aus bma 12/06

von Klaus Herder

Kawasaki Versys Nein, Kawasaki Deutschland hat mir kein Weihnachtsgeld überwiesen. Und vom Kawa-Händler des Vertrauens ist auch noch kein Präsentkorb eingetrudelt. Es ist reiner Zufall, daß Sie exakt ein Jahr, nachdem ich an dieser Stelle die ER-6n in den höchsten Tönen gepriesen habe, erneut eine Kawasaki-Lobrede lesen können/ dürfen/müssen. Oder vielleicht auch nicht, denn die Grünen geben gewaltig Gas, deutlich mehr als ihre japanischen Wettbewerber. Waren Kawasaki-Händler noch vor ein paar Jahren ob der Modellpolitik ihres Mutterhauses wirklich zu bemitleiden, macht es mittlerweile wohl wieder richtig Spaß, für den Verein zu arbeiten. In Sachen „leckere Neuheiten 2007” war Kawasaki auf der Intermot in Köln jedenfalls DER Überflieger.
Danach sah es Mitte des Jahres allerdings noch gar nicht aus. Was da in Form erster Pressefotos auf die Redaktions-Schreibtische flatterte, versprach eine echte Lachnummer. Die ersten Versys-Bilder waren möglicherweise etwas zu „frontbetont”. Jedenfalls stachen die ungewöhnlich gestaltete Halbschalenverkleidung und insbesondere der noch ungewöhnlichere Scheinwerfer gewaltig heraus. Wir Schreiberlinge feixten uns einen, der Begriff „Nasenbär” machte die Runde, und ein Kollege fand den ab sofort ausschließlich gültigen Versys-Spitznamen: Bert. Genau, Bert aus der Sesamstraße. Dessen Riechorgan diente den Kawasaki-Designern vermutlich als Stilvorlage. Als ich den Kawasaki-Händler des Vertrauens mit besagten Bildern konfrontierte, verdrehte er nur die Augen. Wir waren uns alle einig: Die Versys wird ein gnadenloser Flop!

 

Drei Monate, eine Messe und viele Fahrberichts-Kilometer später leisten ich und eigentlich alle, die die Versys live gesehen/gefahren haben, Abbitte. In natura wirkt die 650er viel gefälliger als auf allen Fotos. Und was noch überraschender ist: Sie fährt sich noch etwas besser als die auch schon sehr gute ER-6. Von der stammt die Versys ziemlich direkt ab. Mit Gitterrohrrahmen und flüssigkeitsgekühltem Zweizylinder-Reihenmotor glänzt bereits die ER-6. Doch die Versys kommt viel hochbeiniger daher als die Viertplazierte der Zulassungs-Hitparade 2006. Aber es sind nicht nur neue Federelemente mit längeren Arbeitswegen, die den Unterschied machen. Viele Detailänderungen verpaßten der Versys einen ganz eigenen Charakter. Anders gesagt: Wo die ER-6 das grundsolide und superhandliche Fahrtenmesser abgibt, macht die Versys auf Leatherman.
Kawasaki Versys Das Kawasaki-Multitool sorgt bereits beim ersten Kontakt für ganz viel Vertrauen. 835 Millimeter Sitzhöhe sind auf dem Papier gar nicht mal so wenig, in der Versys-Praxis aber auch für eher kürzere Menschen locker sitzbar. Die im vorderen Bereich sportlich schmal, weiter hinten tourenmäßig breiter geschnittene Sitzbank macht es möglich. Der im Beinbereich ebenfalls recht schmal geformte 19-Liter-Tank erlaubt beim Ampelstop ebenfalls beidbeinigen Bodenkontakt und in Fahrt sauberen Knieschluß. Die Hände finden ganz automatisch zum breiten Stahlrohrlenker und den – typisch Kawasaki – beidseitig verstellbaren Handhebeln. Die Spiegel zeigen tatsächlich das rückwärtige Geschehen und nicht die Jackenärmel. Die Kombination aus analog anzeigendem Drehzahlmesser und Digital-Tacho liegt perfekt im Blickfeld und wirkt nicht ganz so aufgepfropft wie bei der ER-6n. Wer jetzt schon herumschrauben möchte, kann die Mini-Windschutzscheibe mit Hilfe eines kleinen Innensechskantschlüssels aus der Serienposition zwei Zentimeter nach oben oder nach unten setzen. Wirklich notwendig ist das nicht, die Standard-Einstellung ist im Normalfall die beste, weil immerhin etwas schützende und weitgehend turbulenzfreie Wahl. Noch bevor der Motor läuft, sammelt die Versys weitere Pluspunkte, denn das Rangieren ist mit ihr ein Kinderspiel – egal, ob man die vollgetankt 210 Kilogramm schwere Maschine sitzend und füßelnd bewegt oder schiebend neben ihr geht. Alles wirkt unglaublich gut ausbalanciert, Lenker und Soziusgriffe liegen genau dort, wo man sie beim Ein- oder Ausparken braucht. Besitzer einer typischen Normgarage wissen, wovon hier die Rede ist. Auf einen Hauptständer müssen Versys-Besitzer aber leider verzichten, denn an dessen Stelle sitzt der Schalldämpfer. Aber auch das hat Vorteile, denn so konnten die Soziusrasten angenehm niedrig montiert werden, und bei der Montage von Packtaschen oder Koffern stört auch nichts.
Einspritzanlage und Startautomatik sorgen zuverlässig dafür, daß der 650er-Twin immer und überall sofort anspringt. Angenehm bassig und recht erwachsen brummelt die Kawasaki aus besagtem Auspuffstummel. Der Griff zur seilzugbetätigten Kupplung stellt selbst Weichgreifer vor keine unüberwindlichen Hindernisse. Der Gegenläufer mit 180 Grad Hubzapfenversatz und einer Ausgleichswelle stammt prinzipiell von der ER-6, doch irgendetwas ist bereits auf den ersten Metern anders. Das Teil fühlt sich viel kräftiger an, vermelden Hintern und Bauch! Kann nicht sein, sagt der Verstand. Die Papierform spricht zumindest auf den ersten Blick dagegen, denn die Versys ist satte acht PS schwächer als die ER-6. In Zahlen: 64 PS bei 8000 U/min für die Versys; 72 PS bei 8500 U/min für die ER-6. Beim maximalen Drehmoment sieht’s ähnlich aus. Versys: 61 Nm bei 6800 U/min; ER-6: 66 Nm bei 7000 U/min. Und trotzdem soll die Versys besser gehen – wie denn das? Ganz einfach, denn bislang war hier nur von Maximalwerten zu lesen. In der Praxis viel entscheidender ist aber (zumindest abseits der Rennstrecke), wie die Fuhre im unteren und mittleren Bereich drückt. Und genau dort macht die Versys einen ganz famosen Job.
Kawasaki Versys CockpitEine völlig neue Abstimmung ist dafür verantwortlich. Die Kawasaki-Ingenieure verbauten andere Nockenwellen, programmierten das elektronische Motormanagement neu und montierten ein Interferenzrohr zwischen den beiden Krümmern. So blieben zwar die besagten acht PS Spitzenleistung auf der Strecke, aber zwischen 2000 und etwas über 7000 Touren – also genau in dem Bereich, in dem Otto Normalfahrer den mit Abstand größten Teil seiner Motorradzeit verbringt – stemmt die Versys immer spürbar mehr Drehmoment auf die Kurbelwelle als die ER-6. Gasannahme und Leistungsentfaltung sind noch einen Tick besser geworden, spürbare Lastwechselreaktionen gibt es so gut wie gar nicht mehr. Die Laufkultur des Twins ist einfach phänomenal. Erst oberhalb von 8000 U/min wird’s mit der Versys zäh, bei 10400 U/min greift der Drehzahlbegrenzer ein. Kawasaki nennt als Höchstgeschwindigkeit für die nackte ER-6n genau 200 km/h, die vollverschalte ER-6f legt noch 10 km/h drauf. Der Spitzenwert für die Versys lautet 185 km/h, womit klar sein dürfte, daß beim Auswringen auf der Autobahn das ER-6-Doppel der Versys so ab 150, 160 km/h davonzieht. Aber ansonsten? Keine Chance! Die Versys fährt ihren Schwestern unter einem gleich guten Fahrer überraschend flott davon.
Maßgeblichen Anteil daran hat ihr superhandliches Fahrwerk mit den neuen, deutlich straffer abgestimmten und vorn wie hinten in Federbasis und Zugstufendämpfung verstellbaren Federelementen. 1415 Millimeter Radstand sind eher kurz, 65 Grad Lenkkopfwinkel recht steil und eine Gewichtsverteilung von 50/50 vorn und hinten eigentlich optimal. Dazu ein breiter Lenker, eine aufrechte und bequeme Sitzposition, sauberer Knieschluß, jede Menge Schräglagenfreiheit – alles zusammen ergibt eine wunderbare Kombination, mit der sich prächtig zaubern läßt. Die neue Upside-down-Gabel und das an der ebenfalls neuen Alu-Bananenschwinge direkt angelenkte Federbein stellen üppig Federweg (150/145 mm) zu Verfügung, und wo mit der ER-6 auf miesem Belag langsam Bewegung ins Gebälk kommt, bügelt die Versys auf ihren 17-Zöllern (120/70 ZR 17 und 160/60 ZR 17) lässig drüber hinweg. Die Fahrer handelsüblicher 600er-Supersportler müssen sich auf kurvigem Geläuf mächtig anstrengen, um gegen eine souverän bewegte Versys überhaupt eine Chance zu haben.
Kawasaki VersysSelbst dann, wenn es darum geht, vor der Kurve möglichst heftig zu ankern, ist die Kawa keine Spielverderberin. Der Doppelstopper im Vorderrad (300 mm) und der hintere Einzeltäter (220 mm), alle drei im modischen Wave-Design, sorgen dafür, daß das maximal 389 Kilogramm schwere Gesamtpaket sauber und zügig verzögert wird. Die vorderen Doppelkolben-Schwimmsättel sind zwar keine sensible Einfinger-Bremse, aber durch ihre nach einer zupackenden Hand verlangenden Art kommen auch und gerade etwas Ungeübtere und Grobmotoriker bestens damit klar. Ordentlich dosierbar und mit einem korrekt spürbaren Druckpunkt gesegnet ist auch das 600 Euro teure ABS von Bosch. Es gibt auf dem Markt ganz sicher Systeme mit weniger großen Regelintervallen, doch was in der BMW F 800 und der KTM Adventure ordentlich funktioniert, macht auch in der Kawasaki Versys einen sehr guten Job.
Das ideale Spielgerät für enge Wechselkurven kostet (ohne ABS und Nebenkosten) 6695 Euro und ist damit 500 Euro teurer als die nackte ER-6n (und 100 Euro teurer als die ER-6f). Ist die in Orange, Schwarz und Silber lieferbare Versys den Mehrpreis wert? Unbedingt! Wenn man der ER-6 neben den etwas einfachen Federelementen überhaupt etwas vorwerfen konnte, dann war es die an manchen Stellen etwas „pragmatische” Verarbeitung. Was an der ER-6 einfach nur gut funktioniert, ist an der Versys auch noch hübsch gemacht (Schwinge, Gabel und Gabelbrücken etc.) oder zumindest unter Kunststoffblenden dezent versteckt (Rahmen). Warnblinkanlage, flexibel montierte Blinker, LED-Rücklicht, zwei Tageskilometerzähler, digitale Kraftstoffanzeige – die Ausstattung stimmt ebenfalls. Die ER-6n war für mich die angenehmste Motorrad-Überraschung des Jahres 2005. Die Versys schafft das für 2006 nicht ganz, denn die Harley-Davidson XR 1200 hat es mir auf der Intermot noch mehr angetan. Aber die Harley soll ja angeblich noch ein Prototyp sein (Hahaha, was haben wir gelacht…) und kommt frühestens irgendwann 2007. Womit es die ab sofort beim Kawasaki-Händler stehende Versys dann doch geschafft hätte: Sie ist mein Neuheiten-Favorit 2006! Und das ganz ohne Kawa-Weihnachtsgeld oder -Präsentkorb. Wer hätte das nach den ersten Bildern wohl gedacht…