aus Kradblatt 2/14
von Klaus Herder

Indian Chief VintageFür Superlative kann man sich auf Dauer nichts kaufen. „Größter Motorradhersteller der Welt“ klingt prima, aber als das für die „Indian Motocycle Com­pany“ (ohne r!) galt, war gerade der Erste Weltkrieg im vollen Gange, und mit einer gut gefüllten Hose voller Behördenaufträge ließ sich natürlich ordentlich stinken. 1917 war das, und in den folgenden Jahrzehnten schafften es auch Marken wie DKW und NSU zeitweise zum „größten Motorradhersteller der Welt“ zu werden. Was nichts daran änderte, dass alle drei genannten Fabrikate irgendwann in die ewigen Jagdgründe der Motorradgeschichte eingingen. DKW und NSU harren noch immer der Wiederauferstehung, Indian lebt wieder – mal wieder, sollte man sagen, denn nachdem 1953 im Indian-Werk in Springfield/Massachusetts die Lichter ausgegangen waren, gab es diverse Versuche, den alten Indianer wieder ins Leben zurückzuholen. Darunter auch einige unwürdige und/oder unseriöse. So fertigten zum Beispiel Taiwanesen unterm Indian-Label kleine Zweitakt-Stinker. Diverse Investment-Glücksritter segelten ebenfalls unter Indian-Flagge und gaben sich sehr viel Mühe, potenziellen Anlegern Geld aus der Tasche zu ziehen, um dafür im Gegenzug mächtig viel warme Luft zu liefern.

Indian Chief Vintage FrontDoch nun scheint alles gut zu werden, denn seit 2011 ist Polaris Industries Inc. Inhaber der Markenrechte. Also nicht irgendein windiger Kapitalvernichter, sondern der weltgrößte (!) Hersteller von Schneemobilen, ATVs und Quads, der mit rund 3000 Mitarbeiter einen Jahresumsatz von 3,2 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. Und der seit 1997 mit Victory rein zufällig auch schon eine eigene Motorradmarke im Programm hat. Warum die Amis so heiß darauf waren, ausgerechnet eine eigentlich schon vor 60 Jahren beerdigte Marke wiederzubeleben, lässt sich vermutlich mit einem Wort erklären: Mythos. Alle noch so grandios gescheiterten Indian-Revival-Versuche konnten dem guten Klang des Markennamens nichts anhaben. Und der rührt im Wesentlichen aus dem ewigen Zweikampf mit der zweiten Mythos-Hausmarke Harley-Davidson. Wobei die 1901 – und damit zwei Jahre vor Harley-Davidson – gegründete Marke Indian in ihrer aktiven Zeit dem Wettbewerber aus Milwaukee meist immer etwas voraus war: Die Rothäute bauten die moderneren Motorräder: Bei Indian waren Gasdrehgriff, Mehrganggetriebe und Kettenantrieb bereits Standard, als woanders noch technische Steinzeit herrschte. Elek­trisches Licht und E-Starter gab’s ebenfalls zuerst an einer Indian. Auf der Rennstrecke hatte Indian auch meist die Nase vorn, und in Sachen Fahrwerksqualitäten und Handlichkeit gab es eigentlich keine zwei Meinungen: Indian war einfach besser. In Springfield hatte man also die etwas besseren (oder zumindest mutigeren) Techniker; in Milwaukee saßen aber eindeutig die besseren Kaufleute und Marketing-Profis. Indian gab sich mit diversen modellpolitischen Fehlentscheidungen alle Mühe, die Fuhre gegen die Wand zu fahren, und so erging es den Motorrad-Rothäuten wie den echten Indianern: Man hatte die edlere Gesinnung und sah besser aus, doch am Ende gewannen die Cowboys.

Indian Chief Vintage Armatur rechtsDoch das soll sich nun ein wenig ändern, zumindest mittel- bis langfristig. Mit Victory hat die Polaris-Truppe ja schon bewiesen, dass man aus dem Stand ordentliche Motorräder auf die fetten Sohlen stellen kann. Und mit Indian soll die Erfolgsgeschichte nun fortgeschrieben werden. Die Chancen dafür stehen gut, denn mit einem komplett neu entwickelten V2-Motor haben die Indianer einen richtig guten Pfeil im Köcher. Den „Thunder Stroke 111″ genannten Twin konstruierten die Amis in Zusammenarbeit mit ihrer Schweizer Kreativabteilung Swissauto. Als Leiter der Produktplanung fungierte mit Gary Gray ein ausgewiesener Profi, der auch schon etlichen Victory-Modellen auf die Räder geholfen hat. Doch während man bei Victory wohl nur wenige historische Vorgaben berücksichtigen musste, gab’s in Sachen Indian eine klare Ansage: Das Teil muss nach DER Indian aussehen, also am liebsten wie eine Chief aus den 40er Jahren, die mit ihren gigantischen Art déco-Fendern als Inbegriff einer Indian gilt. Auch und gerade beim Motor galt es, die Geschichte zumindest formal zu zitieren. Entwicklungs-Ingenieur Gary Gray brachte es auf den Punkt: „Wir wollten ihn so seitenventilig aussehen lassen, wie möglich.“

Indian Chief Vintage TachoDas Vorhaben dürfte gelungen sein. 49 Grad Zylinderwinkel statt deren 42 bei der Ur-Indian und hängende statt stehende Ventile fallen nicht wirklich unangenehm auf, dafür sind die ungewöhnliche, weil fast senkrecht nach unten gehende Auspuffkrümmer-Führung und die Form der Kühlrippen und Stoßstangenhülsen schon mächtig nah am Original. Und ein echter Langhuber ist der natürlich luftgekühlte Twin ebenfalls. 113 mm Arbeitsweg haben die deutschen Mahle-Kolben – 2,9 Millimeter mehr als bei Harleys Big-Twin. 101 mm Bohrung sind ebenfalls eine amtliche Ansage (Harley: 98,4 mm), zusammen macht das 1811 ccm, was 111 cubic inches entspricht, womit dann auch der Name „Thunder Stroke 111″ erklärt sein dürfte. Drei untenliegende Nockenwellen kümmern sich über Stoßstangen und Kipphebel um nur jeweils zwei Ventile pro Zylinder. Ein weiterer gravierender Unterschied zum eher kurzhubigen ohc-Vierventiler der Victory-Schwestern. Im Serientrimm leistet der mit einem Ölkühler und moderat eingreifender Ausgleichswelle antretende Indian-Motor 75 PS bei 5075/min, was in etwa auf dem Niveau vergleichbarer Harley-Modelle liegt. Mit einem maximalen Drehmoment von fetten 162 Nm bei nur 3000/min liegt die Indian aber deutlich darüber, dagegen können nur Harleys CVO-Sondermodelle anstinken. Wer das eintragungsfähige Entdrosselungskit „Tuning-Stufe 1″ verbaut, das dem Luftfilter freieres Atmen ermöglicht, ist sogar mit gut 84 PS unterwegs.

Indian Chief Vintage RahmenheckSo klassisch der Motor und die ganze Verpackung aussehen, so modern ist der Unterbau – zumindest für Cruiserverhältnisse. Ein Rückgratrahmen aus Aluminiumguss nimmt den mittragenden Motor auf. Unterzüge und Rahmenheck sind jeweils geschraubt und ebenfalls aus Alu. Das in einer Aluschwinge rotierende Hinterrad steht über einen karbonverstärkten Zahnriemen mit dem Sechsganggetriebe in Verbindung, und die Heckpartie wird über ein Zentralfederbein samt Hebelsystem satt am Boden gehalten. Der Rahmen stammt von einem Zulieferer aus Iowa, zusammengeschraubt wird die ganze Fuhre im neuen Indian-Werk in Spirit Lake, ebenfalls Iowa. Ansonsten ist die 2014er-Indian ein ziemlich internationales Produkt: Neben den besagten Kolben stammen auch Pleuel und Kurbelwelle aus Deutschland und arbeiten mit italienischen Aluzylindern zusammen; die Nasskupplung kommt aus Japan; und der Hersteller des digitalen Motormanagements mit elektronischem Gasgriff („Ride-by-wire“) und des serienmäßigen ABS heißt Bosch. Da haben die Indian-Macher schon ein flottes „Best of Zulieferer“ auf die Räder gestellt.

Indian Chief Vintage RahmenDas gibt es in drei Ausführungen: Als Indian Chief Classic (23675 Euro) und mit abnehmbarem Windschild sowie ledernen Satteltaschen samt Fransenbehang als Indian Chief Vintage (25299 Euro). Technisch sind beide Modelle völlig identisch. Zweite Baureihe und drittes Modell im Bunde ist die Indian Chieftain (26099 Euro), die mit Gussrädern, Hartschalenkoffern, Sound-System und Verkleidung antritt und sich auch durch einen steileren Lenkkopfwinkel und etwas kürzeren Radstand von den Chief-Schwestern unterscheidet. Motor ist in allen drei Fällen der besagte „Thunder Stroke 111″. Und das ist gut so, denn es ist die reine Freude, mit welcher Kraft und Herrlichkeit die neue Indian antritt.

Mit gerade mal 750/min auf dem LCD-Drehzahlmesser der Indian Chief Vintage brabbelt der Twin nach dem schlüssellosen Start im Leerlauf und klingt etwas nach Ami-V8. Der Fahrer fläzt sich derweil hinter der riesigen, ohne Werkzeug leicht abnehmbaren Windschutzscheibe im saubequemen und riesengroßen Büffelleder-Sattel – übrigens „Made in Milwaukee“ – und hat leichtes und gut dosierbares Spiel am Kupplungsgriff. Der hängt wiederum an einem gummigelagerten Lenker, der dem Fahrer sehr weit entgegenkommt und ihm eine sehr aufrechte, fast schon leicht nach hinten geneigte Sitzposition beschert. Die Füße ruhen auf Trittbrettern, die Arbeit am Schalthebel macht deutlich, dass hier klassischer Großmaschinenbau und keine filigrane Feinmechanik im Einsatz ist, alles an diesem Motorrad ist XXL. Das gilt auch für das Fahrgefühl. Natürlich sind über 6 Sekunden für den Sprint von 0 auf 100 km/h für eine 1800er nicht gerade berauschend, aber wen interessiert diese Übung? Eben. Die Wuchtbrumme wiegt mit gefülltem 20,8-Liter-Tank satte 390 Kilogramm – und damit gut zwei Zentner mehr als ihre Vorbilder. Mit normalwüchsigem Cruiser-Fahrer belegt, gilt es, einen Halbtonner in Wallung zu bringen, und diesen Job erledigt die Indian gefühlt famos.

Indian Chief VintageAlles zwischen 750 und 3500 Touren ist auf der Indian ganz großes Kino, mehr Umdrehungen müssen es eigentlich nie sein. Bei Tempo 100 im sechsten, als Overdrive ausgelegten Gang stehen noch nicht einmal 2500/min auf der Uhr. Ein Tempomat ist übrigens serienmäßig. Theoretisch rennt die Rothaut gut 190 km/h und in der Praxis würde das stabile Fahrwerk eine solche Gangart auch erfreulich unbeeindruckt mitmachen. Doch im wirklichen Leben ist die Indian das perfekte Entschleunigungs- und Erholungsgerät für den geruhsamen Sonntagvormittag auf menschenleeren Landstraßen. Die dürfen durchaus kurviger sein, denn bei aller Masse wuselt der Dampfer erstaunlich agil ums Eck. Handlichkeit und Schräglagenfreiheit sind eher cruiseruntypisch gut, die ideal ausbalancierte Maschine macht es ihrem Fahrer auch dann leicht, wenn ihn mal der Hafer etwas sticht. Das gilt auch fürs Verzögern, denn die vordere Doppelscheibenbremse mit ihren versteckten Vierkolbensätteln ankert bei Bedarf erfreulich wirkungsvoll, das moderne Bosch-ABS macht die Sache rund.

Indian Chief Vintage HeckDie neue Indian ist bei aller Alltagstauglichkeit ganz sicher kein Motorrad für alle Tage. Das wird spätestens dann deutlich, wenn es gilt, den Indianer durch dichtes Verkehrsgewühl zu führen oder auch nur zwei Mal am Tag in der Garage zu rangieren. Die Indian ist ein echtes Genussmittel für besondere Momente. Sie ist etwas moderner und kräftiger als eine Harley und natürlich viel exklusiver. Sie kostet dafür auch deutlich mehr, aber wer sieht und fühlt, welchen Aufwand ihre Macher getrieben haben, kommt sehr schnell zu der Erkenntnis, dass sie ihr Geld wert ist. Unter allen Versuchen, der Marke wieder Leben einzuhauchen, ist das der seriöseste und gelungenste. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Häuptling nicht so schnell wieder in die ewigen Jagdgründe einkehren muss. Der Motoren-Name ist jedenfalls Programm: Donnerschlag – dieser Indianer ist wirklich gelungen!x