aus bma 5/13
von Klaus Herder
Von einem kurzen, selbstverschuldeten Schwächeanfall in den 80er Jahren abgesehen (eine 125er Wettbewerbs-GS mit einem nutzbaren Drehzahlband von 200 Umdrehungen ist einfach nichts für den Stadtverkehr und einen 1,86 m/85 kg-Mann), ging mir KTM ehrlich gesagt immer am Allerwertesten vorbei. Dabei fand ich die Maschinen der Österreicher technisch durchaus interessant, doch ihr extrem krawalliger (Werbe-)Auftritt („Ready to Race“) nervte mich ungemein. Die typische KTM-Klientel machte das Spielchen mit und gefiel sich darin, in Straßenkämpfer-Verpackung und mit breiten Schultern immer den Eindruck zu vermitteln, direkt in den Krieg oder zumindest in ein unglaublich wichtiges Rennen zu ziehen. Ich gönnte den An-der- Ampel-Gasgriffspielern und Innerorts-Hinterradartisten ihren Zirkus von Herzen, doch für mich war der ganze Dicke-Hose-Zinnober absolut nichts. Da konnten die Ösis meinetwegen die Dakar mit ihrem Markenpokal x-mal gewinnen, KTM war einfach nicht meine Welt.
Doch gottlob herrscht ja momentan mächtig viel Wirbel im Markt der großen Reise-Enduros. Man kann immer noch ruhigen Gewissens, aber man muss nicht mehr zwangsläufig zur BMW greifen, um einen langstrecken- und soziustauglichen Reisepartner zu bekommen, der viel Gepäck und auch etwas gröbere Behandlung auf miesem Belag verträgt und dabei überzeugend viel Leistung und Drehmoment aus dem Hubraumärmel schüttelt.
Neben BMW buhlen noch mindestens acht weitere Anbieter um die Gunst der Fernreisenden. Neben reizvollen Exoten wie Aprilia Caponord und Moto Guzzi Stelvio, Vernunft-Wuchtbrummen wie Honda Crosstourer, Triumph Tiger Explorer und Yamaha Super Ténéré sowie straßenlastigen Kurvenhobeln wie Ducati Multistrada und Kawasaki Versys 1000 ist es besonders eine Maschine, die sehr gute Chancen hat, der GS ein paar potenzielle Käufer abspenstig zu machen: die KTM 1190 Adventure. Um es vorweg zu nehmen: Dieses phänomenale Motorrad könnte es fertig bringen, meine KTM-Abstinenz Geschichte werden zu lassen. Und das dürfte mit ziemlicher Sicherheit nicht nur mir so gehen.
Doch der Reihe nach: Seit 2003 und der 950 Adventure, ab 2006 mit der 990 Adventure versuchte KTM vom Kuchen der Reise-Enduros etwas abzubekommen. Das klappte mit recht überschaubarem Erfolg. Der 21/18-Zoll bereifte und zuletzt 115 PS starke Grobstoller wollte und konnte seine Rallye-Gene nicht verhehlen und schreckte mit seiner Sport-und-dann-lange-nichts-anderes-Charakteristik so manchen gesetzteren Fernreisenden vom Kauf ab. Die neue Adventure musste also deutlich massentauglicher werden, um im Kreise der Fernweh-Motorräder überhaupt eine Chance zu haben. Wenn schon, dann richtig – KTM ging das Thema mit absoluter Konsequenz an und ließ keinen Stein auf dem anderen. Die 1190 Adventure wurde wohl zur aufwendigsten Neuentwicklung der Firmengeschichte. Dabei tippt man beim ersten flüchtigen Sichten der technischen Daten erst einmal auf einen klassischen Fall von Baukasten-Engineering. Ist doch der Motor vermeintlich ein alter Bekannter, nämlich der wassergekühlte 75-Grad-V-Motor aus dem KTM-Superbike LC8.
Wer etwas genauer ins Thema einsteigt, merkt recht schnell, dass die KTM-Techniker beim 1195 cm³ großen und ursprünglich 175 PS bei 10250/min starken Twin mächtig viel Aufwand getrieben haben, um ihn reisetauglicher zu machen, ohne ihm seine Drehmoment- und damit Durchzugsstärke zu nehmen. Geänderte Nockenwellen und zahmere Steuerzeiten dämpfen die Leistung auf 150 PS bei 9500/min – was immer noch genug ist, um den Klassen-Bestwert zu markieren. Zum Vergleich: Die neue, wassergekühlte GS lässt es bei 125 PS gut sein. Engere Einlasskanäle und längere Ansaugtrichter kümmern sich beim Adventure-Motor um einen gleichmäßigen Drehmomentverlauf, als Maximalwert stehen nun 125 Nm bei 7500/min an – die GS schaufelt exakt den gleichen Höchstwert auf die Boxer-Kurbelwelle. Durch die im Vergleich zur LC8 niedrigere Maximaldrehzahl können Stahl- statt Titan-Einlassventile verwendet werden. Der Kurbeltrieb blieb unverändert. Neu sind dafür die Getriebeabstufung mit kürzeren unteren Gängen und die Anti-Hopping-Kupplung mit Servo-Funktion, die das Kuppeln zur Einfinger-Übung macht. Der mit einer Doppelzündung bestückte Ultra-Kurzhuber (Bohrung/Hub 105/69 mm) bekam zudem ein neues Gehäuse spendiert, äußeres Erkennungszeichen ist das praktische Ölschauglas.
Der leichteste und kompakteste Motor seiner Klasse hängt in einem 9,8 Kilogramm leichten Chrom-Molybdänstahl-Gitterrohrrahmen, der mit voll einstellbaren Federelementen des hauseigenen Edel-Zulieferers WP Suspension bestückt ist. Im Vergleich zur letzten Adventure-Generation büßten Gabel und Federbein jeweils 20 mm Federweg sein, doch mit nun 190 mm an Vorder- und Hinterhand hat die Adventure absolut klassenübliche Werte zu bieten. In Sachen Reifenformate folgt die Neuentwicklung natürlich dem neuesten Trend bei den Reise-Enduros, und der heißt 120/70 ZR 19 vorn und 170/60 ZR 17 hinten. Die Gummis sind – welch Überraschung – ebenfalls eine Neuentwicklung: Continental TrailAttack 2 in Sonderkennung „K“, die ersten Enduroreifen mit ZR-Kennung für Geschwindigkeiten über 240 km/h. Eine überaus sinnvolle Besohlung, soll die 1190 Adventure laut KTM doch Tempo 250 schaffen – die versammelte Konkurrenz bringt es auf maximal 220 km/h. Zum neuen Rahmen gesellt sich eine neue Alu-Schwinge.
So sehr die KTM-Verantwortlichen bei der Adventure auch Wert auf Massentauglichkeit legten, so wenig kann die 1190er-Verpackung verleugnen, für was KTM nun mal steht: Sport. Und das ist auch gut so, denn Sport hat meist etwas mit wenig Masse zu tun, und tatsächlich wirkt die ganze Fuhre beim Erstkontakt erstaunlich knackig, rank und – zumindest für Reise-Enduro-Verhältnisse – fast schon schlank. Doch die 1190 Adventure sieht nicht nur relativ leicht aus, sie ist es gottlob auch: Mit bis zum Rand befülltem 23-Liter-Tank bringt die Mattighofenerin gerade mal 238 Kilogramm auf die Waage – das ist Klassenrekord. Zugegeben: Die Ducati Multistrada wiegt vollgetankt gleichviel, aber die kann auch nur 20 Liter Sprit bunkern. Die (relative) Adventure-Zierlichkeit macht sich bereits beim Entern angenehm bemerkbar. Der Fahrer hat keinerlei Mühe, seinen Haxen über die erstmalig zweigeteilte Sitzbank zu schwingen und in moderaten 86 cm Sitzhöhe bequem Platz zu nehmen. Durch einfaches, werkzeugloses Umstecken der Sitzbank können Langbeiner weitere 15 mm Sitzhöhe gewinnen. Und wer unbedingt eine heizbare Sitzgelegenheit haben möchte, wird nun auch bei KTM im Zubehörprogramm fündig – wer hätte das von den ehemaligen Ready-to-Race-Hardcore-Verfechtern gedacht?! Die ganze Adventure-Ergonomie ist tadellos: Hüft- und Kniewinkel fallen entspannt aus, der Oberkörper bleibt angenehm aufrecht, und der konifizierte Alulenker – wie die Fußrasten in zwei Positionen einstellbar – ist nicht zu breit und liegt perfekt zur Hand. Der Knieschluss stimmt, und die Verkleidungsscheibe lässt sich ohne Werkzeug um 25 mm in der Höhe und 36 mm vor und zurück verstellen.
Bevor es endlich losgehen kann, sollte sich der Adventure-Treiber vergegenwärtigen, dass sein fahrbarer Untersatz bereits im serienmäßigen Zustand diverse Fahrer-Assistenzsysteme an Bord hat. Als da wären: die mit einem Schräglagensensor korrespondierende Traktionskontrolle MTC („Motorcycle Traction Control“) von Bosch, das elegant über die Drosselklappen und nicht ruppig über die Zündung oder Spritzufuhr ins Geschehen eingreift; das ebenfalls vom schwäbischen Zulieferer stammende C-ABS („Combined ABS“), bei dem der hintere Brembo-Stopper auch dann eingreift, wenn nur am Handbremshebel gezogen wird und das über einen Offroad-Modus verfügt, der dem Vorderrad mehr Schlupf erlaubt und das Blockieren des Hinterrads zulässt. Und nicht zu vergessen: die vier Mappings der Einspitzanlage (Sport, Street, Offroad, Rain), die von „150 PS/sehr direkt“ bis „100 PS/sehr sanft“ die Qual der Wahl lassen. Wer auf den Listenpreis von 13995 Euro noch mal 800 Euro draufpackt, bekommt zudem das „Elektronik-Paket“, bestehend aus dem elektronisch einstellbarem Fahrwerk EDS („Electronic Damping System“), der Reifenfülldruck-Überwachung TPMS („Tire Pressure Measurement System“) und einem ganz und gar nicht elektronischen Hauptständer.
Nach der Lektüre der letzten Zeilen gehen Computer-Dummies (zu denen der Autor ebendieser Zeilen ebenfalls gehört) von einem Elektronik-Overkill aus und legen das Thema KTM 1190 Adventure bei aller Grund-Sympathie womöglich vorzeitig ad acta. Bitte nicht! Das hätte die KTM nicht verdient, denn den Ösi-Technikern ist es gelungen, den ganzen Einstell-Wahnsinn so clever umzusetzten, dass auch ausgewiesene Elektronik-Hasser damit ganz ohne Studium und garantiert auf Anhieb klarkommen. Und besser noch: sogar Spaß daran finden werden. Das Geheimnis des Erfolgs: Das unscheinbare Steuerkreuz an der linken Lenkerarmatur plus das Display links neben dem Drehzahlmesser. Mit dieser selbsterklärenden Kombination lässt sich kinderleicht durchs Programm zappen und hemmungslos kombinieren: Komfortables Fahrwerk plus sportliche Motor-Abstimmung? Kein Problem, wird sofort erledigt. Sport-Fahrwerk mit abgeschaltetem ABS? Ist zwar total sinnlos (denn das ABS greift erst angenehm spät ein), ließe sich aber machen. Und dann gibt’s natürlich noch jede Menge überaus sinnvoller Einstellungen, die das Leben mit der Adventure noch etwas angenehmer machen und dank perfekt regelnder Traktionskontrolle eine (sichere!) Gangart ermöglichen, die noch vor ein paar Jahren den Profis auf abgesperrtem Terrain vorbehalten gewesen wäre.
Ist die 1190 Adventure also doch ein verkapptes Heizgerät, das nur eine Gasgriffstellung kennt? Nein und nochmals nein, denn neben der besagten Abstimmung der ganzen elektronischen Helferlein gelang den KTM-Ingenieuren auch eine goldrichte Auslegung des Motors. Nach dem butterweichen Griff zur Kupplung flutschen die Gänge präzise und leicht rein, der V2 bollert dezent, aber durchaus munter aus seinem Edelstahlauspuff und hängt präzise am Gas. Das Aufdrehen der Dusche am Kurvenscheitelpunkt quittiert der Twin mit ganz sanften (!) Lastwechseln, um anschließend quirlig hochzudrehen. Da hackt nichts, da ruckt nichts, da macht ein ungemein kräftiger Geselle einfach nur einen phantastischen Job. Oberhalb von 2000/min geht’s ruckfrei und trotzdem vehement zur Sache, ab 3500 Touren fühlt sich der drehfreudige Motor richtig wohl, um dann ab 6000/min den Nachbrenner zu zünden, dabei nun auch richtig kernig zu tönen und den Wettbewerbern keine (Durchzugs-) Chance zu lassen. Der KTM-Motor arbeitet überraschend kultiviert. Wer noch die erste LC8-Generation kennt, kann nicht glauben, dass die Motoren auch nur irgendetwas miteinander zu tun haben, geschweige denn eng verwandt sind. Operation gelungen, Patient quietschfidel. Wie schön, dass die Österreicher endlich kapiert haben, dass Kraft nichts mit Aggression zu tun haben muss und dass nervige Lastwechsel kein Beweis für besonders direkte Gasannahme sind.
Zum famosen Motor passt das durch nichts zu erschütternde Fahrwerk. Der Adventure ist es völlig egal, ob sie mit einem 60-Kilo-Kerlchen solo unterwegs ist, oder ob sie mit zwei 90-Kilo-Kloppern an Bord über die Bahn brennt. Sie verträgt die 202 Kilo Zuladung immer und überall mit absolut stoischer Gelassenheit. Selbst in der komfortabelsten Komfortstellung hat die KTM nichts von einem Dampfer in schwerer See. Da wankt und schaukelt nichts, die Adventure tobt einfach in bester Sportboot-Manier über die Wellenkämme. Zielgenauigkeit und die Leichtigkeit des Einlenkens sind dabei natürlich nicht unbedingt auf 600er-Supersportler-Niveau – irgendwo muss die Grundstabilität ja herkommen – aber wer mit etwas Nachdruck dem recht strammen, nicht einstellbaren Lenkungsdämpfer zeigt, wer Herr im Abenteurer-Haus ist, wird mit der KTM mächtig flott durch die Pampa prügeln. Der Motor macht’s, und die eher straffe Grundabstimmung sorgt dafür, dass die einmal eingeschlagene Linie auch beibehalten wird.
Die KTM 1190 ist nicht hyperagil, aber dafür ist sie völlig unkompliziert, jederzeit gut berechenbar und sehr gut auf ihren Einsatzzweck abgestimmt. Und das ist nun mal das zügige Kilometerfressen auf nicht immer astreinem Belag. Wer das Handling eines Fahrrads will, sollte etwas anderes kaufen. Zum Beispiel ein Fahrrad…
Üppige Ausstattung (u. a. LED-Tagfahrlich mit Helligkeitssensor und serienmäßiger, geschickt integrierter Kofferträger), famoser Motor, gutes Fahrwerk, wertige Machart und tadellose Verarbeitung, umfangreiches Zubehörprogramm – gibt es denn nichts, was den ambitionierten Weltreisenden vom KTM-Kauf abhalten könnte? Mir fällt nichts ein. Wirklich nicht. Noch nicht einmal die Wartungsintervalle. Die wurden auf 15000 Kilometer verlängert, das ist mal ein Wort. Und glauben Sie mir: Vor der Bekanntschaft mit der neuen, in Grau und natürlich Orange lieferbaren Adventure hätte ich Ihnen zig Gründe nennen können, warum KTM eigentlich gar nicht geht. Diese KTM ist aber endlich anders. Nämlich richtig menschenfreundlich und trotzdem nicht weichgespült. Und wer es dennoch eine Spur härter wünscht, wird ebenfalls bedient: Das 14895 Euro teure R-Modell hat unter anderem 21/18-Zoll-Räder, längere Federwege, mehr Bodenfreiheit und serienmäßige Sturzbügel zu bieten.
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