aus bma 05/04
Text & Fotos:
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Einmal im Jahr verwandelt sich das Urlaubsparadies Daytona Beach in die weltgrößte Biker-Metropole. Es werden Motorradrennen, Harley-Treffen und Chopper-Shows veranstaltet. Zweifellos zu den Geheimtipps gehören jedoch die privaten Motorradfahrerparties. Mein Freund Harry nahm mich zu einer ganz besonderen Fete mit und dabei zeigte mir unser Gastgeber Larry ein einmaliges Indian-Gespann.
Gut 50 Gäste sind zur Party von Larry Wood gekommen. Die Gesellschaft ist leger gekleidet, man flachst miteinander herum, lacht herzhaft, prostet sich zu, die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Wären die Herrschaften allerdings einige Jahrzehnte jünger, könnte fast der Eindruck entstehen, man ist bei einer Teenager-Party. Doch ein Blick in die Runde belehrt eines Besseren. Nur wenige sind unter Sechzig. Lediglich zwei „junge” Burschen können notfalls den Altersschnitt senken. Mein Kumpel Harry ist gerade 49 Jahre alt und ich habe lediglich drei Jahre mehr auf dem Buckel. Bei der Party sind wir sozusagen die Küken. Doch unter Motorradfahrern spielt das Alter ja bekanntlich keine Rolle. In Daytona Beach ist Bike-Week, und für Larrys Freunde gehört seine Party schon zur Tradition. Larry, dem mein Interesse für sein Indian-Gespann aufgefallen ist, lädt uns für den nächsten Morgen zum American-Breakfast ein und verspricht, mir danach seine Indian vorzuführen.
Bis Ende der achtziger Jahren war Larry Besitzer einer Firma, die Roboteranlagen herstellte und für den europäischen Markt sogar ein Büro in Paris unterhielt. Als er ins Rentenalter kam, verkaufte der erfolgreiche Geschäftsmann sein Unternehmen und ließ sich 1992 im sonnigen Daytona Beach nieder. Hier baute er ein Haus, das den Palästen aus der TV-Serie „Denver” oder „Dallas” um nichts nachsteht, und genießt seitdem das Leben. Mittlerweile ist der agile Rentner über 70 Jahre alt, doch vom Faulenzen oder Ausruhen hält er nicht viel. Sein Hobby sind alte Motorräder, die er mit größter Hingabe und pedantischer Perfektion restauriert. Sind die Bikes nach seinen Vorstellungen in neuen Glanz versetzt, besucht er mit seinen Kostbarkeiten Oldtimer-Rallyes oder fährt nur so zum Spaß durch die Gegend. Über ein Dutzend Maschinen von Harley-Davidson, Indian und Henderson umfasst seine Kollektion. Prachtstück ist zweifellos das Indian-Gespann. Diese Maschine ist dem leidenschaftlichen Motorradfan besonders ans Herz gewachsen. Als er 1991 heiratete, diente das Gespann als „Hochzeitskutsche” für die Fahrt zum Standesamt. Larry, der seit über 20 Jahren Oldtimer sammelt, wollte schon immer eine Zweizylinder-Indian aus der frühen Firmengeschichte besitzen. 1978 war es soweit. Für eine „Handvoll Dollar” kaufte er die Indian Big-Twin von 1914, die, wie er sagt, ein Haufen Müll war und eigentlich zum Restaurieren kaum noch geeignet schien.
Genau in dieser Zeit, 1914, war das Motorradwerk in Springfield/Massachusetts in der Hochblüte seiner 53-jährigen Firmengeschichte, die bereits bis dahin auf einen außergewöhnlichen Geschäftserfolg sowie sensationelle technische Entwicklungen zurückblicken konnte. Die „Hendee Manufacturing Company” wurde 1900 von dem Fahrradfabrikanten George M. Hendee und dem in Schweden geborenen Motorenkonstrukteur Carl Oskar Hedström gegründet. Ein Jahr später brachten die beiden cleveren Jungunternehmer ihr erstes Einzylinder-Viertakt-Motorrad mit 213 ccm Hubraum und 1,75 PS auf den Markt. Im Prinzip ähnelte dieses Gefährt allerdings noch sehr einem Fahrrad mit Hilfsmotor, doch im Gegensatz zu anderen Motorradherstellern, die auf Riemenantrieb schworen, wurde bei der Indian das Hinterrad via Kette angetrieben.
Das Logo „Indian” hatten sich Hendee und Hedström schützen lassen, sicherlich ohne bereits damals zu ahnen, dass der Name Indian Motocycle klangvoll in die Motorradgeschichte eingehen sollte. Der flotte Einzylinder kam gut an. 1902 konnten sie 143 Maschinen und im nächsten Jahr bereits 377 Fahrzeuge verkaufen. Hendee und Hedström hatten ihr Motorradwerk professionell organisiert und nach modernsten Erkenntnissen eingerichtet. Sechs Jahre nach Firmengründung konstruierte Hedström einen Zweizylinder-V-Motor mit 42 Grad Zylinderwinkel, 633 ccm Hubraum und 4 PS. 1907 konnte der Kunde zwischen der Indian mit Einzylinder-Motor oder V-Motor wählen. Ab nun ging es mit der Firma mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts. Landauf, landab wurden an ausgewählte Händler Verträge vergeben, und Importeure in Südamerika, Südafrika und Australien eingesetzt. Bis 1913 hatte sich das Unternehmen zu einem gewaltigen Motorradproduzenten mit über 3000 Mitarbeitern entwickelt, von denen in diesem Jahr 32.000 Maschinen gefertigt wurden. Für den Verkauf und die Wartung der Feuerrösser waren in den USA 1200 Motorradhändler und im Ausland über 1800 Vertragswerkstätten zuständig. Weltweit war Indian somit zum größten Motorradhersteller aufgestiegen. In den USA konnte das Werk 42 Prozent Marktanteil verbuchen.
Auch im Rennsport sorgte man ständig für Sensationen. Die prestigeträchtige 1000-Meilen-Fahrt quer durch England gewann 1907 T. K. Hastings auf einer Indian, und 1911 brachte die amerikanische Marke die englische Motorradindustrie und Motorradfans gänzlich aus dem Häuschen. Bei der berühmten Senior-TT auf der Isle of Man belegten die Indian-Fahrer Godfrey, Franklin und Moorhouse die ersten drei Plätze. In den Staaten war es Werksfahrer Jack De Rosier, der zwischen 1908 und 1913 über 900 Siege für Indian holte.
Topmodell im Indian-Angebot 1914 war die 1000er Big-Twin „Hendee-Special” mit Anlasser, elektrischer Beleuchtungsanlage, Tachometer, Drehgasgriff, Kupplung, Zweiganggetriebe und Vollschwingenfahrwerk. Gleichzeitig konnte das Werk ein Jubiläum feiern. Seit 1907 waren 100.000 Indian-Twins verkauft worden!
In der Zeit, „als die Motorräder noch das Laufen lernten”, war Indian in jeder Hinsicht der Konkurrenz, und damit sind alle Motorradfirmen weltweit gemeint, um viele Jahre voraus. Dieser hohe Standard lässt sich bei Larrys Gespann deutlich ablesen. Doch bis der Indianfan so weit war und das Fahrzeug originalgetreu restauriert hatte, verging Jahr um Jahr. Die Beschaffung der Ersatzteile war nämlich bedeutend schwieriger als angenommen. Hinzu kam, dass der engagierte Edelschrauber 1982 einen ebenfalls maroden Indian-Seitenwagen ergattern konnte, was die Fertigstellung des Klassikers, nun zum Oldtimer-Gespann, noch einmal verzögerte. Zum traditionellen Indian-Treffen in Springfield 1988 hatte er es aber doch geschafft. Das Gespann wurde zum Star des Meetings, und als Anerkennung für seine Arbeit wurde ihm der erste Preis überreicht. Sicherlich zu Recht. Der feuerrote Indianer strahlt wie in seinem Produktionsjahr Anno 1914, und er ist obendrein voll funktions- und fahrtüchtig.
Das Herz des mittlerweile 90 Jahre alten Motorrades ist ein luftgekühlter 42-Grad V-Motor mit ioe-Steuerung (inlet over exhaust). Bei uns ist diese Ventilbetätigung unter dem Begriff wechselgesteuert bekannt. Das Einlassventil hängt im Zylinderkopf und wird über Kipphebel, Stoßstange und Winkelhebel von der untenliegenden Nockenwelle betätigt. Das Auslass-ventil steht, wird jedoch über einen Winkelhebel direkt von der untenliegenden Nockenwelle aktiviert. Durch die Verwendung der Winkelhebel benötigt der Motor nur eine Nockenwelle. Aus 79,4 mm Bohrung und 100,8 mm Hub resultieren 998 ccm Hubraum, aus dem der V-Motor 7 PS schöpft. Für die Gemischaufbereitung sorgt ein Hedström-Vergaser und als hochmodern darf der Bosch-Mag-netzünder, der über Zahnräder angetrieben wird, bezeichnet werden. Das Zweiganggetriebe ist hinter dem Motor angeblockt, der Endantrieb zum Hinterrad erfolgt via Kette.
Ließ sich Anno 1914 nun bedeutend bequemer über die holprigen Straßen kutschieren, steckte die Bremsanlage noch in den Kinderschuhen. Für das Vorderrad gibt es überhaupt keine Verzögerungseinrichtung. Dagegen werkelt am Hinterrad eine Duplex-Bremse. Über die Trommelbremse hatten die Indian-Techniker zusätzlich eine Außenbacken-Bremse installiert. Diese aussergewöhnliche Konstruktion wurde wegen den Zulassungsbestimmungen in England gewählt, dort verlangte der Gesetzgeber für Motorräder nämlich zwei Bremsen. Als Sonderzubehör wurde 1914 eine Dynastartanlage und elektrische Beleuchtungsausrüstung angeboten. Ein gut gemeinter Luxus, der allerdings schnell wieder aus dem Angebot verschwand. Es gab nämlich noch keine geeigneten Batterien, die auf Dauer die Beanspruchung mitmachten, und so vertraute man weiterhin auf den bewährten Kickstarter und die Karbidlampen. Bei Larrys Gespann sucht man dieses Sonderzubehör auch vergeblich. „Diese technischen Spielereien wurden erst etliche Jahre später serienreif und gehören nicht zu dieser Motorradgeneration”, ist seine Meinung zu dem Thema.
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