aus bma 11/98

von Klaus Herder

Wozu den Leser unnötig auf die Folter spannen? Bringen wir es hinter uns. Hier kommt sie. Die ganze, ungeschminkte und brutale Wahrheit über die Africa Twin. Alle Mängel auf einen Schlag: Die Sitzbank ist auf Dauer ein wenig unbequem und für längeren Soziusbetrieb etwas zu kurz.
XRVTja, das wär’s dann eigentlich schon. Mehr gibt es praktisch nicht zu meckern. Alles, was sonst noch an Kritik kommt, grenzt hart an Erbsenzählerei und wäre bei anderen Motorrädern vermutlich keine müde Zeile wert. Das mittlerweile in der dritten Auflage segelnde Wüstenschiff ist für sensationsheischende Schreiberlinge ein hartes Los. Das Thema Africa Twin und typische Mängel ist in etwa so ergiebig wie eine Abhandlung über Claudia Schiffer und Akne. Denken und schreiben wir also positiv und lassen die Erfolgsgeschichte der Zweizylinder-Honda Revue passieren.
Angefangen hat alles Anfang der 80er Jahre, und schuld ist eigentlich BMW. Die Bayern räumten mit ihrer kräftig aufgemotzten R 80 G/S nämlich in der Wüstenrallye-Szene kräftig ab und gewannen so ziemlich alles, was ihnen zwischen Paris und Dakar unter die Stollenräder kam. Das konnte der weltgrößte Motorradhersteller natürlich auf Dauer nicht ruhig mit ansehen, und so brachte Honda ab 1986 eigene Werksmaschinen an den Start. Die Japaner entpuppten sich als echte Wüstenfüchse und lösten auf Anhieb BMW als Seriensieger ab. Die Honda NRX 750 gewann sensationelle fünfmal die Rallye Paris-Dakar. Und da sich Sporterfolge gemeinhin ganz prächtig vermarkten lassen, mußte ein passendes Serienmotorrad folgen. Die Honda XRV 650 Africa Twin war geboren.
Allzu schmerzhaft waren die Geburtswehen 1988 sicher nicht, denn von der ein Jahr zuvor präsentierten Transalp konnten wesentliche Bauteile übernommen werden. Der flüssigkeitsgekühlte 600er V-Zweizylinder legte beim Hubraum etwas zu, und der Rahmen mußte sich ein paar Verstärkungen gefallen lassen – der konstruktive Aufwand hielt sich in überschaubaren Grenzen. Maßgeblich für den Verkaufserfolg war neben der von Anfang an zuverlässigen Technik vor allem die schrille Verpackung. Traute man dem harmlosen Äußeren der Transalp gerade mal eine gemütliche Tour zum Baggersee zu, sah die XRV 650 Africa Twin immer so aus, als wenn man mit ihr mal kurz zum Brötchenholen in die Sahara düsen könnte. Sind die vermeintlich ach so harmlosen Tourenfahrer möglicherweise alles verkappte Machos? Egal, die riesige Plastikverschalung mit grimmigem Doppelscheinwerfer, der aus dem vollen geschnitzte Motorschutz und nicht zuletzt das schreiende Dekor machten jedenfalls die Verwandschaft zur Werksmaschine deutlich. Zusammen mit den hervorrragenden Fahrleistungen und dem sicheren Fahrverhalten mußte die erste Africa Twin (RD 03) zwangsläufig zum Verkaufserfolg werden. Wurde sie dann auch, und so ganz nebenbei gewann sie so ziemlich jeden Vergleichstest der in- und ausländischen Motorpresse.

 

XRVDoch nichts ist so schnell wie der Modellwechsel bei Honda. Zumindest war das vor knapp zehn Jahren noch so. Und so mußte sich die Africa Twin 1990 umfangreiche Modellpflegemaßnahmen gefallen lassen. Hintergrund für den Aktionismus waren ganz sicher die Verkaufsoffensiven der Wettbewerber. BMW war mit der GS-Baureihe hervorragend im Geschäft, Yamaha bot mit der XTZ 750 zumindest mehr Hubraum, und selbst solche Nischenanbieter wie Cagiva und Moto Guzzi standen mit deutlich voluminöseren Zweizylinder-Reisedampfern in den Startlöchern.
Honda legte nach und kam mit mehr Hub und Bohrung auf echte 742 ccm. Dank geänderter Steuerzeiten, größerem Vergaserdurchschnitt und einer von 9,4 auf 9 reduzierten Verdichtung stieg das maximale Drehmoment von 55 auf 61 Nm. Die offizielle Leistung blieb mit 50 PS unverändert. Wer mehr wollte, durfte die 59 PS der offenen Version per Einzelabnahme eintragen lassen. Eine obenliegende, von einer Zahnkette angetriebene Nockenwelle, drei über Kipphebel gesteuerte Ventile und zwei Zündkerzen pro Zylinder hatte auch schon die erste Africa Twin. Einen Ölkühler konnte aber erst diese zweite Auflage (RD 04) bieten. Zusätzlich gab’s größere Kurbelwellenhaupt- und Pleuellager, ein verstärktes Kurbelgehäuse und ein üppiger dimensioniertes Fünfganggetriebe. Luftfilter und Auspuff legten ebenfalls zu, die verschärften Geräuschbestimmungen forderten nun mal Tribut.
XRVOb man nun eine 650er oder 750er Africa Twin vor sich hatte, war kaum am Motor zu erkennen – der versteckte sich ja bei beiden Modellen unter einer großflächigen Plastikverschalung. Der Unterschied war aber trotzdem auf den ersten Blick zu sehen (nein, es ist nicht der 750er Schriftzug gemeint). Die neue XRV verzögerte im Vorderrad mit einer Doppelscheibenbremse. Die 650er hatte noch mit einer Soloscheibe vorliebnehmen müssen. Die neue Nissin-Anlage mit Doppelkolbensätteln sollte fortan für Bestnoten in sämtlichen Einzel- und Vergleichstests sorgen. Hervorragend zu dosieren, nur wenig Handkraft benötigend, in der Wirkung kräftig zubeißend und auch bei Dauerbelastung absolut standfest war und ist die Bremse der 750er Africa Twin nahezu perfekt.
Neben der Bremse gab’s noch ein zweites deutliches Unterscheidungsmerkmal – das neue Verkleidungsoberteil. Die höhere Scheibe verbesserte den Windschutz für den Oberkörper, verstärkte unter ungünstigen (Körpergrößen-) Bedingungen aber auch die Turbulenzen am Helm. Nicht zu sehen waren die Rahmenverstärkungen, dank derer das zulässige Gesamtgewicht von 405 auf 429 Kilogramm stieg. Da aber gleichzeitig das Leergewicht um zehn Kilo zulegte, blieben unterm Strich 14 Kilo mehr Zulademöglichkeit. Ausreichende 192 Kilogramm durfte die Africa Twin damit insgesamt schleppen.
1992 war das Jahr einer kleinen, aber viel beachteten Modellpflegemaßnahme: Der legendäre Tripmaster zog ins Cockpit ein. Das von Spöttern als Mäusekino bezeichnete Gerät bot die Anzeige von zwei Tageskilometer-Werten und war mit zwei Stoppuhren sowie einer Zeituhr ausgestattet. Alten Säcken wie dem Autor dieser Zeilen erschlossen sich die genauen Funktionen gar nicht oder nur nach dem ausführlichen Studium der umfangreichen Bedienungsanleitung. Jüngeren Computer-Kids entlocken vermeintliche Bedienungsprobleme nur ein müdes Lächeln. Wie auch immer, das oberhalb von Tacho und Drehzahlmesser montierte Kästchen sieht jedenfalls wichtig aus und schadet nicht weiter.
XRVDie dritte und letzte Africa Twin (intern RD 07 genannt) rollte 1993 auf die Bühne und hatte zur Abwechslung mal acht Kilogramm abgenommen. Honda merzte mit ihr konsequent die am Vorgängermodell kritisierten Punkte aus. Enge Kehren mochte die alte RD 04 nämlich nicht so gern. Ihr Schwerpunkt lag weit oben, der breite 24 Liter-Tank und die extreme Sitzhöhe verstärkten bei ungeübten Fahrern das Unsicherheitsgefühl, wenn die Fuhre mal ins Kippen kam. Honda verpaßte der neuen Africa Twin einfach einen neuen Rahmen. Die Taille des aus Vierkantprofilen gefertigten Doppelschleifenrahmens fiel schmaler aus und lag deutlich tiefer. Der alte, noch aus Transalp-Zeiten stammende Rahmen führte noch oberhalb des hinteren Zylinders entlang, der neue lief seitlich vorbei. Die Sitzhöhe konnte damit von 880 auf 840 Millimeter reduziert werden. Das Tankvolumen sank zwar etwas von 24 auf 23 Liter, doch das schmalere Spritfaß rückte näher zur Sitzbank und etwas weiter nach unten. Das kam dem Sitzkomfort und dem Sicherheitsgefühl ungemein zugute. Da, wo zuvor ein großer Teil Normalbenzin gebunkert wurde, steckte ab sofort das gut zugängliche Luftfilterelement. Von kürzeren Menschen wurde auch mit Wohlwollen registriert, daß zwar das hintere Federbein beim Arbeitsweg zulegte, dafür aber bereits im Stand so weit zusammensackte, daß auch 1,70-Meter-Zwerge halbwegs sicheren Bodenkontakt herstellen konnten. Dem Federungskomfort tat das übrigens keinen Abbruch. Telegabel und Pro-Link-System arbeiteten bereits beim Vorgängermodell sehr sensibel und äußerst komfortabel und bei der Neuen nicht anders.
Leichtes Hochgeschwindigkeitspendeln hatte bei der Transalp seine Ursache meist in abgefahrenen Reifen, nicht in Fahrwerksschwächen. Mit aufgeblasenen Windjacken verkrampft am Lenker hängende Fahrer konnten den Effekt noch verstärken.
1993 tat sich sonst noch einiges: Moderne Flachschiebervergaser ersetzten die konventionellen Gasfabriken des Vorgängermodells, ein Drosselklappensensor und eine neue Transistorzündung sollten Gasannahme und Verbrennung optimieren, die Leistung der offenen und nun auch wahlweise lieferbaren Version stieg auf 60 PS, in der Alu-Schwinge hing neuerdings eine mit einem Radialreifen bestückte Leichtmetallfelge, und die neue gestaltete Verkleidung samt Scheibe rückte etwas höher und näher an den Fahrer. In Sachen Geräuschreduzierung wurde Honda ebenfalls mal wieder aktiv: Der Schalldämpfer wurde vergrößert und der Tank mit geräuschdämmenden Materialien unterlegt.
Auf brachialen Leistungseinsatz wartete man bei der neuen Africa Twin genauso vergeblich wie bei der alten. Für Fans spitzer Leistungscharakteristik war die 750er glücklicherweise immer noch nichts. Fernreisende stehen mehr auf turbinengleicher Leistungsabgabe, und darin war und ist die Africa Twin unschlagbar. Zwischen 3000 und 7500 U/min zieht der Motor ohne Leistungseinbruch und völlig gleichmäßig durch. Um 5000 U/min läßt er sich kurz zu ein paar leicht spürbaren Vibrationen hinreißen. Der Motor hängt hervorragend am Gas und beschleunigt die 60 PS-Version immerhin auf rund 180 km/h. 160 km/h Reisegeschwindigkeit sind bei freier Bahn immer drin und auch auf Dauer gut auszuhalten. Bei flotter Kilometerfresserei auf der Autobahn gönnt sich die Africa Twin gut sieben Liter Normalbenzin, im Landstraßenbetrieb reichen bereits fünf Liter.
Mit dem Dickschiff auf die Landstraße? Jawohl, denn die aufrechte Sitzposition und der breite Lenker machen die XRV 750 zusammen mit der guten Handlichkeit zum perfekten Kurvenräuber. Die Zielgenauigkeit ist hervorragend, das Fahrwerk bleibt jederzeit stabil und ruhig, und die Schräglagenfreiheit geht gegen Unendlich. Die Africa Twin ist der geborene Big Twin-Schreck, ihre nervenschonende Motor- und Fahrwerksauslegung macht es auch Anfängern leicht, sich voll und ganz aufs genußvolle Kurvenschwingen zu konzentrieren.
Für Schrauber und Bastler ist die Honda dagegen eher enttäuschend. Sie will einfach nicht kaputtgehen. 80.000 Kilometer ohne irgenwelche Probleme sind locker drin. Wenn überhaupt, müssen höchstens mal Tachowelle, Lenkkopflager oder die Benzinpumpe ausgetauscht werden. Verbessern und umbauen läßt sich auch kaum etwas. Die Drosselung/Entdrosselung erfolgt über die Ansaugstutzen – macht rund 150 Mark Materialkosten und anderthalb Stunden Arbeit.
Wer partout basteln möchte, sollte sich der anfangs erwähnten Sitzbank widmen. Beim Zubehör-Versender Götz (Tel. 07476/933150) gibt’s einen besser gepolsterten Schaumstoffkern und einen neuen Sitzbezug für zusammen 105 Mark. Eine deutliche Verbesserung des Sitzkomforts ist auch mit der in der Februar-Ausgabe vorgestellten Corbin-Sitzbank zu erreichen (zu beziehen über Moto Vision, Tel. 040/ 23809595). Dieses handgefertigte Produkt kostet als Normalausführung 729 Mark und in der luxuriösen Leder-Variante 799 Mark. Menschen über 1,85 Meter montieren gern die mit ABE versehene, 174 Mark teure Spoilerscheibe von JF Motorsport (gibt’s im Fachhandel zu kaufen). Vom gleichen Anbieter sind für 249 Mark die sinnvollen und beliebten Tankschutzbügel zu bekommen. Serienmäßig ist die Africa Twin nur mit einem Seitenständer ausgestattet. Den Hauptständer gibt es als Originalteil für rund 250 Mark beim freundlichen Honda-Händler oder für 199 Mark bei JF-Motorsport. Beiden Hauptständern gemein ist, daß das Aufbocken nur mit etwas Kraftaufwand klappt.
Damit das Kurvenräubern ohne unnötigen Körpereinsatz vonstatten geht, sollten schräglagenfreundliche Reifen montiert sein. Bridgestone TW 47/48 und Michelin T 66 X lauten die Empfehlungen.
Die Honda Africa Twin ist eines der zuverlässigsten Motorräder auf dem Markt. Ob täglicher Arbeitsweg oder wochenlanger Sommerurlaub – die neu mittlerweile 16.365 Mark teure Wuchtbrumme macht einfach alles mit, so lange der Untergrund nicht gröber als Schotter wird. Die Africa Twin ist fast perfekt. Wenn da nicht diese gravierende Schwäche wäre, die dem Leser an dieser Stelle in aller Deutlichkeit klar gemacht werden muß: Der lenkerfest montierte Chokehebel läßt sich nur etwas fummelig bedienen. Ist doch wirklich dramatisch, oder?