aus Kradblatt 6/20 von Jochen Vorfelder
#getduked – Bitte ein Biest!
Was für eine Nacht in Portugal, was für ein Moment: Wir (die Presseleute und die KTM-Offiziellen) stehen ganz oben, auf dem Dach des VIP Towers des Autódromo Internacional do Algarve, landläufig bekannt als Rennstrecke Portimão …
Die Nacht war still, doch jetzt kommt aus ihrer tiefstdunkelsten Mitte ein anschwellendes Grollen. Drei gleißende Lichtkegel malen Spuren wie Leuchtspur-Munition in den Himmel und illuminieren die abfallende Spitzkehre, die das Gebäude umfließt: Ex-MotoGP-Pilot Alex Hofmann, KTM-Testikone Jeremy McWilliams und Pike’s Peak International Hill Climb-Champion Chris Fillmore führen die neue 1290 Super Duke R zu einem nächtlichen Strecken-Showdown aus. Wie das Trio Infernale sich spielerisch beharkt und bespielt, löst volles Kopfkino aus: Sind das hier drei der Apokalytischen Reiter? Was will uns KTM mit dem Schauspiel sagen? Ist es dieses Motorrad, auf dem die Reiter Krieg und Tod verkünden?
Ach nein, bleiben wir lieber bei einer positiven Interpretation. 2014 hat KTM das erste Beast auf die Straße gebracht, die Ur-Version der 1290 Super Duke. Drei Jahre später, im Frühjahr 2017, folgte das zweite Biest, eine moderate Überarbeitung. Jetzt, zum Modelljahr 2020, folgt Beast 3.0.
Sinn und Zweck dieser neuerlichen Reinkarnation: Die dem Fahrzeug innewohnende Technik weiter so zu verfeinern, dass der Spaß beim Angriff auf die Limits der Fahrphysik noch weniger Grenzen kennt.
Dafür sind sie also hier, unser Heiligen Drei Könige Alex, Jeremy und Chris, auf dass wir ihnen folgen auf dem Asphalt und über die Curbs wie einem Leitstern, wir normale Sterbliche und Gläubige auf dem Motorrad, das dem Buch der Offenbarung ein neues KTM-Kapitel anfügen soll.
Auf technischer Mission
Im Herzen bleibt die 1290er Duke sich treu. Der V2-Motor hat auch 2020 weiter 1301 Kubik, aber an den Details wurde schwer gefeilt. Reduzierte Wandstärken, anderes Kurbelgehäuse, Titanventile, optimierte Einspritzung und Drosselklappen, über jede Feinheit haben die Techniker nachgedacht. Die Summe der Modifikationen lässt das Aggregat fast ein Kilogramm leichter werden, dafür gibt es unterm Strich drei PS mehr: Insgesamt hat man nun 180 PS bei 9.500 U/min und 140 Nm bei 8.000 U/min zur Verfügung.
Drumherum wurde quasi alles auf links gedreht, auch wenn es optisch nicht so wirkt: Dem Beast 3.0 gibt Mattighofen einen neu konstruierten Stahlrohrrahmen, eine vollständig überarbeitete Fahrzeuggeometrie und ein gnadenloses Update aller verfügbaren Elektronik-Features mit auf den Weg.
Der Rahmen wird bei der 1290 Super Duke R nun nicht mehr als geschlossener Rohr-Torso gebaut, sondern er nutzt den Motor als mittragendes Element. Ganze 2 Kilogramm Material konnten so eingespart werden, bei gleichzeitig wesentlich höherer Torsionssteifigkeit. Neu ist auch der Heckrahmen; statt mit einem verschraubten Gitterrohr-Bauteil ist die 1290 SD R nun mit einem Aluminium-Kunststoff-Verbundheck ausgestattet. An ihm werden alle Zusatzteile wie Nummernschildausleger und Rückleuchten direkt angedockt. Auch das spart Gewicht. In Summe bringt die aktuelle 1290 SD R ein Trockengewicht von 189 kg (215 kg vollgetankt) auf die Waage – je nach Ausführung sind das bis zu sechs Kilogramm Gewichtseinsparung im Vergleich zum Vorläufermodell.
Das Motorrad wirkt gedrungen. Die Sitzposition hat sich, so berichten Kollegen, die auch das 2017er Modell gefahren sind, spürbar verändert: Man logiert etwas „sportlicher“ im Fahrzeug, der breite Lenker (um drei Zentimeter tiefer und nach vorne verlegt) ist zusammen mit den Rasten und Hebeln individuell vielfach verstellbar, man sitzt aber immer noch frei im Wind. Die Sitzbank hinter dem 16 Liter-Tank ist mit 835 mm relativ hoch; man thront näher am Vorderrad, im Blick liegt das kontraststarke TFT-Display.
Über das Farb-Display – und die neu gestalteten Bedienelemente – erschließt sich auch das volle Elektronik-Paket, mit dem KTM den Piloten mit Finesse an die sicheren Grenzen der Fahrbarkeit führt: fünf voll programmierbare Fahr-Modi Rain, Street, Sport, Performance und Track, Motorcycle Traction Control (MTC), Wheelie Control, Schräglagen- und Supermoto-ABS (für einen sanften Hinterrad-Drift auf der Rennstrecke), Motor Slip-Regulierung und nicht zuletzt – man glaubt es kaum bei diesem radikal auf Spitzenleistung getrimmten Fahrpaket – Cruise Control für die präzise Langstrecke.
Folget den Herren
Also raus auf die Strecke, und die hat es in sich. Portimão hat seine Ecken und Kanten; der Track gibt keine Ruhe. Kuppen allerorten, berghoch und bergab, blinder Einflug in enge Passagen, knifflige Kurvenkombinationen und unübersichtliche Einlenk- und Bremspunkte; ich war schon auf schnellerem, aber auch auf wesentlich einfacherem Rund unterwegs.
Gut also, dass wenigsten das Motorrad sofort funktioniert: In der Boxengasse bollert der 75-Grad-V2 noch eher dezent. Doch spätestens 500 Meter weiter, beim Herausbeschleunigen aus der ersten Kurve, wird die Sache klar: Die Ergonomie passt auch für große Fahrer über 1,90 Meter perfekt und es kann zur Sache gehen. Unter Volllast wird aus dem Hightech-Aggregat ein brutal brüllender Wüterich. Das Getriebe schaltet präzise und knackig, kurze Wege, unterstützt vom Quickshifter und arbeitet optimal dem Herzen zu, das bei maximaler Kraft voraus für eine aberwitzige Schlagkraft sorgt.
Der V2 ist großartig abgestimmt: Die 1300 Kubik hauen schon bei tiefen und mittleren Drehzahlen unglaublichen Vortrieb raus; ab 6.000 Umdrehungen wird es atemberaubend, aber stets kontrollierbar. Verblüffend ist das Drehmomentplateau mit über 110 Newtonmeter ab 2500 Umdrehungen; schalten kann gerne überschätzt werden, man ist quasi immer im richtigen Gang.
Und auf der richtigen Spur: Die große nackte Super Duke zieht, wenn mit entschlossener Hand geführt, stabil und präzise ihre Runden und scheut keine Schräglage. Mit einem Supersportler – einer Doppel R oder einer neuen Fireblade – kann sie sich in der Disziplin „vertrauenserweckendes neutrales Handling“ natürlich nicht anlegen, aber hey? Die Super Duke war schon immer ein multifunktionales Fun Bike mit dem Hang zum Spielen. Egal dabei, ob man in Gang eins oder vier unterwegs ist – auf Verlangen schiebt jeder saftige Gasstoß das Vorderrad dem Himmel entgegen.
Limits auf der Rennstrecke kennt diese KTM nur durch die fehlende Verkleidung – bei 265 km/h auf der kurzen Zielgerade wird es doch ziemlich zugig – und natürlich durch den Fahrer.
Mein Fazit nach einem langen Vormittag auf der Strecke: Ihr werdet unglaublich Spaß haben, das Motorrad kann am Track Day alles, was euer Herz begehrt. Aber macht euch keine Hoffnungen, dass ihr den Hinterreifen von Kalibern wie Hofmann, McWilliams oder Fillmore lange im Blickfeld habt. Und tschüss, ihr Heiligen!
Die Blümchenpflückerin
Am Nachmittag sind wir im Hinterland von Portimão, nördlich von Lagos und weit westlich bis hin zur Atlantikküste unterwegs. Die Landstraßen sind leer, der Asphalt griffig und die Durchschnittsgeschwindigkeit … nun ja, den örtlichen Gegebenheiten angepasst. Playtime.
An der rechten Armatur hat KTM eine Brembo Radialbremspumpe verbaut; die kommt jetzt heftig zum Einsatz und harmoniert blendend mit den Brembo Stylema Monoblock-Zangen. Die verbeißen sich knurrend in die 320er Frontscheiben – eine Anlage, die man kaum an ihre Grenzen bringen kann. Selbst am Vormittag auf der Strecke hat sie das permanente harte Anbremsen und Entschleunigen im wahrsten Sinne des Worte kalt gelassen.
Auch hier beim schnellen Landstraßen-Galopp macht sich der einzigartige Charakter des bärenstarken V2 bemerkbar; noch deutlicher als auf dem Rennrund spielt der Motor sein irre breites und allzeit nutzbares Drehzahlband von knapp über 2000 Umdrehungen bis hoch zum Begrenzer aus. Oben raus – so scheint es – quält sich das Aggregat in keiner Weise, im Gegenteil: KTM hat Drehfreudigkeit beim V2 neu definiert.
Gleichzeitig lässt sich mit der großen Super Duke genüsslich flanieren. Beim Zuckeln durch die verschlafenen Dörfchen und runter zum Kaffee in den Dünen – also bei Schleichfahrt mit 40 km/h – zeigt sich der kraftstrotzende Zweizylinder überraschend gutmütig. Über 2200 Umdrehungen läuft das Aggregat selbst im dritten Gang noch rund ohne Schluckauf. Wer das KTM-typisch ziemlich aggressiv gestylte Beast 3.0 sieht, kann sich schlecht vorstellen, dass diese Freundin der Kampflinie auch gemütlich kann.
Wobei der Fahrer sich bei beiden Inkarnationen auf absolute Spurtreue und das neu verbaute Apex Federbein vom Hauslieferanten WP verlassen kann. Der hintere Dämpfer ist jetzt nicht mehr direkt mit der Schwinge verbunden, sondern wird nun über eine Umlenkung angesteuert. Portugal jedenfalls hat zu dem neuen System – trotz Spurrillen und überraschend auftauchenden Fahrrillen – nur positive erste Erkenntnisse gebracht: Hier stampft und trampelt gar nichts mehr.
Diese Optimierung passt übrigens bestens zu einer weiteren positiven portugiesischen Überraschung. Wer erwartet hatte, dass die 1290 R mit den üblichen deutschen oder italienischen Verdächtigen auf den Felgen aus dem Werk rollt, sieht sich getäuscht: Bridgestone hat in enger Kooperation mit den R&D-Ingenieuren in Mattighofen den
S22-Reifen (hinten mit einer KTM-Sonderspezifikation) entwickelt – und voll ins Schwarze getroffen. Der S22 unterstützt auf der 1200er nicht nur das agile Handling auf der Landstraße mit begeisterndem Grip. Er hält auch Pistentorturen klaglos aus – ohne zu viel Gerubbel und Überhitzung.
Zu heiß wird es auf Dauer nur dem Hintern. Denn so gut sich diese KTM beim Sonntagsausflug – ob flott oder bräsig – auch schlägt, diese Maschine ist für lange Strecken oder Sprints von Garmisch nach Flensburg eher eine Notlösung. Wer einen Langstrecken-Tourer sucht – und fast genauso viel Power will – der kann sich im KTM-Portfolio Besseres aussuchen.
Das kann man kaufen
Was bringen wir also mit als Erkenntnis aus Portimão: KTM fährt mit der neuen 1290 Super Duke R ganz groß auf. Das ultimative Naked Bike sollte es werden: Jungs, es ist tierisch geworden! Die Power aus dem 1301 Kubik V-Twin ist leicht zu beherrschen, aber brutal. Egal, welcher Gang, einmal hart am Gasgriff gezogen – das harte Hämmern der zwei Kolben macht soviel Druck, dass das Vorderrad nur noch eine Richtung kennt: gen Himmel, ins Paradies.
18.295 Euro ruft KTM für die Himmelfahrt auf; wer sich beim Technik- und Bekleidungszubehör bedient, kann noch ordentlich was drauf packen. Trotzdem: Wer es geil haben will, Probefahrt vereinbaren.
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