aus Kradblatt 7/15, von Werner Kolb

Indien – In die Tiefen des Himalaja
Erinnerungen an eine außergewöhnliche Motorradreise

Garwal 6Was Lourdes, Canterbury oder Santiago de Compostela für den Christen, sind Yamunotri, Gangotri, Kedarnath und Badrinath für den Hindu. Seit Jahrhunderten pilgern in den Sommermonaten Tausende Hindus aus allen Teilen der Welt in den Vorderen Himalaja, um ihren Göttern näher zu sein und so vielleicht einen Schritt weiter in Richtung Moksha zu gelangen, dem Ende des leidvollen Kreislaufs von Geburt, Tod und Wiedergeburt.

Auch ich habe mich für diese Reise nach Garhwal entschieden, doch geht es mir nicht um Tod und Wiedergeburt. Auf klassischen Royal Enfield Bikes will ich gut zwei Wochen unter Führung des Teams von Wheel of India in die Tiefen des Himalaja vordringen.

Garwal 1Als ich am Flughafen in New Delhi eintreffe, kenne ich meine Mitstreiter noch nicht. Doch ich erkenne sofort Günni, unseren Guide, an seinem großen „Wheel of India“-Schild. Wenig später trudeln auch die anderen Reiseteilnehmer ein. Wir sind ein kleines Grüppchen von vier Männern und einer Frau. Hinzu kommen noch Günni, Juma der Mechaniker und Sonu der Fahrer des Servicefahrzeugs. Mit einem Minibus geht es nach Rishikesh, in die inoffizielle Hauptstadt des Yoga, wo die Bikes auf uns warten.

Garwal 2Günni zögert nicht lange, sondern lässt uns sofort ins kalte Wasser indischer Realität springen. Zum Mittagessen besuchen wir ein Restaurant, in das sich niemand von uns alleine gewagt hätte. An den Tischen um uns herum sitzen urige Gestalten, die mit den Fingern in ihrem Essen mantschen und den mit der rechten Hand kunstvoll zu Kugeln geformten Reis mit Gemüse in den Mund schieben. Wir gucken uns ungläubig an. Doch Günni beruhigt uns, wir dürfen auch mit Löffeln essen.

Was der Kellner dann auftischt, spottet jeder Beschreibung. Vier verschiedene Gemüsegerichte, eine spezielle indische Käse-Köstlichkeit (Panir) in Tomatencreme, Basmatireis, verschiedene Fladenbrote, Joghurt, Mixed Pickles … Wir können es kaum glauben und putzen alles bis auf den letzten Rest weg. Doch damit nicht genug. Ein paar Schritte weiter in einer kleinen Seitengasse gibt es zum Nachtisch eine weitere indische Spezialität, Lassi mit Rosenwasser. Nur gut, dass wir uns gleich kulinarisch an das wirkliche Indien gewagt haben.

Garwal 4Doch damit nicht genug. Abends besuchen wir die Triveni-Ghats am Ganges. Eine unüberschaubare Menschenmenge hat sich versammelt zu einem Ritual, das alle unsere Vorstellungen übertrifft. Gut ein Dutzend Brahmanen-Priester steht am Ufer und schwenkt riesige Feuerfackeln über dem Fluss. Übergroße Lautsprecher lassen religiöse Gesänge über den Köpfen der Gläubigen schweben. Wie in Trance stimmt die Menge ein. Glocken und Trommeln erklingen. Wir setzen uns schweigend auf einen Steinhaufen, völlig überwältigt von diesem Schauspiel.

Gleich hinter Rishikesh geht es in die Berge. Wir haben Gelegenheit, die unterschiedlichen Spielarten indischer Straßen kennenzulernen. Teils super ausgebaut, mit perfekter Asphaltdecke, teils ein Meer von Schlaglöchern. Nach ein paar Kilometern die erste Panne, Conny hat sich einen Nagel in den Hinterreifen gefahren. Für unser Serviceteam kein Problem. Im Begleitfahrzeug wartet ein fertiges Ersatzrad auf seinen Einsatz, und nach wenigen Minuten rollen wir wieder. Erstes Ziel ist die alte britische Hillstation Mussoorie. Wir wohnen hochherrschaftlich in einem seit über 150 Jahren in Familienbesitz befindlichen Chateau und dinieren fürstlich, während die Hausherrin Geschichten aus der wechselvollen Vergangenheit ihres Heims erzählt.

Garwal 7Am nächsten Tag geht es richtig los. Zunächst kommen wir zügig voran, doch je mehr wir ins Innere des Himalajas vordringen, desto öfter werden wir Zeugen der unbändigen Naturgewalten, die hier herrschen. Immer wieder wird unsere Fahrt durch Erdrutsche verzögert, und manches Mal müssen wir warten, bis die Räumfahrzeuge die Straße wieder frei gemacht haben. Die Fahrt führt vorbei an Hanuman Chatti, das wir kurzerhand in Kartoffelhausen umtaufen, da der ganze Ortskern meterhoch mit Kartoffeln bedeckt ist.
Kurve auf Kurve winden wir uns immer höher hinauf. Die Straße ist schmal und in gutem Zustand. Verkehr? Fehlanzeige. Jede halbe Stunde begegnet uns vielleicht ein verlorener Jeep mit Pilgern. Ansonsten gehört die Straße uns. Wir fahren mal durch dichte, dschungelartige Wälder, dann vorbei an endlosen Terrassenfeldern, die noch mit Ochse und Holzpflug bestellt werden. Zur einen Seite geht es Hunderte Meter hinab in tiefe, finstere Schluchten, auf deren Grund ein wilder Bergbach braust, zur anderen strebt der Berg dem Himmel entgegen und lässt uns ahnen, welche Höhen wir noch zu überwinden haben. Am Abend, mit Einbruch der Dämmerung, erreichen wir ziemlich erschöpft und überfließend von den vielen Eindrücken unser Hotel in Uttarkashi.

Garwal 8Wir nutzen den freien Vormittag mit einigen Reparaturen an den Bikes. Eine Bremsleitung muss ausgetauscht, ein Vergaser gereinigt und neu eingestellt werden, und bei einem Bike ist die Rückholfeder des Kickstarters gebrochen. Es dauert einige Zeit, bis alles wieder im Lot ist, wobei Udo, Schrauber aus Leidenschaft, gerne mit Hand anlegt. So spannend es ist, mit einem technologisch vorzeitlichen Bike zu fahren, so nervenaufreibend ist die Wartung und Instandhaltung. Günni weiß davon ein leidvolles Lied zu singen. Dennoch kann man sich kein besseres Gefährt für eine Reise durch Indien vorstellen.

Garwal 3Die nächsten Tage führen uns zu den heißen Quellen in Gangnani, nach Srinagar und schließlich Gaurikund. Als wir unsere Motorräder abstellen wollen, kommt ein Polizist wütend auf uns zugerannt. Parken sei hier verboten, wir sollen unsere Bikes auf dem Parkplatz abstellen. Der liegt aber außerhalb der Ortschaft und ist nicht bewacht. Juma, unser Mechaniker kümmert sich um den Mann, und Günni schlägt vor, inzwischen essen zu gehen. Der Restaurantbesitzer lässt uns jedoch wissen, dass sein Laden geschlossen sei, „you are too late“. Enttäuscht wollen wir nach einer Alternative suchen. Doch da ertönt hinter uns die Stimme des Wirts, sein Restaurant sei nun doch geöffnet. Wer will dieses Land verstehen?!? Inzwischen scheint sich der Polizist auch beruhigt zu haben. Juma hat ihm 100 Rupien zugesteckt, was zur sofortigen Aufhebung des Parkverbots geführt hat. Den Abend verbringen wir gemütlich mit Tee und Rum, den uns der Hotelbesitzer beim nahegelegenen Militärcamp halblegal besorgt hat. Dazu muss man wissen, dass in den meisten Orten Garhwals Alkohol ebenso wie Fleisch aus religiösen Gründen streng verboten ist.

Garwal 5Wir setzen unsere Reise fort, finden uns plötzlich in „Mini-Switzerland“ wieder und erreichen schließlich Joshimat, wo wir uns für ein paar Tage einquartieren. Von hier unternehmen wir einen Tagesausflug nach Badrinath. Dieser Ort gilt als der heiligste in Garhwal. So verwundert es nicht, dass sich hier unzählige Sadhus und Gurus niedergelassen haben. Die meisten sind fröhliche Gesellen, dankbar für eine kleine Spende. Wir treffen aber auch einige ungewöhnliche Gestalten, die die verrücktesten Gelübde abgelegt haben. Einer hält schon seit Jahren seinen rechten Arm in die Höhe, und als Folge davon sind seine Gelenke völlig verknöchert. Ein anderer hat sein Meter langes Haar über eine Stromleitung gehängt und berichtet stolz, dass er es noch nie geschnitten habe.
Bevor wir die Rückreise antreten, besuchen wir noch Auli, ein bekanntes Skigebiet und für uns der höchste Punkt unserer Reise. Zu unserem Kummer hatte sich seit Tagen die Sonne nur sporadisch blicken lassen, und die Gipfel der Sechs- und Siebentausender verbargen sich hinter dichten Wolkenschleiern. Und so betrachteten wir es als ein besonderes Geschenk der Götter, dass sich uns in Auli ein überwältigender Anblick über die Bergwelt des Himalajas bot. Ja, so haben wir uns das vorgestellt, jetzt können wir getrost nach Hause fahren.

Wir legen noch einen kurzen Halt in Devaprayak ein, dem Ort, an dem die beiden Flüsse Bhagirathi und Alaknanda sich vereinen und als Ganges ihre Reise fortsetzen. In Haridwar verlässt der Ganges die Berge und setzt seinen langen Weg in der Ebene fort, vorbei am heiligen Varanasi bis nach Kalkutta. Auch wir verlassen tief beeindruckt die Welt der Götter, der hohen Gipfel und reißenden Flüsse. Uns ist völlig klar, dies war keine normale Motorradreise. Dies war ein Erlebnis, das noch lange nachwirkt, das tiefe Spuren hinterlässt.

Organisierte Reisen:
Der Fernreise-Spezialist Wheel of India bietet geführte Motorrad­reisen in Indien an.
Gefahren wird auf Royal Enfield Bikes, alle Infos und Termine gibts unter www.wheelofindia.de.