aus bma 10/02

von Klaus Herder (40)

ZZ-R 1200 Mod. 2002In den meisten Mannschaftssportarten spielen Jungs der Altersklasse Ü35 bei den „Alten Herren”. Da weiß man, wo man hingehört. Nun ist Motorradfahren in gewisser Weise ja ebenfalls Teamwork, doch eine klare altersabhängige Klasseneinteilung fehlte bislang. Zugegeben: Die Kaste der Chopper- und Cruiserfahrer lässt sich durchaus einer Koronar-Sportgruppe zuordnen, doch welche Motorradgattung taugt denn nun für Menschen, die auch schon älter sind und trotzdem noch Sex haben – für den gestandenen Superbiker zum Beispiel?
Kawasaki wurde nun die Ehre zuteil, für die grauen Wölfe der Piste eine eigene Spielklasse zu schaffen: den „Supersport-Tourer” (O-Ton Kawasaki). Die ZZ-R 1200 ist laut Kawa-Pressemappe gemacht für „ehemalige Supersportfahrer, die mit zunehmendem Alter mehr Komfort fordern, ohne jedoch auf das sportliche Handling und die hohe Motorleistung, an die man sich gewöhnt hat, verzichten zu müssen”. Gemeint ist also der 35- bis 50jährige Altheizer.
Als diese Zielgruppe so zwischen 23 und 38 Jahren alt war, hieß ihr Traummotorrad womöglich Kawasaki ZZ-R 1100. 1990 war’s, als der offen 147 PS starke Brenner mal eben mit 273 km/h den absoluten Bestwert für Serienmaschinen markierte und unzähligen Jungheizern feuchte Träume bescherte. 1993 gab’s noch eine mittelschwere Modellpflege, danach blieb die Wuchtbrumme bis 2001 praktisch unverändert im Programm und mutierte ohne ihr Zutun immer mehr in Richtung Tourer. Die neuen Helden der Grünen hießen ZRX 1200 und ZX-12 R. Die ZZ-R 1100 alterte mit ihren Fans.

 

ZZ-R 1200 Mod. 2002Na gut, dachte sich Kawasaki – machen wir aus der Not eine Tugend und die ZZ-R einfach noch seniorenfreundlicher. Und weil ältere Herrschaften oft genug etwas konservativ sind, kommt uns irgendwelcher neumodischer Schnickschnack wie Benzineinspritzung, geregelter Katalysator oder gar ABS nicht ans Mopped. Vom Neue-Kanten-Design („New Edge”) wollten die Kawa-Macher glücklicherweise auch nichts wissen. Die neue ZZ-R darf üppige Rundungen tragen, schließlich kann die Zielgruppe mit den Namen Jayne Mansfield und Dolly Buster meist noch etwas anfangen und hat womöglich Russ-Meyer-Filme im Video-Regal.
Um im Konzert der heutzutage durchweg recht potenten Express-Tourer ordentlich mitblasen zu können, musste sich der alte ZZ-R-Motor aber eine kräftige Überarbeitung gefallen lassen. Der grundsätzliche Aufbau (flüssigkeitsgekühlter Reihenvierzylinder, zwei obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, 16 Ventile) blieb unverändert, aber etwas mehr Hub und ein Tick mehr Bohrung sorgten für 1164 statt 1052 ccm. Neue Aluzylinder und verstärkte Kolben waren bei der Gelegenheit auch gleich fällig. Die Kurbelwelle ist ebenfalls eine Neukonstruktion, und die 40er-Vergaser mit Drosselklappen-Sensor wurden in dieser Form bislang auch noch nicht bei der ZZ-R verbaut. Zwei neue Benzinpumpen, ein neues Kühlsystem, ein größerer Ölkühler, eine stärkere Lichtmaschine (weil Tourer immer soviel Zubehör dranhängen) und ein verstärktes Sechsganggetriebe gehörten neben vielen kleinen Modifikationen zu den wichtigsten Renovierungsmaßnahmen. Die Spitzenleistung stieg dabei zwar „nur” von 147 auf 152 PS bei 9800 U/min (mit Ram-Air-Effekt, also Staudruck-Aufladung, sollen es 160 PS sein), aber der ganze Aufwand wurde ja auch mehr in Richtung Drehmoment-Optimierung getrieben. Gewaltige 124 Nm bei 8200 U/min stemmt die ZZ-R 1200 als Spitzenwert, bereits bei 4000 Touren liegen knapp 120 davon an. Die ZZ-R 1100 schaffte als Spitzenwert 110 Nm bei 8500 U/min – was ja auch nicht gerade wenig war.
Bereits die erste Sitzprobe auf der ZZ-R 1200 lässt Vertrautheit aufkommen. Die beiden für Tourerverhältnisse immer noch einigermaßen tief montierten Lenkerhälften kamen dem Fahrer zwar etwas näher und die Fußrasten wanderten eine Spur in Richtung Asphalt, aber die Sitzposition ist immer noch sportlich-bequem. Menschen unter 1,80 Meter Länge müssen sich womöglich etwas über dem 23-Liter-Tank strecken, um alles im Griff zu haben, doch dank verstellbarer Handhebel gibt’s wenigstens keine Probleme beim Zupacken. Lange Mädels und Kerls sitzen perfekt. Die Instrumentierung ist klassisch und komplett. Von links nach rechts erfreuen Drehzahlmesser, Tacho, Tank- und Kühlmitteltemperatur-Anzeige das an Rundinstrumente gewöhnte Altherren-Auge. Die Uhrzeit wird digital angegeben, was verzeihlich ist, denn unsere erste Casio-Armbanduhr ist ja mittlerweile auch schon 20 Jahre alt. Und auch beim Anlassen ist alles wie früher, denn der lenkerfeste Chokehebel verlangt nach sensibler Bedienung, um den Punkt zwischen „Plötzlich-Absterben” und „Ungesund-Hochjubeln” genau zu finden. Als Belohnung fürs Fummeln gibt’s den unnachahmlichen Kawa-Sound, die heisere Mischung aus dumpfem Ansaugschnorcheln und kernigem Auspuffbollern. Das hört sich sehr gut an. CockpitDie Kupplungsbetätigung erfolgt hydraulisch. Der Kupplungsweg ist kurz, die Dosierbarkeit gut, nur auf Dauer wird die linke Hand doch recht gut trainiert. Das neue Sechsganggetriebe ist ein grundehrlicher Charakter und spielt erst gar nicht das empfindliche Sensibelchen. Wer die Fahrstufen wechseln will, soll ihm gefälligst klar machen, was Sache ist. Eindeutige Fußarbeit wird mit exakter Rastung und sauberer Stufung belohnt. Wenn die Choke-Arie überstanden ist, belohnt der Reihenvierer den verantwortlichen Fahrzeugführer mit allerfeinster Gasannahme.
Tja, und da ist es dann wieder: dieses rattenscharfe ZZ-R-Gefühl. Da gibt’s keine Leistungsspitzen oder Drehmomenttäler, da gibt es einfach nur gnadenlosen, nie abreißenden Schub, der dem Fahrer ein extrem breites Grinsen ins Gesicht zaubert. Es ist eigentlich völlig egal, wann welcher Gang eingelegt ist, ab 2000 Touren geht alles ruckfrei, bei 12.000 Touren greift der Drehzahlbegrenzer ein. Dazwischen macht der drehfreudige Kawa-Vierer einfach nur Druck, Druck und nochmals Druck. Besonders empfehlenswert ist der Bereich um 8000 U/min herum. Bei alledem hängt der ZZ-R-Treiber nicht willenlos im Wind, sondern sitzt sehr entspannt und mit gutem Knieschluss hinter der rundlichen Verkleidung, die ganz manierlich vorm anstürmenden Fahrtwind schützt, den Fahrer aber glücklicherweise nicht zu sehr vom Verkehrsgeschehen abkoppelt. Über den ganzen Drehzahlbereich sind leichte Vibrationen spürbar, die für Kawa-Fans – ähnlich wie der kernige Sound – unbedingt dazu gehören. Feingeister mit Gold Wing- oder Pan European-Vergangenheit mögen das vielleicht als störend empfinden, doch wer noch eine alte einteilige (mittlerweile vermutlich zu enge) Lederkombi mit Knieschleifern im Schrank hat, wird’s mögen.
Wer kräftig an der Kordel zieht, sorgt dafür, dass der vollgetankt immerhin 276 Kilo schwere Supersport-Tourer in etwas über acht Sekunden von 0 auf 200 km/h beschleunigt. Das reicht dann schon, um den jungen Gebückten zu zeigen, wie Papi Gas gibt. Nun gehört eine solche Übung aber genauso wenig zum Alltagsprogramm wie der längere Fahrbetrieb mit Vmax 275 km/h, zeigt aber doch, zu was der Zweirad-ICE Kawasaki ZZ-R 1200 fähig ist. Im normalen Leben ist es das enorme Durchzugsvermögen, das immer wieder begeistert. Um von 100 auf 140 km/h zu erhöhen, bedarf es keiner vier Sekunden. Und das ohne übertriebene Schaltarbeit. Das Gefühl „Ich könnte, wenn ich nur wollte” ist es, was ZZ-R-Fahrer so cool werden lässt. Und dieses Gefühl macht sich nicht nur auf der Autobahn, sondern auch schon beim lockeren Landstraßenschwingen breit. Die ZZ-R ist nämlich auch dort ein ziemlich williges Gerät.
Der Alurahmen mit geschraubten Stahlrohrunterzügen und ebenfalls geschraubtem Stahlrohrheck wurde überarbeitet und gewann an Steifigkeit. Die Fahrwerksgeometrie trimmten die Kawa-Techniker etwas mehr in Richtung Handlichkeit, ein steiler Lenkkopfwinkel und etwas weniger Nachlauf machten’s möglich. Nun bleiben 276 Kilo natürlich auch bei einer geschickten Fahrwerksauslegung immer 276 Kilo, und das merkt man spätestens dann, wenn flott zu fahrende Wechselkurven angesagt sind. Irgendwo müssen die frechen 600er ja auch schneller sein. Doch wer mit etwas Körpereinsatz unterwegs ist, kann sich auch bei der ZZ-R 1200 nicht über mangelnde Handlichkeit beklagen. Sie ist jederzeit gut berechenbar, ihre Schräglagenfreiheit ist fast grenzenlos, und die Bridgestone BT 020 R-Gummis (120/70 ZR 17 vorn, 180/55 ZR 17 hinten) erläutern einem den Sinn des Klebens. Runde Formen entgegen den Trend
Nur eine Sache mag die ZZ-R 1200 gar nicht: Bremsen in Schräglage. Dann stellt sie sich nämlich munter auf und wehrt sich. Doch im Knick bremsen ohnehin nur Jungspunde. Alte Hasen haben ihre Dinge vorher erledigt und ziehen sauber und mit Zug ums Eck. Wenn’s dann doch mal haarig wird, können sich alte wie junge Hasen aber auf hervorragende Bremsen verlassen. Die Vierkolbensättel an den vorderen Doppelscheiben und der hintere Zweikolben-Solodarsteller bieten eine perfekt dosierbare und in ihrer Wirkung brachiale Vorstellung.
Für die aus der ZRX 1200 stammende, eher soft abgestimmte und nur in der Federbasis verstellbare Gabel und das mit einer noch gesunden Härte arbeitende Federbein gibt’s das Gesamturteil „befriedigend”. Schön ist, dass die Federvorspannung des federnden und dämpfenden Heckheimers über ein praktisches Handrad verstellt werden kann und die Verstellung der Zugstufendämpfung auch kein Akt ist. Weniger schön ist, das zumindest der Solofahrer nur relativ wenig von den Auswirkungen irgendwelchen Verstellaktionen merkt. Mit Sozius, der übrigens hervorragend untergebracht ist, sieht’s dann aber schon besser aus.
Die ZZ-R 1200 ist auch an anderer Steller eher ein Gerät für zupackende, kräftige Kerle. So sind Hauptständer und Benzinhahn dankenswerterweise serienmäßig, doch deren nicht gerade leichte Betätigung verlangt den ganzen Mann. Alte Schule ist, dass Kawasaki an Dinge wie Gepäckhaken, an ein großes Staufach unter der bequemen Sitzbank und an sehr gutes Licht gedacht hat. Dass sich in den Rückspiegeln auch tatsächlich das rückwärtige Verkehrsgeschehen und nicht nur irgendein Jackenärmel wiederspiegelt, passt ins positive Gesamtbild. Die Verarbeitung macht zudem einen durchweg ordentlichen Eindruck.
Mit knapp sieben Litern Verbrauch auf der Landstraße und bis zu über zehn bei Autobahnvollgas ist die in Silber, Blau und Schwarz lieferbare ZZ-R 1200 nicht gerade ein Sparwunder, aber das Thema der nicht wegzudiskutierenden Masse hatten wir ja schon. Die Abgase passieren zwar keinen geregelten Kat, aber immerhin gibt’s zwei ungeregelte Saubermänner plus Sekundärluft-System, was zusammen auch ganz passable Abgaswerte bringt.
Die als Originalzubehör verkauften Givi-Koffer (rund 600 Euro) samt Stahlrohrträger sind zwar praktisch, aber nicht gerade übermäßig elegant integriert und machen klar, was die faire 11.995 Euro (plus Nebenkosten) teure ZZ-R 1200 eigentlich immer noch ist: ein ziemlich kerniger Sportskamerad mit Hang zur Langstrecke. Die 1200er kann dabei alles besser als ihre Vorgängerin. Was dann ja auch gut zur angepeilten Zielgruppe der „Alten Herren” passt, denn mit Ü35 ist man doch schließlich auch viel souveräner als zu Junghahn-Zeiten.