auf der Höhe von Bad Fallingbostel aufgesammelt. Mir fällt die Anekdote ein, wie super-gruselig es bei Nachtfahrten mit dem Auto ist, wenn man sehr lange still fährt und dann ganz plötzlich Deutschlandfunk Kultur anmacht. Hänsel und Gretel und der Deutschlandfunk. Ich beschließe, ein Hotelzimmer zu nehmen, falls mich die Not in Bad Fallingbostel nicht weiterfahren lässt. Stelle mir das lange Gesicht eines Mannes im Schein einer Kerze vor.

Als ich aus der Stadt raus bin, erfasst mich die Dunkelheit mit festem Griff. Ich sehe buchstäblich die Hand vor Augen nicht, Ich fahre vorsorglich nur noch sechzig oder siebzig. Der Gegenverkehr blendet mich, ich beschließe aus Nicht-Sicht-Gründen, das Fernlicht einzuschalten. Mit der normalen Funzel ist nichts mehr zu erkennen. Warum dürfen Motorräder eigentlich kein richtiges Licht haben; ob es erlaubt wäre, zusätzliche Seitenscheinwerfer einzubauen, beispielsweise von einer Flak? Kann das jetzt, mitten im Dunklen, allein auf der Landstraße, leider auch nicht abschließend klären. Selbst das Handy ist kaum sichtbar, wenn ich anhalte und es aus der Tasche ziehe. So müde sind meine Augen.

Mittlerweile ist mir auch so kalt, dass ich Angst habe, dass meine verkrampften Finger den Lenker unterwegs von allein loslassen könnten. Sage mir, so eine Scheiß­idee wirst du bitte nie wieder haben, traue mir diesbezüglich aber auch nur begrenzt.

Ich werde es schaffen!
Ich werde es schaffen!

Nach zwanzig Minuten passiere ich das viel zu kleine Schild Richtung Soltau und fühle mich verhöhnt. Bin ich nicht längst viel länger unterwegs? Bin ich überhaupt unterwegs? Drehe ich die Erde durch die Drehung meiner Motorradräder mit? Es folgt ein langer, schlauchförmiger Wald und an den Seiten leuchten blau die Begrenzungsstreifen in der Nacht. LKW schlafen an den Seiten, im roten Schimmer der Lampions in den Bordellwagen.

Im Wald tauchen merkwürdige Häuser auf. Ich überlege, ob es die Häuser von der Hinfahrt sind, während der Wind mir unterhalb des Helms in die einzig freie Stelle am Hals schneidet, die mein Schal nicht bedeckt. Oder ob sie jemand ausgetauscht haben könnte. Wirkten sie auf dem Hinweg so friedlich, wirken sie jetzt, als würde man dort keinesfalls halten wollen, um zu klopfen, weil man beispielsweise eine Panne hätte. Ihre Dächer wirken so schief, und sie sehen aus, als wuchsen Kannibalen darin, im violetten Licht einer Pilzaufzuchtslampe.

In den Wäldern bis Visselhövede glitzert es an den Seiten, und ich bin unschlüssig. Sind das jetzt Rehe oder Leute in Windbreakerjacken, Signalstreifen am Helm, die neben der Fahrbahn stehen und im Dunkeln viel zu langsam Vögel imitieren. Ich greife meinen Lenker fester und bin bereit, das zu beenden.

Hinter Visselhövede nimmt der Seitenwind zu. Auch bemerke ich von den Feldern her leichten Nebel. Leider scheint der Mond nicht ausreichend hell, sodass ich im Prinzip weiterhin alles Wesentliche nicht sehe. Bahnstrecken. LKW donnern wütend heran und mir entgegen und jaulen an mir vorbei, und der Fahrtwind schmeißt mich fast um. Nach einer Ewigkeit kommt: Kirchlinteln. Ich bin so froh, ich überlege, ob ich irgendwo in eine Gaststätte stapfen sollte wie so ein Typ, der in einem Erdloch verschüttet war, und jetzt, bei Schlager und Bier, unter einem großen Wandgeweih, sein Leben nur noch als Zumutung empfinden kann. Entscheide mich dagegen.

Die Lichter der Stadt! Verden erscheint am Horizont. Schön, verheißungsvoll, heimatlich. Hätte nie gedacht, dass ich das über diese Stadt mal sage. Die letzten Kilometer gehen. Das Motorrad stelle ich vor dem Haus ab, aus Gründen allgemeiner Steifgefrorenheit schaffe ich es nicht bis auf den Parkplatz. Zu Hause schäle ich mich aus den Klamotten. Alles tut unendlich weh. Ich putze Zähne und gehe ins Bett. An der Decke über mir hängt eine Winkelspinne und stellt ihre Beine auf.

Ich greife mein Bettzeug und ziehe aufs Sofa und denke über mein Leben nach. Mir kommen immer diese Ideen, ich halte die Ideen für brillant. Ich erzähle anderen von den Ideen, sie finden sie gut bis mittel, aber darauf höre ich natürlich nicht. Ich bin euphorisch, setze die Idee um – und alles stellt sich hinterher als absolutes Desaster heraus. Das scheint eine Konstante geworden zu sein in meinem Leben.

Ich drehe mich auf die Seite und schwöre mir: Ich werde nie wieder nachts Motorrad fahren. Auch wenn ich vermutlich schon morgen im Brustton einer Heldenerzählung davon erzählen oder alles aufschreiben würde. Im Fenster steht der Mond über den Bäumen. Plötzlich sieht er nicht mehr so bedrohlich aus.

PS: Die Fotos zur Illustration haben wir natürlich nachträglich und nicht in stockfinsterer Nacht gemacht, dafür danke ich Ernestine Wassermann. Bei Licht machte das Fahren auch wieder Spaß.


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