aus bma 2/00

von Klaus Herder

Warum wählen die Menschen als ihren treuesten Freund ausgerechnet einen Collie? Die Viecher sind totale Sensibelchen, absolut nervige Kläffer und in Sachen Pflegeaufwand nur noch von einer russischen Raumstation zu schlagen. Die Antwort lautet: Weil die KöterKawasaki VN 1500 Drifter absolut klasse aussehen und – was noch wichtiger ist – Frauchen und Herrchen bei jedem Gassigehen auf den Lassie-Verschnitt angesprochen werden. Mann muss Collies nicht besonders mögen, um Collie-Besitzer und ihre Beweggründe zu verstehen.
Mit Cruisern und ihren Besitzern verhält es sich ähnlich. Natürlich fährt jede 250er Kreise um die Dickschiffe. Natürlich liegen die Fahrleistungen irgendwo zwischen Zündapp Bergsteiger und Lanz Bulldogg. Natürlich gibt’s fürs gleiche Geld auch richtige Motorräder. Und trotzdem haben die Dinger ihre Berechtigung. Weil sie meist unverschämt gut aussehen und weil ihre Eigner von nichtmotorradfahrenden Mitmenschen auf Anhieb als echte Biker akzeptiert werden. Da kann sich der Pilot eines 600er-Joghurtbechers noch so sehr den Wolf fahren, die Show-Wertung geht immer an den Cruiser-Treiber. Cruiser heben das Selbstwertgefühl, schaffen Kontakte, kurz: machen einfach Spaß. Und mehr kann man von einem Hobby doch nicht erwarten.

 

Kawasaki VN 1500 DrifterZurück zu unserem Hundebeispiel. Das Halten eines Collies würde weitaus weniger Freude bereiten, wenn plötzlich jeder zweite Hundebesitzer ebenfalls mit einem Collie um den Block schleichen würde. Mancher Collie-Fan würde sich dann vermutlich nach etwas anderem umsehen. Vielleicht nicht gerade nach einem Pitbull-Terrier, sondern nach etwas Collie-Ähnlichem, das aber doch etwas anders aussieht.
Womit wir ein zweites und letztes Mal zu den Cruisern zurückkehren. Bei denen gab’s gegen Ende der 90er Jahre nämlich vergleichbare Identitätsprobleme. Genügte es in der Cruiser-Frühzeit noch, mit fetter Bereifung, mächtigen Kotflügeln, breiter Lenkstange und jeder Menge Chrom-Zierrat auf Harley-Verschnitt zu machen, um Aufmerksamkeit zu erregen, machte sich spätestens ab 1998 eine gewisse Übersättigung breit. Die dicken Dinger wurden austauschbar. Und das nicht nur in der Harley-Gewichtsklasse, sondern auch zunehmend in den kleinen Kategorien. Es gab Fälle, in denen eine gut gemachte 125er aus Fernost fürs vermeintliche Original aus Milwaukee gehalten wurde. Für die Marketingstrategen war es gar nicht so einfach, Argumente zu finden, warum der Kunde ausgerechnet ihr Produkt kaufen sollte. Mit technischen Finessen ließ sich bei der Cruiser-Kundschaft kein Staat machen. Das Hubraum-Argument zog nur noch bedingt, denn das US-Vorbild war von japanischen Fabrikaten längst überflügelt worden. Blieb also nur noch die äußere Form als Unterscheidungsmerkmal.
Ausgerechnet Kawasaki und damit derjenige Anbieter, der von den vier japanischen Herstellern bislang die unspektakulärsten Angebote im Programm hatte, präsentierte fürs Modelljahr 1999 den größten Cruiser-Knaller: die VN 1500 Drifter. Harley-Davidson hatte als formales Vorbild ausgedient, der 1953 in die ewigen Jagdgründe eingegangene Hersteller Indian stand mit seinen ab 1940 gebauten Modellen Pate. Doch da, wo bei der Indian Chief echtes Blech die Räder verkleidete, kommt bei der Drifter schnöder Kunststoff zum Einsatz. Kawasaki argumentiert mit Gewichtsgründen. Nun ja: Eine Chief der 40er-Jahre wog vollgetankt um 250 Kilogramm, die Drifter des Jahrgangs 2000 bringt es fahrfertig auf satte 323 Kilo. Fairerweise muss man aber berücksichtigen, dass die zweirädrigen Indianer aus Springfield/Massachusetts keine Kardanwelle zum Hinterrad und auch keine Flüssigkeitskühlung ihrer V2-Motoren hatten.
Kawasaki VN 1500 DrifterTechnisches Vorbild der 1500er-Drifter ist auch ein weitaus jüngeres Produkt aus dem eigenen Haus: die Kawasaki VN 1500 Classic. Motor und Chassis blieben im Grundaufbau unverändert. Die Kawasaki-Techniker widmeten sich dafür um so intensiver dem Feintuning. So wird die Drifter von einer Einspritzanlage befeuert. Das verbessert Startverhalten und Gasannahme und soll den Benzinverbrauch senken. In der Praxis fackelt die Drifter auf 100 Landstraßen-Kilometern um die 5,5 Liter Superbenzin ab, bei konstant Tempo 130 sind es knapp sieben Liter. Bei der alten VN sorgten noch Vergaser fürs Schluck-specht-Image.
Kawasaki VN 1500 DrifterDer 1470 ccm Hubraum messende Vierventil-Twin legte bei der Verdichtung etwas zu (9:1 statt 8,6:1), und der Zündzeitpunkt musste sich ebenfalls Änderungen gefallen lassen. Das Kurbelgehäuse und den Kupplungsdeckel retuschierten die Techniker etwas. Für die sauberkeitsbewussten Deutschen spendierte Kawasaki einen Katalysator, der aber leider nicht maximal sauber, weil ungeregelt, arbeitet. Wartungsfreie Hydrostößel und zwei Zündkerzen pro Zylinder hatte auch schon die Organspenderin. Unverändert 64 PS bei moderaten 4700 U/min stehen als Nennleistung zur Verfügung. Das maximale Drehmoment wuchs brutal um ein Nm von vormals 112 Nm bei 3000 U/min auf 113 Nm bei 2800 U/min.
Das sind Werte, die auf die Durchzugsqualitäten eines Schiffsdiesels schließen lassen. In der Praxis geht es dann allerdings doch nicht ganz so souverän voran. Die Drifter schiebt zwar gewaltig vorwärts, doch ohne fleißige Arbeit im Fünfganggetriebe ist das ziemlich unspektakulär. Mit zwei Personen besetzt muss immerhin eine halbe Tonne Masse mit dem cW-Wert einer Schrankwand in Wallung gebracht werden. Ab 60 km/h geht im letzten Gang zwar alles ruckfrei, innerorts lautet das Getriebe-Kommando aber eindeutig „Rühren!”. Das klappt dank knackig und auf kurzen Wegen einrastender Gänge aber spielend leicht.
Wer nicht nur rührt, sondern auch dreht, erreicht knapp sechs Sekunden nach dem stehenden Start die 100 km/h-Marke. Masochistisch veranlagte Naturen machen weiter und prügeln die Drifter bis zu einer Vmax von knapp 170 km/h. Richtig Spaß macht aber nur alles bis Tempo 130.
Was bei vielen Choppern und Cruisern im ersten Moment wahnsinnig lässig und bequem aussieht, erweist sich nach einiger Zeit oft als ziemlich umkomfortabel: die Sitzposition. Eingeschlafene Arme, ein schmerzender Rücken und ein plattgesessener Hintern sind eher die Regel als die Ausnahme. Die Unterbringung des Drifter-Reiters sieht dagegen nicht nur bequem aus, sie ist es auch. Und das auch auf Langstecken. Verantwortlich dafür ist der zwar ultrabreite, dafür aber für Cruiserverhältnisse angenehm niedrig montierte Lenker. Die klappbaren Trittbretter sitzen goldrichtig, die Sitzbank ist breit genug und nicht zu weich gepolstert. Der Fahrer sitzt aufrecht und entspannt – und sieht dabei immer mächtig cool aus. Beifahrer sollten nur kurzfristig untergebracht werden. Das Sitzmöbel ist nämlich für den Soziusbetrieb eindeutig zu kurz. Über materialmordende oder Kondition kostende Rüttelei kann sich die Drifter-Besatzung nicht beklagen. Dank einer zahnradgetriebenen Ausgleichswelle ist praktisch kein unangenehmes Kribbeln spürbar. Was bis zu den Passagieren durchkommt, sind ausschließlich „good vibrations”.
Maßgeblichen Anteil am hohen Komfort hat auch das für Cruiserverhältnisse hervorragend abgestimmte Fahrwerk. Geriet die alte VN in flott gefahrenen Kurven manchmal arg ins Taumeln, sind der Drifter solche Schwächen fast völlig fremd. Ihr gegenüber der VN 1500 Classic verstärkter Rahmen, die straffere Abstimmung der Vorderradgabel und die neuen, voll gekapselten Hinterradstoßdämpfer bewähren sich sehr gut. Zielgenau und erstaunlich flott lässt sich die Drifter um Kurven schwenken. Allzu wilden Schräglagen setzen die frühzeitig den Asphalt fräsenden Trittbretter ein Ende.
Der Geradeauslauf ist typbedingt tadellos. Bewegung kommt nur dann ins Gebälk, wenn sich der Kardan bei Lastwechseln meldet. Biker mit BMW-Erfahrung aus den 70er- und 80er-Jahren kennen den Fahrstuhleffekt beim Beschleunigen und Gaswegnehmen.
Von der alten VN stammt der vordere Zweikolben-Bremssattel. Die 300 mm-Einzelscheibe ist neu, ebenso die komplette Hinterrad-Bremsanlage. Die Bremsleistung ist nicht berauschend – kein Wunder, wenn bis zu zehn Zentner schieben. Wer kräftig zupackt und vor allem auch die Hinterradbremse einbringt, bremst aber auch noch im grünen Bereich. Richtig gut ist dafür die Dosierbarkeit von Vorder- und Hinterradbremse, was die eher durchschnittliche Bremsleistung fast vergessen macht.
Die Kawasaki VN 1500 Drifter kostet inklusive Nebenkosten 21.490 Mark. Dafür gibt’s eine polarisierende Verpackung, einen kultivierten und ausgereiften Motor, ein glücklicherweise wenig cruisertypisches, weil stabiles und trotzdem komfortables Fahrwerk und – das dürfte am wichtigsten sein – einen brutal hohen Aufmerksamkeitswert.
Immer und überall auf sein Motorrad angesprochen zu werden, kann manchmal etwas nervig sein, macht meistens aber durchaus Spaß. Wer sich eine Drifter anschafft, weiß jedenfalls ganz genau, was er will.