aus bma 8/00

von Klaus Herder

Kawasaki ist ein ganz übler Spielverderber: Vor dem Erscheinen der neuen ZX-6R war die Welt der 600er-Supersportklasse wunderbar einfach und überschaubar. Wer die eierlegende Wollmilchsau haben wollte, griff zur Honda CBR 600 F, die die FaszinationKawasaki ZX-6R und die Alltagstauglichkeit eines VW Golf bot. Wer das Thema Supersport richtig ausleben oder zumindest im Kreis der Knie-schleifer-tragenden Kumpels imagemäßig gut dastehen wollte, kam an der Yamaha YZF-R6 nicht vorbei. Wer permanent klamm war, besorgte sich einen Billigheimer von Suzuki, mit dem man erfahrungsgemäß auch recht nett anblasen konnte. Kawasaki ZX-6R? Ja, die gab’s auch schon früher, aber wer sollte die eigentlich kaufen?
Nun gibt’s nach fünf Jahren ZX-6R die dritte Auflage des Supersportlers. Und nun ist alles anders. Leistung rauf, Gewicht runter – so simpel waren die Entwicklungsziele für die neue Grüne.

 

Die Kawa-Techniker schafften beides, doch da dieKawasaki ZX-6R hauseigenen supersportlichen 600er auch vor dem Jahr 2000 nicht gerade an Untermotorisierung und Übergewicht litten, war das gar nicht so einfach, und die Weißkittel mussten ganz tief in die Trickkiste langen. Natürlich sorgt immer noch ein viertaktender, flüssigkeitsgekühlter und quer eingebauter Vierzylinder-Reihenmotor für Vortrieb. Natürlich besorgen immer noch zwei obenliegende Nockenwellen und 16 Ventile die Gassteuerung und vier Gleichdruckvergaser die Gemischbildung. Natürlich kümmern sich immer noch sechs Gänge und eine Kette um die Kraftübertragung. Doch für den Rest gilt: Alles bleibt anders.
Unterm Strich kamen drei Mehr-PS (111 statt 108) und fünf Kilogramm weniger heraus. Mit vollgetankt 199 Kilo rückt die neue ZX-6R verdammt nah in Schlagdistanz zur Yamaha R6. 3,5 Kilo der Gewichtsersparnis sind cleverer Feinarbeit am Motor zu verdanken. Wo bislang schwere Graugussbuchsen Dienst taten, kommen ab sofort beschichtete Alu-Zylinder zum Einsatz. Die Kurbelwelle verlor 890 Gramm Schwungmasse, die Kupplungsscheiben gerieten dünner, beim Ventil-, Kupplungs- und Ölfilterdeckel machte Aluminium noch leichterem Magnesium Platz, und die Zündspulen stecken nunmehr direkt in den Kerzensteckern. Ach ja: Kawasaki optimierte auch noch das Ram-Air-System, verstärkte die Pleuel, erhöhte die Verdichtung von 11,8 auf 12,8:1 und kürzte die Einlasskanäle. Beim Fahrwerk sorgte die Diät für verhältnismäßig bescheidene 1,5 Kilogramm Gewichtsverlust. Doch die Arbeit am Gebälk diente in erster Linie der Erhöhung der Fahrstabilität und erst im zweiten Schritt der Massenreduktion.
Damit der Fahrer auch sofort merkt, wohin die Sport-Reise geht, musste sich auch der Arbeitsplatz tiefgreifende Veränderungen gefallen lassen: Die beiden Lenkerhälften wanderten unter die obere Gabelbrücke, hinterhältigerweise wuchs die Sitzhöhe gleichzeitig um sieben Millimeter. DieKawasaki ZX-6R Sitzposition fällt damit deutlich sportlicher aus, ist aber auch für Über-Einsachtzig-Menschen immer noch bequem und erinnert durchaus an die kommode Unterbringung auf einer CBR. Die Scheibe der jetzt noch böser guckenden Cockpit-Verkleidung ist höher gezogen als beim Vorgängermodell. Das erfreuliche Ergebnis verraten wir bereits an dieser Stelle: Einen besseren Windschutz bietet momentan kein anderer 600er-Supersportler. Der verstellbare Kupplungshebel erschien Kawasaki entbehrlich, dafür gibts nun einen Befestigungspunkt für die nachträgliche Montage eines Lenkungsdämpfers. Keine Panik: Otto Normalsupersportler braucht so etwas nicht, das Ding werden, wenn überhaupt, nur Rennstrecken-Junkies dranschrauben. Die Cockpit-Instrumente sind zwar neu (und natürlich leichter), doch den albernen Trend zur digitalen km/h-Anzeige machte Kawasaki glücklicherweise nicht mit. Weiterhin informieren übersichtliche Analog-Uhren über Tempo und Drehzahl. Der Doppelscheinwerfer lässt sich leicht vom Cockpit aus verstellen. Die Lichtausbeute ist bei optimaler Justierung hervorragend. Damit kein Saftnotstand droht, erhöhte Kawasaki die Lichtmaschinenleistung von 280 auf 308 Watt.
Der E-Starter muss sich nicht lange mühen, um den Viererpack in Wallung zu bringen. Kawa-typisch ist aber eine etwas längere Warmlaufphase angesagt, bevor am Draht gezogen werden sollte. Die Sechs- gang-Schaltbox entstammt dem Musterbuch „Perfekter Getriebebau”. Leicht, leise, exakt – besser gehts kaum. Bis 5000 U/min tönt die ZX-6R kernig, aber zivil. Die Gasannahme ist tadellos, kein Ruckeln, kein Verschlucken – völlig unspektakulär. Oberhalb von 5000 Touren fängt der Bär dann aber spürbar zu steppen an. Das soll „nur” eine 600er sein? Wer 3000 Umdrehungen weiter zugange ist, kommt in den Oi-joi-joi-Bereich und ist schon führerscheingefährdend flott unterwegs. Soundmäßig fängt es an lecker zu werden: Da wird auf der Ansaugseite kräftig geschnorchelt, und dem Katalysator-bestückten Auspuff entweicht nun auch das so sehr geliebte Kawa-Röhren. Fein gemacht, das klingt sportlich, das klingt böse, und ist trotzdem total legal. An dieser Stelle gilt unser Mitgefühl allen CBR-Fahrern. Aber es geht ja noch weiter. 10.000 U/min, 12.000 U/min – wo bleibt der Durchhänger? Es gibt keinen. Zumindest keinen spürbaren. Bis zum roten Bereich bei 14.500 U/min schiebt die ZX-6R gKawasaki ZX-6Rnadenlos voran. Wenn alles optimal läuft und die Fußgängerzone frei ist, stehen nach rund drei Kilometern echte 255 km/h an. Zur Erinnerung: Es handelt sich um ein serienmäßiges Motorrad mit 600 ccm. Die 100 km/h sind übrigens aus dem Stand nach ziemlich genau drei Sekunden erreicht. Die ganz große Stärke der ZX-6R ist ihre ungeheure Potenz im mittleren und oberen Drehzahlbereich. Man hat mit ihr nie das Gefühl, sie ausquetschen zu müssen. Wo für andere die Luft spürbar dünn wird, legt sie immer noch zu. Ihre Trinksitten bleiben dabei durchaus im Rahmen. Im Landstraßenbetrieb gönnt sie sich selten mehr als 5,5 Liter auf 100 Kilometern. ICE-Tempo führt zu Verbräuchen um die sieben Liter. Der Tank fasst 18 Liter, die Feinarbeit an den Motor-Innereien führte dazu, dass jetzt Super- und nicht mehr Normalbenzin eingefüllt werden sollte.
Ob Landstraßen- oder Autobahnbetrieb, an der Fahrstabilität gibt es nichts zu mäkeln. Die Verlängerung des Nachlaufs von 91 auf 95 Millimeter kam dem Geradeauslauf zugute und schadete nicht der Handlichkeit. Die ZX-6R ist kein Von-allein-in-die-Kurven-Faller. Ihr Fahrer muss ihr schon zeigen, wo es lang geht. Stur ist sie deshalb noch lange nicht, sie braucht nur eben keinen hektischen Lenker-Schwenker, sondern einen Piloten, der einen sauberen Strich liebt und das entsprechende Auge hat. Für alle anderen gibt es ja schließlich lustige Supermoto-Umbauten. Die voll verstellbaren Federelemente kommen im öffentlichen Verkehrsraum nie an ihre Dämpfungs-Grenzen. Sie arbeiten sensibel, ausreichend komfortabel und gut berechenbar. Wer seine Freizeit aber häufiger bei Renntrainings verbringt, sollte zumindest das Zentralfeder- bein durch ein sportlicheres Nachrüstteil ersetzen.
Kawasaki ZX-6RDie Bremsen können dagegen vom Umbau-Eifer verschont bleiben. Die Sechskolben-Sättel sind eher überdimensioniert, packen die 300-Millimeter-Scheiben im Vorderrad mit der Vehemenz eines Pitbulls und lassen sich dabei doch tadellos dosieren. Eine sofortige Umbereifung ist ebenfalls unnötig, da die serienmäßigen Dunlop D 207 die Haftungs- und Schräglagenfrage eindeutig mit „mehr als genug” beantworten. Da das Auge bekanntlich mitfährt, rollt an Stelle des alten 170/60 ZR 17 nun ein Gummi im Format 180/55 ZR 17. Vorn darf es jetzt ein 120/65 ZR 17 sein (zuvor 120/60 ZR 17).
Die neue ZX-6R kostet inklusive Nebenkosten 17.990 Mark. Das ist bedauerlich, denn Honda und Suzuki verlangen rund 1000 Mark weniger für ihre Supersportler, und selbst Yamaha macht’s für 500 Mark weniger. Soweit zur Theorie. Nun zur Praxis: Bald ist es schon wieder Herbst und mit den Blättern fielen zumindest in den Vorjahren auch die Supersportler-Preise. Auch und besonders bei Kawasaki-Händlern. Und genau das macht die Sache so kompliziert, denn die neue ZX-6R macht die Kaufentscheidung nicht einfacher. Vielleicht möchte ja jemand die Alltagstauglichkeit einer CBR und die Sportlichkeit einer R6 in einem Motorrad vereint haben. Kawasaki hätte da möglicherweise etwas. Die 600er-Supersport-Welt ist einfach komplizierter geworden.