aus bma 6/10

von Patric Birnbreier

Kawasaki Versys 2010Schlaglöcher, überall Schlaglöcher. Krater, groß wie Castrop-Rauxel, säumen nach dem langen harten Winter unsere Straßen. Da kommt ein Krad wie die Versys als Dauertester und Arbeitsgerät gerade recht. Schluckfreudig lange Federwege, die es durchaus erlauben, auch mal das ein oder andere Loch auf geradem Wege zu durcheilen.

Noch mehr Spaß macht es allerdings, die schlank gewachsene Gazelle locker am breiten Lenker zupfend durch die Kraterlandschaft zu dirigieren. Richtungswechselstakkato im Sekundentakt. Fehlen eigentlich nur noch die umboxbaren Slalomstangen und die Handprotektoren aus dem Kawasaki Zubehör, um eine neue Disziplin für die nächste Winterolympiade zu etablieren.

Nach der erfolgreich durchlebten Pressepräsentation der Versys im sardischen Hinterland, wo der Stelzbock mit der strammen Gabel seine Kurvengeilheit erbarmungslos demonstrieren konnte, und nun inzwischen schon 3800 Kilometern auf den Routen der Motorradstraße Deutschland, bei denen echte Tourerqualitäten gefragt waren, ist es mir umso mehr ein Rätsel, warum dieses „Versatile System“ von Kawasaki nicht längst DER Verkaufsschlager schlechthin ist. Schon das Vorgängermodell konnte 2006 überzeugen. Fand aber viel weniger Liebhaber, als erwartet. Dabei bietet die Versys doch alles, was ein Motorradfahrer, respektive eine Motorradfahrerin sich wünschen könnte. Oder andersherum ausgedrückt: Mehr Motorrad braucht kein Mensch. Das Herz der agilen Angelegenheit ist ein knackiger Parallel-Twin mit gutem Druck aus dem Keller und ungebremster Drehfreude über 7000 Umdrehungen, der den Piloten die nominell nicht grad Schwindel erregenden 64 PS der Versys schnell vergessen läßt. Dieser ist uns mit anderem Mapping ja bestens aus der ER 6 bekannt und mußte für das Modelljahr 2010 wirklich nicht unbedingt verbessert werden. Dazu liefert das hochbeinige Fahrwerk angenehmsten Endurokomfort und guten Überblick in Verbindung mit klarem Feedback und handlich agilen 17 Zöllern.

Kawasaki Versys 2010Mensch, was war das früher für ein Akt, wenn man seine Enduro auf Straßenbereifung umbauen wollte. Andere Räder, andere Bremsen und nicht zuletzt der TÜV legten in den 90er Jahren den Privatpionieren reichlich Steine in den Weg. Doch, das wußten damals alle: Ein solcher Zwitter, egal, ob auf KTM LC4, Honda XR oder Yamaha TT Basis, war im Winkelwerk nicht zu biegen. Honda war die erste Marke, die mit der Dominator diese Nische werksseitig prominent besetze. Die Stelzige sollte allerdings auch nicht wirklich zum Verkaufsschlager avancieren. Ein Grund dafür dürfte auf jeden Fall der poltrige Einzylinder gewesen sein. Und wahrscheinlich auch die, besonders damals, noch irritierende Optik.

Kawasaki Versys 2010Genau hier macht die Versys des Jahrgangs 2010 alles besser. Ihr Zweizylinder geht knapp über Standgasdrehzahl äußerst kultiviert, aber dennoch wohltuend knurrig ans Werk. Bestes Indiz dafür ist das intuitiv frühe Hochschalten des Fahrers. Oft ertappt man sich dabei, wie man im kurzhubig und äußerst exakt schaltbaren Getriebe vergeblich nach dem siebten oder achten Gang sucht und die höhere Drehzahlregion jenseits der Kraftspendenden 7000er Marke gar nicht erst in Anspruch nimmt. Der Versys-Pilot ist mit dem Dargebotenen stets bestens bedient. Kann in der Stadt sowieso, über Land auf jeden Fall und sogar auf der Autobahn mit den Großen der Zunft ohne Probleme mitspielen. Klar, Tempi über 200 gehen nicht. Aber die sind sowieso selten genug angesagt. Meist pendelt sich die Reisegeschwindigkeit bei 150 km/h ein. Dann ist der Windschutz des neuerdings dreifach verstellbaren Windschilds noch ausreichend. Der nun mit einer zusätzlichen Gummilagerung im Rahmen verschraubte Motor dreht dabei im mittleren Bereich und begnügt sich mit einer moderaten Menge Kraftstoff. Ein Durchschnittsverbrauch von knappen fünf Litern auf insgesamt über 4000 Testkilometern generierte stets über 300 Kilometer lange Tankintervalle aus dem 19 Liter fassenden Spritbehältnis, ohne, daß auch nur einmal die Reservelampe in Erscheinung trat.

Kawasaki Versys 2010Wem der Verbrauch nicht gar so am Herzen liegt, kann die Drosselklappen auch gern auf freien Durchzug stellen. Dann offenbart die Versys ihre Racer-Gene und darf sich zurecht den Werbeslogan ihrer vierzylindrigen Großcousine ausborgen. Wie eine wilde Furie kreischt der kleine Zwilling nämlich ab 7000 Umdrehungen und rennt die Drehzahlskala hurtig bis hinauf in den fünfstelligen Bereich. Und zwar stets mit steigendem, durchaus beachtlichem Zug nach vorn. Dann heißt es Ellbogen hoch, in die Crosser-Position gerückt, die Schenkel an den schmalen Tank gepresst, die Stiefelsohlen fest in die vibrationsmindernd Gummi belegten Rasten gestemmt und durch das Winkelwerk gefeuert. Mein lieber Scholli. Da hängt dich keiner ab. So viel Aggressivität hätte man dem treuselig dreinblickenden, aufgehübschten Zyklopenauge gar nicht zugetraut. Umso mehr freut sich der Pilot in diesem Modus über das in Zug- und Druckstufendämpfung komplett einstellbare Fahrwerk, das nahezu an der Straße zu kleben scheint. Sicher ein Verdienst der langen, vor allem negativen, Federwege. Dort, wo andere schon abheben, kann die Versys ihre ellenlangen Beine in die Fahrbahnsenke hineinstrecken und stets den so wichtigen Kontakt zur mehr oder weniger gripreichen Asphaltdecke halten. In Verbindung mit dem, in Deutschland, serienmäßigen ABS an den schicken Petal-Bremsscheiben, ein sehr Vertrauen erweckendes Gesamtpaket. Zu dem sich für das Jahr 2010 eine deutlich gefälligere Optik mit dynamischeren Kanten gesellt. Vielleicht liegt ja in den nun geschmeidigeren Linien der Schlüssel zum Verkaufserfolg. Mit 7990 Euro positioniert Kawa die Versys auf jeden Fall in der Mitte ihrer Mitbewerber. Bietet mit der guten Verarbeitung und vernünftigem Zubehör, sowie variabler Sitzhöhe, dank gegeelter Austauschbänke, insgesamt 8 Zentimeter Individualisierungsmöglichkeit. Zudem gibt es für den Sozius neue Haltegriffe und ebenfalls mit Gummi belegte Fußrasten gegen das Kribbeln unter den Sohlen. Nicht ganz so gut gefallen uns die auf Aluminium getrimmten Seitenverkleidungen im Rahmendreieck. Schwarz wäre hier die Farbe meiner Wahl gewesen. Was Kunststoff ist, sollte auch so aussehen. Im Gegenzug, quasi als Wiedergutmachung, gibt es das schöne seitlich angebrachte Federbein an der zudem sehr aufwändig gearbeiteten Aluminium-Schwinge zu bewundern und zu erleben. An dieser Stelle haben die Mitbewerber meist nur unansehnlich zusammengebratene Kastenprofile zu bieten.

Kawasaki Versys 2010Schwer zu sagen, wie die Versys sich in diesem Jahr verkaufen lassen wird. Eines jedenfalls steht für mich fest. Sie ist das meist unterschätze Krad der vergangenen Jahre. Und hat auf jeden Fall eine Probefahrt verdient. Doch vorsicht: Einmal Versys – immer Versys! Ich jedenfalls bin froh, daß ich noch weitere 8000 Kilometer auf der Motorradstraße Deutschland mit ihr abreißen darf. Ich habe zwar gar kein Navi und will auch keines, aber für alle, die so einen Mädchenkompass brauchen, hat Kawa serienmäßig eine 12 Volt Steckdose montiert. Nun aber los zum Kawahändler, eine Probefahrt mit der Versys vereinbaren, bevor die Straßenwacht die ganzen schönen Krater in den Straßen wieder mit Kaltasphalt zupappen kann.