aus Kradblatt 4/15, Text & Fotos: Winni Scheibe, www.winni-scheibe.com
Indian Chief Gespann von 1948
Gespannfahren ist eine ganz feine Sache. Doch Gespann ist nicht gleich Gespann. Jedenfalls dann nicht, wenn es sich um eine 1200er Indian Chief von 1948 mit Beiwagen und Rückwärtsgang handelt. Damals war das nämlich was ganz Besonderes, heute ist das Kombirad sogar eine äußerst kostbare Rarität.
Der Einkaufsbummel war ein voller Erfolg. Nun galt es nur noch schnell, die Sachen im Volvo-Kombi zu verstauen, und dann sollte es ab nach Haus‘ gehen. Doch Pustekuchen. Wie perplex stand die schick gekleidete Dame vor ihrem Schweden-Dampfer. Da hatte sich doch tatsächlich jemand frech hinter ihren Wagen gestellt. Von ausparken konnte keine Rede sein. Doch die Zeit sich in Rage zu bringen, fand sie nicht. Mit einem freundlichen Zuruf, „fahre sofort weg“, schwang sich der Motorradfahrer in den Sattel seiner schweren Beiwagenmaschine. Routiniert hantierte er erst links, dann rechts, stellte sich auf, trat zweimal auf den Kickstarter, und schon blubberte der Motor gleichmäßig vor sich hin. Was allerdings nun passierte, hatte die Dame nicht erwartet. Der Mann fuhr rückwärts mit seinem Gespann aus der Parklücke auf die Straße. Bevor er dann losdonnerte, hob er zum Gruß noch einmal die rechte Hand, legte den ersten Gang ein und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Dieses Mal hatte Hans Kirpestein Glück. Normalerweise kommt er so schnell nicht weg. In den meisten Fällen ist sein Indian-Gespann nämlich von Schaulustigen umlagert. Dann wird er mit Fragen gelöchert, es gibt kaum etwas, was die Leute nicht interessiert. Auch kein Wunder. Erstens steht die Chief picobello da, und zweitens genießt die amerikanische Traditionsmarke auch heute, lange nach Firmenschließung, immer noch einen außergewöhnlichen Ruf. Ein weiterer Grund, warum das Gespann überall soviel Aufmerksamkeit erregt, ist sicherlich der, über dem Reserverad aufgeschnallte, mächtige Korbkoffer. Wer so durch die Gegend fährt, ist bestimmt auf großer Tour. Und, dass Holländer gerne verreisen, weiß schließlich auch jeder. Zum Brötchen holen oder für kurze Spritzfahrten war die Indian Chief eben nie gedacht. Im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten und unendlichen Weiten“ hatten Langstreckenqualitäten Priorität. Und dazu gehörten unabdinglich ein bulliger V-Motor, möglichst mit 1200 Kubik, ein komfortables Fahrwerk, eine bequeme Sitzposition und eine breite Lenkstange, die lässig in den Händen lag. Sportliche Ambitionen, bei uns in Europa immer eine ganz wichtige Sache, zählten für US-Biker nicht zum Maß der Dinge. Wer rasen wollte, konnte Rennen fahren. In dieser Disziplin war Indian allerdings von Firmenbeginn 1901 bis zur Werksschließung 1953 führend. Alle Rennerfolge aufgezählt würden ein dickes Buch füllen, doch das ist wiederum eine ganz andere Geschichte.
In der Indian V-Twin-Baureihe war die Chief ab 1922 das Topmodell. Und wie es sich für einen richtigen Häuptling gehört, hatte das Triebwerk satte 1000 ccm. Doch nicht genug. Schon ein Jahr später folgte die Big Chief mit gewaltigem 1,2-Liter-Motor. Ein Nimbus war geboren. Tauchte irgendwo eine große Indian auf, war es für die Leute immer eine „Big Chief“. Das war damals so, das hat sich bis heute kaum geändert. Big Chief klingt mächtig, und das hat schließlich was.
Nach der tatsächlichen Modellreihenfolge ist das allerdings falsch. Die Typenbezeichnung Big Chief wurde nämlich nur solange verwendet, solange es parallel dazu die 1000er Chief gab und das war bis 1928. Ab 1929 baute Indian nur noch ein großes V-Modell und das war eben die 1200er und die hieß schlicht nur Chief. Und das änderte sich auch bis zur Werksschließung 1953 nicht mehr. Ähnlich unspektakulär verliefen innerhalb der 30-jährigen Bauzeit die jeweiligen Modifikationen. Das Chief-Triebwerk basiert auf dem von Indian-Chefingenieur Charles B. Franklin zu Beginn der zwanziger Jahre konstruierten Seitenventil-V-Motor mit zwei untenliegenden Nockenwellen und angeblocktem Dreiganggetriebe.
Nennenswerte Änderungen waren 1925 abnehmbare Zylinderköpfe aus Aluminiumguss. Die Umstellung von der umweltschädlichen Verlustschmierung auf Trockensumpfschmierung erfolgte 1933, und 1934 tauschte man den Zahnrad-Primärantrieb gegen eine Vierfachkette. Ab 1936 gab es die Magnetzündung nur noch auf Kundenwunsch, zur Serienausstattung gehörte eine neue Batterie-Spulenzündanlage mit Verteiler über dem rechten Steuergehäusedeckel. Eingebaut war das 42-Grad-V-Aggregat in einen Doppelrohrrahmen mit starrer Hinterradführung. Vorne sorgte eine Gabel mit Kurzschwinge und Blattfeder für den Fahrkomfort. Zum „Anhalten“ vertraute man auf einen doppelten Hinterradstopper, eine kombinierte Innen-Außenbackenbremse. Das änderte sich 1928, als das Vorderrad nun auch mit einer Trommelbremse ausgestattet wurde und das Hinterrad ab jetzt nur noch mit einer Trommelbremse verzögert wurde. Ein echter Rundumschlag erfolgte 1940. Inspiriert von den Detroiter-Automobilkollegen formten die Indian-Leute gewaltige Schutzbleche. Und weil man von Auto bereits schon einiges abgeguckt hatte, erhielt die Chief gleichzeitig 5.00 x 16 PKW-Reifen und eine Geradwegferderung für das Hinterrad. Ein weiterer Schritt zur Fahrkomfortverbesserung war 1946 die Einführung der Trapezgabel mit zwei Federn und separatem hydraulischen Stoßdämpfer. Der Federweg stieg von 50 auf 125 mm. Nichts änderte sich dagegen an den Indian-typischen Standards. Dazu gehörten Trittbretter, ein gut gefederter Sattel, die Kupplungswippe über dem linken Trittbrett, der lange Schaltknüppel rechts am Tank sowie Gasgriff links und Zündverstellung rechts am Lenkerende.
Von jeher waren Indians stets ideale Gespannmaschinen, die man selbstverständlich direkt ab Werk ordern konnte. Wer allerdings Lust und Laune hatte, konnte auch nachträglich einen Beiwagen anschrauben. Für die Dreiradfraktion entwickelten die Springfielder Motorradhersteller 1935 ein neues Getriebe mit drei Vorwärts- und einem Rückwärtsgang. Diese Schaltbox wurde aber auch als Sonderzubehör mit vier Vorwärtsgängen angeboten, in der Serie vertraute das Werk jedoch weiterhin auf nur drei Fahrstufen.
Für das Modelljahr 1948 griff die amerikanische Nobelmarke tief in die Trickkiste. Gleich 19 „important improvements“ versprach der neue Chief Werbeprospekt. Doch keine Bange, hierbei handeltet es sich lediglich um Detailverbesserungen, der edle Rothaut-Häuptling blieb im Großen und Ganzen so, wie er war. Das hatte auch seinen Grund. Trotz sensationeller Verkaufserfolge, 1947 ließen sich beachtliche 11.849 Chiefs an den Mann bringen, und am Anfang der Firmengeschichte, zwischen 1910 und 1928 war das Werk in Massachusetts sogar weltgrößter Motorradhersteller, krankte die „Indian Motocycle Company“ eigentlich ständig an wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Mal ging’s bergauf, dann wieder bergab. Hauptursache dafür waren etliche Besitzerwechsel, schlechtes Management, Fehlentscheidungen in der Modellpolitik sowie dubiose Finanztransaktionen. Das Ende, auch wenn man es noch nicht wahrhaben wollte, war absehbar.
Aus diesem Grund beinhalteten die technischen Verbesserungen 1948 keine gravierenden konstruktiven Veränderungen sondern ein überarbeitetes Motorgehäuse, verbesserter Ansaugkrümmer und Auspuff, geänderte Motorschmierung mit neuer Zahnradpumpe, verstärkter Kickstarter und Seitenständer sowie bessere Lichtmaschinenleistung. Anstelle der Nadellager in der Trapezgabel übernahmen nun Bronzebuchsen die Führungsarbeit, für den Fettnachschub waren überall Schmiernippel angebracht. Ebenfalls verbessert war der hydraulische Dämpfer in der Trapezgabel. Weitere Neuheiten waren Chromfelgen, ein langer Sattel für zwei Personen, ein Instrumenten-Paneel mit neuer Kontrolllampe und Zündschalter, Hupe und verchromter Scheinwerfer. Als zusätzliche Farbvariante im Katalog war „Turquoise“ aufgeführt.
Und genau in diesem Türkis ist Hans Kirpesteins Chief-Gespann lackiert. Ebenfalls 100-prozentig original ist der Seitenwagen, das Reserverad stammt aus dem Zubehörkatalog. Über drei stabile Schraubverbindungen ist der Seitenwagenrohrrahmen mit der Chief verbunden. Das dritte Rad ist ungefedert, verfügt dafür aber über eine Trommelbremse. Bei der Betätigung haben sich die Indian-Techniker einen simplen Trick einfallen lassen. Via Gestänge und einem mechanischen Verzögerungsmechanismus bremst bei Betätigung des Hinterradstoppers das Beiwagenrad etwas später. Muss der Indian-Treiber in die Eisen steigen, wird mit dieser Ausführung erreicht, dass das Gespann sicher in der Spur bleibt. Ohne diese Verzögerungstaktik könnte es durchaus passieren, dass man das Seitenwagenrad überbremst und die gesamte Fuhre rechts in den Graben zieht. Für die Fahrsicherheit des immerhin über 320 kg schweren und rund 120 Stundenkilometer schnellen Gespannes eine durchaus wichtige Angelegenheit. Auf Komfort braucht der Passagier nicht zu verzichten, das Boot ist an zwei langen Blattfedern aufgehangen. Ringsherum ist das Vehikel mit 5.00 x 16 Autoreifen bestückt. Falls ein Plattfuß die Weiterfahrt stoppt, kommt das Reserverad zum Einsatz.
„Ein Zurückrüsten zum Solobetrieb wäre jederzeit möglich, lediglich das Antriebsritzel müsste ich noch tauschen. Im Gespannbetrieb wird ein 20er, Solo ein 22er Ritzel verwendet“, lässt Hans Kirpestein wissen. „Doch ob ich das will, ist eine andere Sache. Denn was mache ich dann mit dem schönen Korbkoffer?“
INFO:
Hans Kirpestein hat Benzin im Blut. Schließlich war sein Opa Indian und Harley-Davidson Händler. Richtig los mit dem Indian-Bazillus ging’s bei ihm Mitte der achtziger Jahre. Die Chief von 1948 war damals noch solo und im unbedingt restaurierbedürftigen Zustand. Gut ein Jahr dauerte die Angelegenheit. Als es ans Lackieren ging, kam beim Schleifen bewusstes „Turquoise“ zum Vorschein. Und genau in dieser Farbe sollte die Chief natürlich auch wieder glänzen. Rund zwei Jahre wurde der 1200er Häuptling gefahren, und wenn der Zufall mit dem alten Indian-Gespann nicht dazwischen gekommen wäre, wäre die Chief auch so geblieben. Der Beiwagen war nämlich auch von 1948, und obendrein hatte der Fund eines der seltenen Getriebe mit Rückwärtsgang. Das Vorhaben, seine Chief zum Gespann umzubauen, war schnell gefasst. Wieder werkelte Hans Kirpestein etwa ein Jahr, bis sein Traum auf drei Rädern vollbracht war. 20.000 Kilometer hat der Holländer mit dem Indianer-Häuptling abgespult, hat etliche Indian-Treffen im In- und Ausland besucht und wird so schnell vom Indian-Bazillus nicht loskommen. Schließlich warten drei weitere Rothäute auf ihre Restauration.
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Kommentare
Ein Kommentar zu “Indian Chief Gespann von 1948”
Hallo !
Kann es sein das der Seitenwagen von der Indian vom Aviakonstrukteur Karlis Irbitis designt wurde, der nach dem Krieg nach Amerika auswanderte. Ich siehe gewisse ähnlichkeiten mit dem Beiwagen vom » Pandera « Unikat das bei VEF in Riga gebaut.
( Leider kann ich das Bild einfügen, benötige eine E-Mail Adresse )