aus bma 4/99

von Günter Pfeifer

Als im September 1998 die ersten Bilder von der neuen Kawasaki VN 800 Drifter durch den einschlägigen Blätterwald rauschten, wurde sie bereits zusammen mit der Indian Chief von 1938 abgelichtet. Und in der Tat, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Was wohl imKawasaki VN 800 Drifter wesentlichen auf die weit über die schönen Speichenräder gezogenen Schutzbleche zurückzuführen ist. Es bleibt also kein Zweifel, wo die Designer Anleihen genommen haben. Warum auch nicht? Immer nur Harleys zu kopieren ist doch auch langweilig. Und in diesem Falle ist ein mehr als gelungener Cruiser herausgekommen.
Wer nicht so genau hinschaut, der könnte meinen, das Heck der Maschine sei ein Starrahmen; stimmt aber nicht, hier ist die schon aus der VN 800 bekannte Dreiecksschwinge mit zentralem Federbein eingebaut. Der Kotflügel federt mit. Doch der „Old Style” setzt sich in der Technik keineswegs fort. Ein moderner V2-Viertaktmotor mit 805 ccm Hubraum, obenliegenden Nockenwellen, die insgesamt acht Ventile betätigen, übernimmt die Antriebsarbeit. Die erkennbaren Kühlrippen dienen jedoch nur der Optik, der Motor ist durch Wasserkühlung gegen thermische Belastungen unempfindlich.
Die Leistung von 42 kW (57 PS) steht bei einer Drehzahl von 7500 U/min zur Verfügung und das maximale Drehmoment erreicht der Motor bei 5500 U/min mit 61 Nm (5,97 kpm). Damit ist die Leistung für die 248 kg (Trockengewicht) schwere Maschine voll ausreichend. Wer auf große Tour gehen möchte, darf bis zum Gesamtgewicht von 450 kg zuladen.
Das Getriebe verfügt über fünf Gänge und die bei Kawasaki übliche automatische Leerlauffindung. Dies bedeutet, daß sich das Getriebe erst drehen muß, bevor man den zweiten Gang einlegen kann.
Die Kraftstoffaufbereitung übernimmt ein Vergaser mit Drosselklappensensor. Dieser soll für exakte Dosierung der angesaugten Kraftstoffmenge sorgen und somit den Kraftstoffverbrauch und das Ansprechverhalten des Motors positiv beeinflussen. Leider läßt diese Art der Gemischaufbereitung den Einsatz eines geregelten Katalysators nicht zu. Ansonsten wurde für den Umweltschutzgedanken schon einiges getan. Für schadstoffarme Abgase sorgt das Kawasaki Clean Air System durch eine kontrollierte Nachverbrennung, und selbst der überlaufende Tropfen Kraftstoff aus dem Luftfilterkasten wird unter der Maschine in einem kleinen Kunststoffballon aufgefangen. Die von der EU festgelegten Abgasgrenzwerte „Euro 1” werden unterschritten. Auch im Geräuschverhalten zeigt sich der Motor von einer guten Seite. Der Sound entspricht dem eines V-Twins: sonor, dumpf grollend und durchaus angenehm. In Abmessungen und Ergonomie überzeugt die Maschine. Die Sitzhöhe von 760 mm dürfte auch kleineren Fahrern oder Fahrerinnen jederzeit die Möglichkeit zum Bodenkontakt geben. Choppermäßig aufrechte Sitzhaltung, breit ausladende Lenkerenden und bequeme Sitzbank sollen entspanntes Fahren ebenso ermöglichen wie die großen Trittbretter für die Füsse.

 

Kawasaki VN 800 DrifterNach dem Druck auf das Starterknöpfchen am rechten Lenkerende nimmt der Motor, mit Chokeunterstützung bei kalter Maschine, seine Arbeit auf. Ersten Gang rein und los geht’s vom Parkplatz der Firma Zweirad-Technik Hans-Jürgen Herzog in Langstedt. H.-J. war so freundlich, uns eine seiner ersten Drifter zur Verfügung zu stellen. Auch wenn das Wörterbuch für „Drifter” mehrere Erklärungen vorsieht, so steht es sicherlich in diesem Falle für „Dahingleiten”, denn diese Vokabel trifft Wesen und Art der Maschine fast genau. Zur Aussage der Cruisergemeinde passend „der Weg ist das Ziel” schwebt die Maschine über den Asphalt dahin. Bodenwellen oder Unebenheiten in der Fahrbahn werden von den Federungselementen, vorn Telegabel mit 41mm Standrohren und hinten einstellbarem Uni-Trak-System, unschädlich gemacht. Wenn man sich an die großen Trittbretter und die Hebelei der Schaltung gewöhnt hat – und dies geht relativ schnell -, dann läßt sich das Getriebe nahezu perfekt schalten, die Gänge rasten sauber ein. Das Gewicht der Maschine merkt man eigentlich nur im Stand und beim Rangieren.
Wenn sich die Räder erst einmal drehen, wird der Cruiser ausgesprochen handlich. Nach einigen Kilometern stellt sich auch das Gefühl der Sicherheit ein und es kommt Freude am Fahren auf. Zunächst geht die Tour über die kurvenreiche Strecke nach Husum. Dabei ist festzustellen, daß auch die Bodenfreiheit ausreichend ist. Die Klappfunktion der Trittbretter wird nicht benötigt. Auch dann nicht, wenn’s mal schneller ums Eck geht. Auf Höchstleistung und Drehzahlorgien wird mit Rücksicht auf die neue Maschine verzichtet, vielmehr wird Wert auf das Fahrverhalten gelegt und das stellt sich als überzeugend heraus. Willig folgt die Maschine den Lenkeingaben des Fahrers und bleibt sehr zielgenau in der Spur. Kurvenfahren wird auch mit dieser Maschinenbauart zum Fahrvergnügen. Der Motor nimmt das Gas schnell und präzise an und schiebt die Maschine voran. Dabei ist durch den guten Drehmomentverlauf fast immer der fünften Gang im Einsatz und schaltfaules Fahren durchaus möglich. Lediglich zum Überholen oder wenn aus anderen Gründen schnelle Beschleunigung erforderlich ist, ist kurzzeitig der vierte Gang gefragt.
Kawasaki VN 800 DrifterAufrecht im Wind sitzend gleitet man dahin, Zeit genug, rechts und links der Fahrbahn die Gegend zu genießen. Hinter Husum fahre ich die schöne Küstenstraße durch den Hauke-Haien-Koog, über Schlüttsiel und Dagebüll nach Niebüll. Eine Strecke, die direkt am Deich entlang führt und pure Natur vermittelt. Die Maschine läuft fantastisch. Hinter Niebüll verlangt die B 199 wegen des stärkeren Verkehrsaufkommens eine schnellere Gangart. Bei Ampelstopps und in den Orten bemerkt man schon, daß die Maschine ein „Hingucker” ist. Viele interessierte Passanten bleiben stehen, und der eine oder andere stellt auch schon mal eine Frage. Das letzte Stück, wie könnte es anders sein, Autobahn A 7. Auch hier perfektes Fahrverhalten. Bei über 140 km/h werden allerdings die Arme länger und man verringert von selbst die Geschwindigkeit. Doch das ist bei Cruisern nun mal so.
Die Bremsen, vorn eine 300 mm-Scheibe mit Doppelkolben-Bremssattel und hinten eine mit 270 mm-Doppelkolben-Sattel, werden mit der kinetischen Energie leicht fertig. Der Druckpunkt vorn ist exakt, wenngleich ein kräftiges Zupacken erforderlich ist. Da die Bremszange unter dem fast bis zur Achse reichenden Kotflügel sitzt, wurde eine belüftete, abnehmbare Zugangsklappe eingebaut. Für die hintere Bremse befindet sich über dem rechten Trittbrett ein großes Bremspedal. Wer ausgesprochen kleine Füße hat, der sollte hier etwas üben.
Die Instrumententafel sitzt bei dieser Maschine auf dem 15 Liter fassenden Tank und fügt sich gut in das Gesamtbild ein. In den gut ablesbaren Tachometer mit Gesamt- und Tageskilomterzähler sind die Kontrolleuchten für Fernlicht und Leerlauf integriert. Weiterhin befinden sich auf dem Panel die Kontrollanzeigen für Ölwarnung, Kühlwassertemperatur und Blinker. Die für den Fahrbetrieb wichtigen Schalter und Funktionselemente am Lenker sitzen dort, wo sie hingehören, sind auch mit Handschuhen gut zu bedienen und haben heutigen Qualitätsstandard. Bemerkenswert ist auch die recht leicht gängige Kupplung. Der Scheinwerfer, ebenfalls nostalgiemäßig, schwarz mit Chromkante, ist mit moderner Lichttechnik ausgestattet. Rechtsseitig und sehr dominierend fügt sich die gewaltige Zwei in Eins-Schalldämpferanlage im Stil der 50er Jahre mit Fischschwanz in das nostalgische Bild.
Der Mitfahrer findet einen recht komfortablen Sitzplatz vor, der an der Hinterseite mit Haltegriffen ausgerüstet ist. Tief angebrachte Fußrasten erleichtern das bequeme Sitzen. So steht die VN 800 in Sachen Komfort der größeren VN 1500, die im März ’99 auf den Markt kommen wird, in nichts nach. Die größten Unterschiede zwischen den beiden Cruisern (außer der Motorleistung):
– die 1500er treibt ein Kardan, während diese Arbeit bei der 800er eine O-Ringkette übernimmt.
– die Große fährt mit elektronischer Kraftstoffeinspritzung und besitzt demzufolge einen geregelten Katalysator.
– die Sitzhöhe der 1500er beträgt nur 7300 mm und das Gewicht ist um 55 kg höher.
Zusammenfassend kann gesagt werden, die VN 800 Drifter ist ein rundherum gelungenes Motorrad mit hervorragenden Fahreigenschaften. Die Verarbeitungsqualität bis ins Detail gibt keinerlei Anlaß zu Kritik. Alle Kabel und Züge sind sauber verlegt und laufen in entsprechenden Halterungen. Lieferbar ist sie in den Farbvarianten Beige oder Rot zum Listenpreis von 14.990 Mark. Let the good times roll…