aus Kradblatt 10/21, von Torsten Thimm
Klassischer Stil trifft auf moderne Technik
Nun hat es also tatsächlich 120 Jahre gedauert, bis ich zum ersten Mal eine Indian Probe fahren und ausgiebig testen konnten. Und was für eine: die Indian Super Chief Limited Maroon bildet sozusagen die Spitze der neuen Chief Modelle und ist praktischerweise gleich zwei Motorräder in einem. Warum das so ist, lest ihr im folgenden Fahrbericht.
Da steht sie jetzt also vor mir, die neue Indian Super Chief in ihrer vollen Pracht. Modernste LED-Technik rundum erfreut die Augen des Betrachters und macht schon mal einiges her. Der dunkelrote Metalliclack und das Chrom schimmern im gleißenden Sonnenlicht um die Wette und eigentlich wäre es in der kühlen Werkstattgarage gerade wesentlich angenehmer als hier draußen. Doch was soll’s, die Einweisung in die Funktionen der Maschine sind schnell erledigt, der Schlüssel für das Keyless-Go-System fix in der Tasche verstaut und schon kurze Zeit später bläst mir der kühlende Fahrtwind durch die Lüftungsöffnungen meiner Kombi.
Im Standard Fahrmodus bobbere ich gemütlich aus der Stadt hinaus, untermalt vom sonoren Klang des luftgekühlten Thunderstroke 116 Motors. Der liefert aus den rechnerischen 1901 ccm (Indian gibt abgerundete 1890 ccm an), gewaltige 162 Nm Drehmoment, sowie 88 PS Leistung für ausreichenden Vortrieb in allen sechs Gängen ans Hinterrad. Die Kraft wird dabei über einen wartungsarmen Zahnriemen geräuschlos übertragen.
Schaltet sich das Getriebe zu Beginn der Fahrt, bei kaltem Motor erst noch ein wenig hart, ändert sich diese Charaktereigenschaft mit steigender Motortemperatur recht zügig. Die Gänge flutschen sozusagen und nach der letzten roten Ampel der Stadt biege ich von der Wärme des Tages leicht angeröstet auf die Schnellstraße ein. Damit ist es an der Zeit, die Kupplungshand endlich ein wenig zu entspannen, denn leider hat man bei Indian zwar eine leichtgängige Kupplung, aber in Sachen Handhebel nur die nichteinstellbare Standardware verbaut. Die Hebel stehen zudem noch recht weit weg, was Leuten mit kurzen Fingern auf Dauer definitiv nicht zur Freude gereicht.
Der vorhandene Tempomat indes schon, ebenso wie die beiden weiteren Fahrmodi, Tour und Sport. Sie funktionieren superb. Wobei man beim Switch von Standard auf Tour nur wenig Veränderungen spürt. Beim Anwählen des Sportmodus ist allerdings Vorsicht geboten, denn wenn man die ganze Zeit gemütlich vor sich hingerollt ist, überrascht diese Stufe beim Gas anlegen mit echten BadAss-Allüren. Die volle Power steht dabei direkt und ohne doppelten Boden am Gasgriff zur Verfügung und schießt dich regelrecht in eine andere Dimension. Ich für meinen Teil war im ersten Moment wirklich von den zwei Seelen des Chiefs überrascht.
Da wir gerade beim Thema Dimensionen sind. An anderer Stelle, nämlich bei den Fahrergrößen, hat Indian Motorcycle die Unterschiede gut im Blick. Für mich sind die Verwirbelungen hinter der montierten Touringscheibe ab 100 km/h wirklich gruselig. Um genau zu sein so schlimm, dass ich die Scheibe nach meiner Ankunft zu Hause direkt demontiert habe. Dabei war die Demontage mit dem Herausschrauben zweier Inbusschrauben und dem Lösen der Klemmen kinderleicht. Mir gefiel die Maschine ohne den Schild auf Anhieb gleich noch besser. Doch wie schon gesagt, Indian hat in Sachen Touring mitgedacht und so bin ich mir ziemlich sicher, dass am Ende, eine der sechs(!)
zur Verfügung stehenden Scheibengrößen, auch mir passen würde.
Freies Fahren im Kurvenlabyrinth: Das wahre Gefühl für die Chief kommt natürlich nicht im Stop-and-go-Verkehr in der Stadt und auch nicht beim Dauergas auf der Schnellstraße auf. Nein, ihre Stärken spielt sie im Cruising Mode auf den Landstraßen aus. Dabei zeigt sie, dass man auch mit Trittbrettern durchaus sportliche Kurvenradien fahren kann, ohne dass es sofort zum Metallabrieb kommt. Zielgenau zieht sie, dank ihres straff abgestimmten Fahrwerkes, auf der erdachten Linie durch die Kurven. Bei so viel Elan schießt dir als Fahrer ein unglaubliches Lächeln unter den Helm, zumal der Indian Twin das Herausbeschleunigen aus der Kurve trotz Euro 5 mit einem tollen V2 Sound untermalt.
Überhaupt ist der Motor, neben dem ausgezeichneten Rahmen/Fahrwerk-Konstrukt, das Herzstück dieser Maschine und zwar eines, welches die Herzfrequenz definitiv ansteigen lässt. Genau mit diesem pulsierenden Gefühl unter mir lasse ich erst einmal die nächsten Kurven und Kilometer weiter laufen und genieße das entspannte Fahren im Sattel des Chiefs.
Nähere Betrachtungen: Nach gut und gerne 250 Kilometern haben der Häuptling und ich dann aber erst einmal genug Strecke hinter uns gebracht und ich halte für eine kleine Pause an. Der Tag ist noch jung und so ist genügend Zeit, um die Maschine noch einmal eingehender unter die Lupe zu nehmen.
Hierbei fällt einer der ersten Blicke, neben dem chromstrotzenden Motor, automatisch auf das digitale Rundinstrument. Das 101 mm große, Ride Command-System genannte Farb-TFT hat vielfältige Funktionen und eine integrierte Turn-by-Turn-Navigation. Smartphones werden bei Bedarf einfach per Bluetooth eingebunden. Indian zeigt damit, dass sich TFT und Emotion mit ein bisschen Aufwand durchaus vereinen lassen denn auf dem Display „drehen“ sich, wenn auch digital, wahrhaftige Zeiger vor dem Auge des Fahrers. Es würde hier den Rahmen sprengen, alle Funktionen des Ride Command aufzählen. Glaubt mir, es ist alles da was man braucht und noch vieles mehr. Das Cockpit lässt sich dabei intuitiv, wechselseitig über drei Taster an der linken und rechten Schalterarmatur der Maschine bedienen, alternativ – leider etwas fummelig mit Handschuhen – direkt am Instrument.
An den Schaltereinheiten finden sich, neben den Standardknöpfen für Blinker und Zündung, auch die Schalter des Tempomaten und aller weiteren Funktionen der Maschinenbedienung. Alles sehr übersichtlich, aufgeräumt und in typisch amerikanischem Style.
Kritik? Etwas ungünstig verläuft die Stahlflexbremsleitung der vorderen Bremse über das seitlich angebrachte Lenkradschloss, was das Abschließen der Maschine fummelig gestaltet. Die Kühlrippen des Motors sind durch den Diamantschliff sehr scharfkantig. Für alle, die gerne putzen um ihr glänzendes Chrom zu genießen, mein Tipp: hier ist wirklich Vorsicht für die Fingerkuppen geboten. Teile der Elektronik liegen mehr oder minder ungeschützt im Steinschlagbereich hinter dem Vorderrad. Ja und wer bei den wertig anmutenden Ledertaschen auf ebenso wertige Verschlüsse hofft, der wird leider durch Plastikklicks à la Scout-Ranzen etwas enttäuscht. Die passen gar nicht zum ansonsten schicken Auftritt der Maschine mit ihren Metalldeckeln, metallenen Fendern und diesem wunderschön gemachten Motor.
Der springt, nach der Pause übrigens abgekühlt, satt an und es geht entspannt zum nächsten Etappenziel weiter. Der Standardmodus ist dabei mittlerweile mein Blutsbruder geworden, denn er ist weniger aggressiv als die Sport-Variante. Außerdem lässt es sich damit gediegen und ohne Lastwechsel durch Ortschaften rollen. Genug Drehmoment ist so oder so immer vorhanden. Zudem laufen die 1.626 mm Radstand auf den 16 Zoll Speichenfelgen stressfrei, wohin auch immer der Fahrer die breite Lenkstange bewegt. Ein schönes Gefühl, das Vertrauen schafft und die Chief von der Masse abhebt.
Zwei Seelen: Und genau das ist es im Grunde genommen auch, was dem Häuptling unter mir seine beiden Seelen verleiht. Er ist zum einen mit seinen Satteltaschen und einer Rolle auf dem Heck der perfekte Tourenbegleiter. Auf der anderen Seite ist da dieser, nennen wir ihn einmal, krasse Sport-Modus und das straffe Fahrwerk, welche die Indian mit etwas Fantasie zum Wild-HorseBobber machen, mit dem man am liebsten am nächsten Drag-Race teilnehmen möchte. Diese Kombination aus Engel und Teufel ergibt eine Komposition, die ich zu Beginn der Fahrt noch nicht begriffen hatte, da mir vieles erst einmal – verglichen mit anderen Maschinen dieser Gattung – merkwürdig vorkam. Die Chief funktioniert aber anders und ich finde das sehr gut so.
Fazit: Sich von den Mitbewerbern abzuheben ist immer gut, gerade in der heutigen Zeit des Verschmelzens von so vielen technischen und optischen Teilen. Zudem kann es ein wichtiger Aspekt für die Kaufentscheidung eines Kunden sein. Mit der Indian Super Chief Limited gelingt dies zum einen durch die eigenständige Optik der Maschine, aber auch durch das immer noch luftgekühlte starke Herz in der Mitte. Daneben machen der Rahmen, das Fahrwerk und vor allen auch das Cockpit die wenigen nicht ganz so gelungenen Punkte meiner Meinung nach wieder wett. Auf diese Art und Weise bringt man nicht nur ein Chief-Modell auf die Straße,
sondern etwas Eigenständiges, was den Spirit aus 120 Jahren Firmengeschichte ins heute transportiert. Gespickt wird das alles noch mit einem riesigen Zubehörprogramm zur Individualisierung.
In diesem Sinne: nehmt selbst einmal im Schoß des Chief auf entspannten 660 mm Höhe Platz. Fühlt die 335 Kilogramm fahrfertigen Rock ’n’ Roll unter euch und lasst euch faszinieren. Die Indian Super Chief Limited ist zu einem Preis ab 22.490 € zzgl. Nebenkosten bei den Indian Vertragshändlern zu haben.
PS: Ich persönlich war für meinen Teil am Ende übrigens schon immer mehr der Indianer, als der Cowboy.
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