aus bma 09/03

von Klaus Herder

Honda XL 1000 V VaraderoIn der Leipziger Altstadt gibt’s viele nette Kneipen und Bars. Eine davon heißt Varadero. Im Varadero sitzt man sehr bequem, hat einen netten Blick auf eine malerische Gasse, das Barfußgässchen, und wer dort etwas zuviel tankt, kann anschließend gemütlich Richtung Hotel schwanken. In just dieser Lokalität absolvierten anno 1998 die Honda-Verantwortlichen die abschließenden Besprechungen zur Namensfindung ihrer neuen Reise-Enduro. Und so kam es, dass eine 94 PS starke Zweizylinder-1000er nach einer Leipziger Bar benannt wurde. Was prächtig passte, denn das vollgetankt immerhin 256 Kilogramm schwere Dickerchen bot zwei sehr bequeme Sitzplätze mit prima Aussicht, trank sehr heftig, war etwas weich in den Knien und kam bei verschärfter Marschgeschwindigkeit schon mal ins Schwanken.
Ab 1999 stand die Honda XL 1000 V Varadero bei den Händlern und wurde anfangs etwas missverstanden. Den Permanent-Weltreisenden war sie nicht stollenreifig genug. Die griffen auch weiterhin lieber zur BMW GS. Für die Autobahn-Tourenheimer war die Varadero-Schale nicht schalig genug. Und schicke Koffer plus Radioeinbausatz gab’s für die Varadero auch nicht ab Werk. Doch mit der Zeit erschloss sich die Honda Varadero ihre eigene Fangemeinde, die den Alles-ein-bisschen-Könner zu schätzen lernte. Für dieses eigentlich recht sympathische Völkchen, das im Gegensatz zur Hardcore-Weltreise-Enduro-Fraktion nicht permanent den Eindruck erweckt, auf der Flucht zu sein, gab es seit 2001 eine echte Alternative: die Suzuki V-Strom. Die war leichter, kostete weniger, hatte den kernigeren Motor und taugte für deutsche Landstraßen mindesten genauso gut.
Und so begab es sich, dass Honda sehr konsequent reagierte und die Varadero 2003 noch schwerer und noch teurer machte. Halt, das mag objektiv stimmen, erweckt aber einen völlig falschen Eindruck. Formulieren wir es anders: Honda schärfte bei der jüngsten Modellpflege das Varadero-Profil, merzte Schwächen konsequent aus und entwickelte neue Stärken. Das klingt doch schon viel netter. Und eine harmlose Modellpflege war es eigentlich auch nicht, denn die Varadero Jahrgang 2003 ist fast schon ein komplett neues Motorrad.

 

Honda XL 1000 V VaraderoSah die alte Varadero immer etwas unförmig und pummelig aus, wirkt die jüngste Ausgabe deutlich dynamischer. Die Hamsterbacken sind verschwunden, die Blinker fügen sich eleganter ein, alles wurde eckiger und kantiger. Unter der Schale steckt immer noch der ursprünglich aus dem Sportler VTR 1000 F stammende Motor, doch der wassergekühlte 90-Grad-V-Twin hängt nun nicht mehr in Gummilagern, sondern ist starr mit dem Stahlprofil-Brückenrahmen verschraubt. Das Rahmenheck wurde verstärkt, alles zusammen soll für spürbar mehr Stabilität im Gebälk sorgen. Tut es auch, denn selbst bei Vmax von etwas über 200 km/h geht es mit der satt liegenden Varadero nahezu pendelfrei vorwärts. Selbst mit beladenen Koffern und Topcase ist die Maschine auf kurvigen Landstraßen souverän zu fahren und dabei erstaunlich leicht zu händeln. Womit schon mal Kritikpunkt Nummer eins, die mangelnde Spurstabilität, offensiv angegangen wurde.
Die bei 8000 U/min anliegenden 94 PS Nennleistung und das maximale Drehmoment von 98 Nm bei 6000 Touren entsprechen den Werten der alten Varadero. Völlig neu ist dagegen die Art der Gemischaufbereitung. Wo bis zum Vorjahr zwei Keihin-Gleichdruckvergaser für Zerstäubung sorgten, werkelt nun eine Saugrohreinspritzung. War bislang ausschließlich ein Sekundärluft-System für die Abgasreinigung zuständig, beruhigen nun zusätzlich zwei geregelte Katalysatoren das Umweltgewissen. Das alte Fünfganggetriebe ersetzte Honda durch eine Sechsgang-Box (kleine Anmerkung: Der Organspender VTR hatte immer schon sechs Gänge…). Der sechste Gang des leicht zu schaltenden und präzise rastenden neuen Getriebes ist zwar länger übersetzt als der fünfte Gang des alten Getriebes, ist aber ausdrücklich nicht als Overdrive gedacht, sondern soll auch abseits der Autobahn gut nutzbar sein. Ist er auch, denn der bestens am Gas hängende Twin zieht auch bei niedrigen Drehzahlen mächtig durch. Ab 2000 U/min legt der Vierventiler unglaublich kultiviert und nahezu ohne spürbare Vibrationen los. Mit der Varadero geht es unglaublich lässig und dabei doch ziemlich flott vorwärts. Wer es darauf anlegt, erreicht das Landstaßenlimit aus dem Stand nach 3,6 Sekunden. Fassen wir zusammen: neue Gemischaufbereitung, längere Übersetzung – zack, die Kritikpunkte Nummer zwei und drei, der hohe Spritverbrauch und die mäßigen Abgaswerte, sind abgehakt.
Honda XL 1000 V VaraderoDa war doch noch etwas? Richtig, Kritikpunkt Nummer vier: die unterdämpften Federelemente. Honda ging das Thema ziemlich radikal an und stimmte die 43er-Telegabel und das in der Federbasis per Handrad verstellbare Federbein deutlich straffer ab. Doch damit nicht genug: Da mit der mittlerweile vollgetankt 267 Kilogramm schweren Varadero abseits des Asphalts ohnehin nicht viel zu bestellen ist, kürzten die Techniker auch noch die Federwege: vorn um zwei, hinten um einen Zentimeter. Mit nun 155 und 145 Millimetern an Vorder- und Hinterhand federt die Varadero jetzt im immer noch recht komfortablen Niemandsland zwischen Tourer und Enduro, taucht bei harten Bremsmanövern aber nicht mehr so weit ab und lässt sich auch nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen. Ergo: Kritikpunkt vier abgehakt.
Wer nun aber glaubt, die kürzeren Federwege bringen Kurzbeinigen irgendwelche Vorteile in Sachen Sitzhöhe, liegt voll daneben. Der Arbeitsplatz liegt immer noch luftige 840 Millimeter über dem Boden. Einziger Trost ist vielleicht die neue, im vorderen Bereich etwas schmaler geschnittene Sitzbank. So um die 1,75 Meter Gesamtlänge sollten Varadero-Fahrer aber trotzdem haben, wenn sie auf sicheren Zweibein-Stand Wert legen. Im recht hoch liegenden Spritfass schwappen unverändert 25 Liter Normalbenzin. Aus den oben genannten Gründen stieg allerdings die Reichweite. Wer nicht permanent am Anschlag gast, kommt über 400 Kilometer weit. Bei zügiger Landstraßenfahrt vergaste unsere Redaktionsmaschine mit Gepäck ca. 5,7 Liter. Bei verschärfter Gangart steigt der Verbrauch auf sechs bis sieben Liter auf 100 Kilometern. Das Vorgängermodell gönnte sich da bis zu zwei Liter mehr.
Der Varadero-Arbeitsplatz erfreut auf Anhieb. Die etwas straffere Sitzbank verwöhnt Fahrer und Sozius; Lenker, Hebel und Schalter liegen genau da, wo sie hingehören, eine Warnblinkanlage gibt es serienmäßig. Das neue Cockpit ist übersichtlich gestaltet und üppig bestückt. Sämtliche Kontrollampen liegen hoch genug, um auch bei aufgeschnalltem Tankrucksack im Blickfeld zu sein. Die Durchschnittsverbrauchs-Anzeige zeigt nicht nur in ständigem Wechsel je nach Gasgriffstellung den Verbrauch auf 100 Kilometern an, man kann sich auch anzeigen lassen, wieviel Kilometer man gerade bei der aktuellen Gasstellung mit einem Liter fahren kann. Es gibt wohl kaum eine schwachsinnigere Information für den Fahrer. Das haben die japanischen Konstrukteure wohl nach Genuss von zu viel Reisschnaps ausgeheckt.
Honda XL 1000 V VaraderoÜber die recht hohe und in zwei verschiedenen Höhen fummelig anschraubbare Scheibe gibt es unterschiedliche Meinungen. In Sachen Windschutz sind sich zwar alle Varadero-Treiber einig, denn der ist wirklich gut, doch den einen oder anderen Fahrer nerven fiese Verwirbelungen, die auf Dauer mehr auf die Kondition gehen als echter und direkter Winddruck. Dem Varadero-Interessenten bleibt nur die Probefahrt, denn Körperlänge, Sitzposition und Helmmodell entscheiden darüber, ob man sich hinter der Serienscheibe wohl fühlt. Eins dürfte aber klar sein: Das von vielen Fahrern der neuen Varadero sehnlichst erwartete Zubehörteil ist eine kürzere Verkleidungsscheibe.
Ansonsten ist die Neuauflage für die Zubehörindustrie eine eher traurige Angelegenheit, denn fahrwerksmäßig gibt es eigentlich nichts mehr zu meckern, Koffer und Topcase gibt es als Original-Zubehör (allerdings zu überzogenen Preisen), und selbst der leider immer noch nicht serienmäßige Hauptständer ist beim Honda-Dealer als Extra verfügbar. Der Preis von 209 Euro für das einfache Rohrteil ist allerdings mehr als frech. Wer den Anschaffungspreis der Varadero zum Beispiel mit einer BMW 1150 GS vergleicht, muss den Ständerpreis gerechterweise vorher aufschlagen, denn das Teil braucht man unbedingt.
Die in silber, blau und rot lieferbare Honda Varadero kostet 10.190 Euro. Das sind 200 Euro mehr als fürs Vorjahresmodell fällig waren. Der Mehrwert liegt aber um ein Vielfaches höher, denn nahezu alle wesentlichen Schwachpunkte gingen die Honda-Techniker erfolgreich an. Um auch nach außen hin deutlich zu machen, dass mit der aktuellen Varadero etwas ganz Neues geschaffen wurde, gilt nun auch eine neue Namensgebung: Ab sofort ist die Varadero nicht mehr nach einer Leipziger Bar, sondern nach einem kubanischen Küstenort benannt.