aus bma 12/05

von Klaus Herder

Kawasaki ER-6nDie Motorradbranche ist ziemlich berechenbar. Zumindest dann, wenn es um Modellpflegezyklen, Präsentationstermine und das Schicksal von Designstudien geht. Grundsätzlich gilt: Bei Sportlern ist alle zwei Jahre eine Generalüberholung fällig, neue Produkte werden unmittelbar vor oder direkt auf einer der drei wichtigsten europäischen Messen vorgestellt, und von Hinguckern wie Sachs Beast, Suzuki B-King oder Yamaha MT-01 bleibt in der Serie gar nichts bis ziemlich wenig übrig. So weit, so langweilig.
Wie erfrischend ist es da, wenn sich ein Anbieter mal ausnahmsweise nicht an die ungeschriebenen Branchengesetzte hält und alles, ja wirklich alles komplett anders macht. So geschehen im Sommer 2005, als der kleinste der japanischen Motorradhersteller für eine Sensation sorgte. Und das nicht etwa mit einem Haste-nicht-gesehen-Supersportler, sondern ausgerechnet mit einer Maschine, die in der als konservativ-bieder gehandelten Mittelklasse antreten soll. Die Kawasaki ER-6n trägt zwar das seit 1997 in der Kawa-Typologie bekannte ER im Namen, hat mit der ER-5 aber außer der Zahl der Zylinder und dem Arbeitsprinzip nichts gemein. Sie ist eine komplette Neukonstruktion in einer Klasse, in der ansonsten gern und oft recycelt wird – das ist die Überraschung Nummer eins. Intermot, Paris, Mailand? Die ER-6n wurde urplötzlich mitten in der Saure-Gurken-Zeit und fernab irgendeines Messetermins vorgestellt. Die kurze, aber mit hervorragendem Bildmaterial bestückte Presseinformation traf ohne Vorwarnung in den Redaktionen ein – Überraschung Nummer zwei war perfekt. Die dritte und vielleicht größte Überraschung gelang Kawasaki durch die Mitteilung, daß es sich bei der ER-6n nicht etwa um einen Prototyp zum Testen des Kundeninteresses, sondern um eine ab Oktober 2005 lieferbare Serienmaschine handeln würde. Und wie zur Bestätigung luden die Japaner auch sofort zur Fahrpräsentation. Nicht etwa in exotische Gefilde, sondern nach Salzburg/Österreich. Dort gingen Mitte Juli sintflutartige Regenfälle nieder, doch was vermutlich jede andere Präsentation im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser hätte fallen lassen, konnte der ER-6n fahrenden Journalistenschar nichts anhaben. Dieses Motorrad sorgte von Anfang an für so viel gute Laune, wie ich es in über 16 Jahren als Schreiberling bei kaum einem anderen Motorradmodell je erlebt habe.

 

Daran ist zunächst einmal das frische, freche Design Schuld. Endlich mal keine Streetfighter-für-Arme-Verpackung, endlich mal keine Böse-Blick-Lampenmaske, endlich mal kein Direkt-unterm-Heck-Auspuff und auch kein Knick-Knack-Kanten-Design. Bei der ER-6n haben der von Mazda abgeworbene Kawasaki-Chefdesigner und sein Team gnadenlos im Design-Angebot diverser Exoten-Hersteller gewildert und alles wild kombiniert. Der vertikal montierte Doppelscheinwerfer mitsamt Lampenmaske sieht verdächtig nach KTM Superduke oder MV Agusta Brutale aus. Die pfeilförmigen Kühlerverkleidungen mit den integrierten Blinkern kennen wir von der Benelli TnT. Fetter Auspuff-Endtopf direkt unterm Motor? Na klar: Die Idee stammt von Buell. Und der Gitterrohrrahmen mit Cantilever-Schwinge und versetzt montiertem Federbein dürfte Kennern der Ducati-Supersportreihe bekannt vorkommen. Und was soll daran so schlimm sein? Rein gar nichts, im Gegenteil: Lieber frech geklaut und frisch kombiniert, als den x-ten Aufguß eines langweiligen Allerwelts-Designs zu präsentieren. Das die Designer auch noch kräftig in den Farbtopf langten und den eigentlich unspektakulären Stahlrohrrahmen und die ebenfalls sehr konventionelle Stahlrohrschwinge in wichtiges Gold (oder Rot beim silbernen Modell) tauchten, macht die ER-6n noch auffälliger und noch sympathischer. Vermutlich ließen sich sogar die Kawa-Kaufleute vom Hingucker-Gedanken mitreißen, denn die Rotstiftartisten genehmigten drei wichtig aussehende, technisch aber nicht wirklich zwingend notwendige Wave-Bremsscheiben.
Kawasaki ER-6nDoch die Kawasaki-Truppe beschränkte sich nicht nur aufs Zitieren und Kombinieren. Beim Motor war radikales Konstruieren gefragt, denn der Zweizylinder ist eine komplette Neuentwicklung. Doch warum zwei Zylinder, wo doch Honda mit der CBF 600 und auch Suzuki mit der kleinen Bandit mit vier Zylindern in der Mittelklasse erfolgreich sind? Eben genau deshalb, denn einen weiteren Vierzylinder brauchte in dieser Kategorie niemand – das hat zwischenzeitlich ja auch Triumph bei den Supersportlern gemerkt. Außerdem wäre ein Vierzylindermotor für das angestrebte Konzept viel zu breit und zu schwer gewesen. Und eben dieses Konzept lautete: Kurzer Radstand, lange Schwinge, schmale Taille, niedrige Sitzhöhe, viel Schräglagenfreiheit und vor allem ein geringes Kampfgewicht. Aus mindestens zwei Gründen kam auch ein V-Twin nicht in Frage. Erstens: Gab’s schon. Zweitens: Viel zu lang. Also nahmen sich die Kawasaki-Techniker den ultrakurzen Reihenvierzylinder der ZX-12R als grobes Muster, halbierten ihn, legten beim Hub noch etwas zu und an mindestens 375 Teilen Hand an – und heraus kam ein mit 180 Grad Hubzapfenversatz arbeitender Zweizylinder-Reihenmotor, der noch kompakter und noch leichter als der auch schon recht versammelte ER-5-Motor ausfällt.
Mit Flüssigkeitskühlung, zwei oben liegenden Nockenwellen, je vier über Tassenstößel betätigten Ventilen, einer Ausgleichswelle und Einspritzanlage ist der Kawa-Twin ein durch und durch moderner Motor. In Kombination mit dem wartungsfreund- lichen Sechsgang-Kassettengetriebe und dem geregelten Dreiwege-Katalysator ist der Zweizylinder sogar ziemlich einzigartig. Als bislang einziger Motor seiner Klasse erfüllt er schon jetzt die Euro-3-Abgasnorm. In Sachen Leistung und Drehmoment steht der Twin gut im Futter: Maximal 72 PS bei 8500 U/min und 66 Nm bei 7000 U/min sind klassenübliche Werte. Honda CBF 600 und Suzuki Bandit 650 leisten mit 78 PS zwar etwas mehr, doch sie sind mit vollgetankt 224 und 229 Kilogramm deutlich schwerer als die fahrfertig 196 Kilogramm leichte Kawasaki, und sie sind etwas länger übersetzt. Die Folge: Die Kawa hat in Sachen Beschleunigung und Durchzug die Nase vorn und verbraucht trotzdem deutlich weniger.
Kawasaki ER-6n CockpitAuf dem Papier wirken 790 Millimeter Sitzhöhe gar nicht mal so niedrig – die Konkurrenz bietet ähnliche, teilweise sogar noch geringere Werte. Doch in der Praxis kommt die Sache mit dem hauteng um den ultrakompakten Motor geschnittenen Rahmen ins Spiel, und schon sieht die Sitzhöhen-Welt viel niedriger aus. Die schmale Taille, der schlanke 15,5-Liter-Tank und die eng anliegenden Fußrasten sorgen dafür, daß sich auch Menschen mit nur 1,60 Metern Gesamtlänge auf der ER-6n auf Anhieb gut untergebracht und sehr sicher fühlen. Ab 1,65 Meter Körpergröße haben im Normalfall beide Füße sicheren Bodenkontakt, und auch für die nächsten 20 Zentimeter der Körperlängen-Skala gibts auf der ER-6n absolut nichts zu meckern. Ab gefühlten 1,86 Metern zwickts aber in den Beinen, denn dann fällt der Kniewinkel zu spitzt aus. Doch Abhilfe ist in Sicht, denn vermutlich ab Januar 2006 hat Kawasaki auch eine höhere Sitzbank für Menschen mit Gardemaß im Programm. Bis dahin gibts vielleicht auch einen etwas flacheren Lenker. Für kleinere Menschen, Einsteiger und Tourenfahrer ist die serienmäßige, relativ schmale, hohe und dem Fahrer entgegen kommende Stange zwar perfekt, doch wer den Heizer in sich entdeckt (und der geniale Motor hilft dabei kräftig mit…) wünscht sich irgendwann vermutlich einen etwas flacheren und weiter vorn montierten Lenker. Andere, sportlicher aussehende Spiegel hält das Kawasaki-Zubehörprogramm schon jetzt bereit. Hübsch anzusehen sind auch schon die Serienteile, hübsch reinzusehen ist bei ihnen allerdings eher nicht, denn außer den Fahrerarmen läßt sich in ihnen nicht viel mehr erkennen. Ansonsten herrscht am Arbeitsplatz aber nur eitel Sonnenschein. Brems- und Kupplungshebel lassen sich in guter Kawasaki-Tradition verstellen und perfekt auf die jeweilige Griffweite anpassen; das frech aufgepropfte Cockpit liegt direkt im Blickfeld, ist sehr übersichtlich, und endlich gibts bei einer Kawasaki auch wieder einen analog anzeigenden Drehzahlmesser. Die digitale Geschwindigkeitsanzeige ist ausreichend groß und stört nicht weiter. Die Multireflektor-Scheinwerfer sehen nicht nur wichtig aus, sie sind auch echte Strahlemänner und leuchten prächtig die Fahrbahn aus.
Kawasaki ER-6nDank Startautomatik ist das Anlassen ein Kinderspiel. Mit leicht erhöhter Leerlaufdrehzahl und dezent grummelnd nimmt der Twin immer auf den ersten Knopfdruck die Arbeit auf. Ab 2000 Touren gehts ruckfrei voran, die Gasannahme des Einspritzers ist von der eines perfekt eingestellten Vergasermotors nicht zu unterscheiden. Ab 3000 U/min darf Leistung gefordert werden. Im leicht und auf relativ kurzen Wegen zu schaltenden Sechsganggetriebe darf, muß aber nicht fleißig gerührt werden. Die Freunde des faulen Schaltfußes können durchaus ihrer Leidenschaft frönen, Stepptänzer werden aber ebenfalls glücklich, denn der ER-Twin kann beides: Country und Western. Für eine 650er zieht die ER wirklich bärig durch, das Klangerlebnis nimmt mit steigender Drehzahl zu, besonders das Ansauggeräusch ist von angenehm kerniger Art. Ab 6000 U/min arbeitet der Zweizylinder im Sportmodus und zeigt seinen wahren Charakter. Oder anders gesagt: Niemand, wirklich niemand braucht in dieser Klasse einen Vierzylinder! Bis zum roten Bereich bei 11000 U/min kennt der Motor kein Halten mehr. Kein Rucken, kein Zucken, keine Macken, der Twin dreht einfach munter drauflos und schiebt das Leichtgewicht gewaltig voran. Aus dem Stand ist das Landstraßenlimit in unter vier Sekunden erreicht. Nun gehört diese Übung wahrlich nicht zum Standardprogramm eines Sonntagmorgen-Ausflugs, doch sie zeigt recht eindrucksvoll, daß Motor und Masse hier eine gelungne Verbindung eingegangen sind. Die Ausgleichswelle leistet auch jenseits der 100 km/h ganze Arbeit, denn die fiesen Vibrationen bleiben immer draußen, die angenehmen Lebenszeichen sind aber jederzeit spürbar. Kawasaki nennt 200 km/h als Topspeed, die vermutlich etwas optimistische Digitalanzeige vermeldet beim Eingreifen des Drehzahlbegrenzers muntere 220 km/h. Selbst wer sehr beherzt an der Kordel zieht, bringt es kaum fertig, mehr als fünf Liter Normalbenzin auf 100 Kilometern abzufackeln. Otto Normalheizer verbraucht eher 4,5 Liter oder noch weniger.
In Sachen Fahrverhalten ist es nun an der Zeit das vielzitierte Bild des Fahrrad-Handlings aus der Floskel-Kiste zu holen. Oder besser: Noch eins draufzulegen, denn das, was sich mit der ER-6n im Kurvengewirr anstellen läßt, hat eher die Bezeichnung „Mountainbike-Handling” verdient. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere unter den älteren Lesern noch daran, wie leichtfüßig man früher mit einer 250er unterwegs war. Genau so fährt sich die ER-6n, nur daß statt 17 oder 27 PS eben üppige 72 PS an der Kette zerren. 250er-Handling und 650er-Druck in einem modernen Fahrwerk mit ausreichend straff abgestimmten Federelementen – diese Kombination macht unglaublich Spaß, aber sie kann auch für unglaublichen Ärger sorgen. Motorräder der 650er-Klasse werden nämlich gern von Motorrad fahrenden Ehemännern für ihre eher selten Motorrad fahrende Ehefrauen angeschafft. Da zuckelt Vati dann mit der R 1200 GS vorneweg und Mutti mit der F 650 artig hinterher. Wer seiner Liebsten allerdings eine ER-6n vor die Tür stellt, macht womöglich einen gravierenden Fehler. Mit dem Hinterherzuckeln wird es nämlich bald vorbei sein. Die unglaublich fahraktive Kawasaki macht selbst aus phlegmatischen Anfängern in kurzer Zeit kurvengierige Anheizer. Und dann kann es doch ziemlich peinlich werden, wenn Mutti von hinten plötzlich mächtig Druck macht. Übermäßig viel Angst vorm Überbremsen muß dabei niemand haben, denn die Doppelkolben-Schwimmsättel im Vorderrad lassen sich sauber dosieren und packen nicht übermäßig giftig, dafür aber schön gleichmäßig und gut berechenbar zu. Ausgewiesene Sportfahrer würden sie vielleicht als etwas zahnlos empfinden, für Normalfahrer sind die Stopper aber bestens abgestimmt. Die hintere Einzelscheibe greift naturgemäß deutlich weniger ins Geschehen ein und fällt weder besonders positiv oder negativ auf.
Wer es trotzdem wagen möchte ist mit 6195 Euro inklusive Nebenkosten dabei. Ab Dezember gibts für rund 600 Euro Aufpreis ein ABS-System von Bosch, zur gleichen Zeit soll auch das vollverkleidete Schwestermodell ER-6f in den Handel kommen. Egal ob nackt oder verkleidet, ob mit oder ohne ABS – die Kawasaki ER-6n ist für mich die angenehmste Motorrad-Überraschung des Jahres 2005. Sie macht Anfängern und Profis gleichermaßen Spaß, sie ist ein echter Hingucker, aber kein Blender. Ein einfaches, aber gut funktionierendes Fahrwerk, einen modernen, starken und sparsamen Motor und nicht zuletzt eine tolle Verpackung gibts hier für relativ kleines Geld. Genau so muß ein Motorrad aussehen, damit es mit der Branche wieder voran geht. Vielleicht braucht die Szene einfach noch mehr Überraschungen.