aus bma 3/12 – Fahrbericht

von Klaus Herder

Kawasaki Versys 1000 mit SoziusWas macht eigentlich den Erfolg des Schweizer Offiziersmessers aus? Ist es womöglich eine besonders attraktive Form? Eher nicht, zwei schnöde, völlig unauffällig geformte Kunststoffschalen mit mehr oder weniger Metall dazwischen sind weder Hand- noch Augenschmeichler. Sorgt dann womöglich eine überragende Funktionalität für den seit über 100 Jahren anhaltenden Verkaufserfolg? Wohl kaum, denn das Multifunktionsteil kann zwar vieles ein wenig, aber eigentlich nichts richtig gut. Sehr viel mehr als die Messerklinge, der Kapselheber und im Notfall mal der Korkenzieher werden von den meisten Besitzern des roten Bestsellers so gut wie nie benutzt. Und trotzdem gibt es eigentlich keine zwei Meinungen darüber, dass so ein Schweizer Offiziersmesser eine tolle Sache ist. Vielleicht ist es einfach das gute, ungemein beruhigende Gefühl, welches das geniale Teil vermittelt: Mit diesem Werkzeug in der Hosentasche oder im Rucksack kann mir nichts passieren! Ich bin für alle Eventualitäten gerüstet, mag die Welt noch so böse und gefährlich sein. Ist doch eigentlich egal, ob man tatsächlich jemals einen Mammutbaum umsägen, eine Bombe entschärfen oder eine gefesselte Blondine befreien muss. Entscheidend ist: Man könnte, wenn man wollte. Zumindest theoretisch.

Multifunktions-Werkzeuge sind mo­men­tan auch in der Motorradbranche ganz schwer angesagt. Die kompromisslosen Supersportler, die radikalen Hardcore-Enduros und die muskelbepackten Nakedbikes haben es immer schwerer, gefragt sind die großen Alleskönner. Motorräder also, die für die schnelle Solisten-Sonntagmorgen-Hausrunde genauso taugen, wie für den mehrwöchigen Urlaub mit Sozia und Gepäck in den Alpen. Motorräder, die viel Druck vom Motor, aber wenig von Wind und Wetter spüren lassen. Gerne mit viel Hubraum, aber trotzdem sparsam in Anschaffung und Unterhalt. Die Honda Crossrunner und auch die jüngst modellgepflegte Triumph Tiger 1050 sind typische Vertreterinnen dieser Spezies, die zwar immer noch mit einem Hauch Abenteuer-Outfit kokettieren, den Betrieb abseits befestigter Straßen aber nicht ernsthaft in Erwägung ziehen.

Kawasaki Versys 1000 Kawasaki hatte bislang nur in der Mittelklasse ein Multitool zu bieten: Die 650er-Versys schlug sich tapfer, sie war (und ist es immer noch) im Vergleich mit dem absoluten Kawa-Bestseller ER-6 eigentlich immer das bessere Motorrad. Es lag also nahe, das Versys-Konzept auch ein paar Hubraumstufen weiter oben umzusetzen. Das erledigten die Grünen mit einer erfreulichen Konsequenz, denn einen Vierzylinder-Reihenmotor gab es bei den großen Alleskönnern bislang noch nicht. Der Mut zum Risiko hielt sich für den einzigen japanischen Hersteller, der 2011 zulegte, aber in überschaubaren Grenzen. Hatte man mit der famosen Z 1000 doch eine geeignete Organspenderin im Programm. Die Kawasaki-Ingenieure steckten den allseits hochgelobten Reihenvierer aber nicht ganz ohne Überarbeitung in einen neuen Rahmen. Zugunsten eines höheren Drehmoments bei niedrigen und mittleren Drehzahlen verzichtete Kawasaki auf hohe Spitzenleistung. Der Versys 1000-Motor erreicht seine 118 PS bereits bei 9000/min und stemmt auch sein maximales Drehmoment von 102 Nm schon bei 7700/min (Z 1000: 138 PS bei 9600/min, 110 Nm bei 7800/min). Für mehr Leben im Kellergeschoss sorgen eine geänderte Brennraumgestaltung und die damit erzielte niedrigere Verdichtung (10,3:1 statt 11,8:1), zahmere Steuerzeiten und eine angepasste Steuereinheit der Zündelektronik und Einspritzung. Der Vierzylinder steckt in einem Rahmen, der aus einer fünfteiligen Aluminiumguss-Konstruktion und einem (reparaturfreundlich) angeschraubten Stahlgitterrohr-Heckrahmen besteht. An vier Punkten sind Motor und Rahmen miteinander verbunden, daran montierte Verstärkungsrohre rahmen den Viererpack ein.

Kawasaki Versys 1000 CockpitAuf Bildern sieht die Versys 1000 ziemlich mächtig aus, in der Praxis kommt das mit 21 Litern vollgetankt moderate 241 Kilo schwere (und damit 19 Kilo mehr als eine Z 1000 wiegende) Universalwerkzeug gar nicht so wuchtig rüber. Auch Fahrer ohne Gardemaß haben keinerlei Probleme, nach dem Aufsitzen aus 830 mm Höhe mit beiden Füßen den Boden zu erreichen. Die nicht übermäßig breite, üppig, aber nicht schwammig gepolsterte und im Übergangsbereich zum Tank angenehm taillierte Sitzbank macht’s möglich. Guten Knieschluss gibt es obendrauf, die Instrumente im Cockpit sind gut ablesbar, große Spiegel sind ebenfalls an Bord. Der breite, nicht zu hoch montierte Lenker liegt perfekt gekröpft goldrichtig zur Hand, und der leider nicht einstellbare Kupplungshebel benötigt glücklicherweise nur wenig Handkraft. Die Füße ruhen auf Rasten, die tiefer und etwas weiter vorn als bei der Z 1000 montiert sind, ein recht entspannter Kniewinkel ist die Folge. Es kann also losgehen? Noch nicht ganz, der Versys 1000-Neuling benötigt noch eine kurze Einweisung in Sachen elektronische Helferlein. Die werden über Select-Taste und Wippschalter an der linken Lenkerarmatur bedient. Zum einen ist das eine dreistufige und bei Bedarf auch abschaltbare Traktionskontrolle (KTRC, „Kawasaki Traction Control“). Zum anderen die Möglichkeit, zwischen zwei Power-Betriebsprogrammen zu wählen: volle Kanne oder Schisser-Modus mit maximal 70 Prozent Leistung und sanfterer Gasannahme. Greifen wir der Sache vor, und machen wir es kurz: Die Traktionskontrolle ist eine wirklich feine, hervorragend funktionierende Sache. In Betriebsart 1 und 2 lässt das System immer noch einen gewissen Schlupf zu, in Betriebsart 3 regelt das System zusätzlich Zündzeitpunkt, Kraftstoffzufuhr und Ansaugluft, was bei wirklich rutschigen Bedingungen durchaus ein Segen sein kann. Im dritten Programm werden zudem Wheelies aller Art konsequent unterbunden, was kein Beinbruch ist. Wie gesagt: Das System lässt sich auch abschalten, gepflegtem Blödsinn (natürlich auf abgesperrter Strecke…) steht also nichts im Wege. Was allerdings der 70-Prozent-Power-Modus soll, entzieht sich der Kenntnis des Autors. Der Vierzylinder geht auch ohne Leistungsbremse dermaßen sauber kontrollierbar ans Gas, dass dieses Gimmick eigentlich völlig entbehrlich ist. Digital am Gasgriff arbeitende Grobmotoriker haben auf einer 1000er ohnehin nichts verloren, da hilft auch ein Power-Kastrator nicht wirklich weiter.

Kawasaki Versys 1000 ABSErster Gang rein. Herrlich bullig und mit kernigem Ansauggeräusch gesegnet zieht der mit 1,34 Kilo mehr Schwungmasse antretende Viererpack ab Standgas los. Der versprochene Extra-Druck im unteren Drehzahlbereich ist deutlich spürbar. Was allerdings auch damit zu tun haben dürfte, dass Kawasaki bei der Versys den 1. und 2. Gang deutlich kürzer als bei der Z 1000 übersetzt hat. Ab der dritten von sechs Fahrstufen fällt die Übersetzung dagegen länger aus, was dem 6. Gang fast schon Overdrive-Charakter verleiht. Cruising-Fans wird’s freuen, und dem Verbrauch, der auf der Landstraße knapp über fünf Liter liegt, tut’s auch gut. Angenehm sanft, aber trotzdem sehr direkt reagiert der Versys-Motor auf Befehle der Gashand. Dabei spielt er seine typische Reihenvierzylinder-Tugenden aus, zum Beispiel einen recht kultivierten Lauf. Ab 6000/min passiert dann zweierlei: Der Motor legt eine Schippe nach und erfreut mit zweiter Luft. Zudem schickt er spürbare Lebensäußerungen in Rasten und Lenker­enden – es vibriert vernehmbar. Geschenkt, dass Ka­wa­saki-Reihen­vierer eher etwas hemds­ärmlig zur Sache gehen, ist nun wahrlich nichts Neues, gehört eigentlich dazu und wird von Fans erwartet. Wer das nicht mag, kann ja Honda kaufen. Bis gut 9000/min hält der vehemente Schub an. Dabei stehen dann im letzten Gang knapp 230 km/h auf der Uhr. Fahrer und Sozius sind bei solcher Gangart immer noch sehr bequem untergebracht, der von Hand sehr einfach höhenverstellbare Windschild schirmt ordentlich ab. Den Sprint von 0 auf Tempo 100 erledigt die große Versys in 3,5 Sekunden, von 60 bis 140 km/h zieht sie in deutlich unter acht Sekunden durch – das sind absolut standesgemäße Fahrleistungen. Die im Vergleich zur Z 1000 fehlenden 20 PS vermisst man nicht wirklich.

Kawasaki Versys 1000 in VollausstattungMit vorn und hinten jeweils 150 mm Federweg hat die 1000er deutlich mehr zu bieten als die meisten konventionellen Straßenmaschinen, kommt damit aber nicht ansatzweise in Reiseenduro-Regionen. Den auf halbwegs ebenem Asphalt brillant laufenden und haftenden Pirelli Scorpion Trail (klassenübliche 120/70 ZR 17 vorn, 180/55 ZR 17 hinten) sollte man auch nicht mehr als leichte Schotterwege zumuten. Und wenn möglich auch keine extrem groben Fahrbahnverwerfungen, denn im Hinblick auf möglichst viel Fahrstabilität sind die Federelemente eher straff abgestimmt. Dabei nicht unkomfortabel, aber für kilometerlange Waschbrettpisten gibt es eindeutig tauglichere Reisepartner. Ansonsten benimmt sich das Fahrwerk samt Upside-down-Gabel (verstellbare Federbasis und Zugstufendämpfung) sowie Zentralfederbein (ebenfalls Federbasis und Zug­stufendämpfung) tadellos und steckt einzelne Schlaglöcher locker weg. Überraschend gelungen ist das Handling des Fun-Tourers. Die Kawa lässt sich sehr leicht einlenken, sie fällt fast von allein in Schräglage und bleibt dann völlig neutral auf Kurs. Wellen oder Kanten können ihr auch in Schräglage nichts anhaben, und beim Bremsen stellt sie sich kaum auf.

Kawasaki Versys 1000 Stichwort Bremsen: ABS ist serienmäßig, die Bosch-Anlage wird auch in der Ninja ZX-10R verbaut und ist die weltweit kleinste und leichteste ABS-Einheit. Der Blockierverhinderer funktioniert im Ernstfall hervorragend. Mit sehr feinen Regelintervallen ganz dicht an der Haftgrenze holt die Anlage das maximal Mögliche heraus. Doch auch ohne ABS-Eingriff machen die Vierkolben-Festsattelzangen an den 300-mm-Scheiben einen sehr guten Job. Sie sind nicht so bissig-direkt wie Supersportler-Bremsen, benötigen für standesgemäße Verzögerung auch durchaus eine zupackende Hand, aber mit ihrer eher unaufdringlichen, dabei sehr effektiven Arbeitsweise passen sie bestens zum ganzen Charakter der Versys 1000. Die 11995 Euro teure Kawasaki ist in Weiß und Braun zu bekommen. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Japaner nicht unbedingt den hippen, auf maximale Außenwirkung bedachten Zeitgeistsurfer als Kunden ausgeguckt haben. Es sind vermutlich eher gestandene Motorradfahrer, die gern zu zweit und auf langen Touren unterwegs sind – oder es zumindest mal gern wieder wären – und sich dabei an längst vergangene Z 900-Zeiten erinnern. Menschen also, denen ein etwas lichtschwacher Doppelscheinwerfer, ein fehlender Hauptständer oder kurze 6000-km-Wartungsintervalle nicht wirklich etwas ausmachen, weil sie den tollen Motor, die hervorragende Sitzposition, das stabile und handliche Fahrwerk sowie die guten Bremsen viel entscheidender finden. Menschen, die Wesentliches von Kleinkram unterscheiden können, die allen Eventualitäten des Lebens mutig ins Auge schauen – und die genau dafür immer ein Schweizer Offiziersmesser am Mann haben.