aus bma 6/99

von Marcus Lacroix

Große Reiseenduros stehen bei den vom Fernweh geplagten Motorradfahrern sehr hoch im Kurs. In der hubraumstarken Oberklasse war das Angebot bisher jedoch eher mager. Guzzis 1000er Quota, die Cagiva Gran Canyon (die beide eher eine AußenseiterrolleHonda XL 1000 V Varadero spielen), Triumphs 900er Tiger und die BMW R 1100 GS gaben hier den Ton an. Daß Honda da nicht länger stillhalten konnte, war klar. Schließlich hat man mit der XRV 750 Africa Twin seit Jahren in der Enduro-Mittelklasse ein heißes und bewährtes Eisen im Feuer.
Honda XL 1000 V Varadero nennt sich der Herausforderer der etablierten Riesenenduros und spaltet durch sein extrem touristisches Auftreten die Großenduro-Fraktion in zwei Lager. Daß Honda mit der neuen Varadero in erster Linie BMW die Käufer der etablierten R 1100 GS abspenstig machen möchte, wird jedem klar sein, denn die Boxer-Enduro verkauft sich seit Jahren gut.
Hondas Herausforderer läßt einen Freund der wenig verkleideten GS zunächst einmal erschauern. Steht man, wie der Autor, als 176 cm großer Mensch neben diesem Trum von Motorrad, kommt man sich plötzlich noch kleiner vor, als man es eh schon ist. Einen echten Motorradfahrer kann so etwas aber nicht abschrecken und schon nach kurzer Zeit gefällt die Optik. Vor allem von vorne betrachtet ist die Varadero ein echter Hingucker. Wie sich später zeigte, sorgen die Scheinwerfer nicht nur für den bösen Blick, sondern auch für eine exzellente Fahrbahnausleuchtung bei Nacht.
Die erste Sitzprobe auf der Varadero fällt zur vollen Zufriedenheit aus. Entspannt-aufrechte Sitzposition, mäßig angewinkelte Beine und ein gut in den Händen liegender Lenker Honda XL 1000 V Varaderoschaffen Vertrauen. Trotz der breiten Sitzbank erreicht man mit beiden Füßen den sicheren Boden. Das Cockpit ist aufgeräumt, übersichtlich und mit Digitaluhr, zwei Tageskilometerzählern und Temperaturanzeige gut ausgestattet. Notorische Dauerblinker werden zwar nicht von einer automatischen Blinkerrückstellung entlastet, durch die grossen, gut im Blick liegenden Blinkerkontrolleuchten aber an ihr Vergehen erinnert. Ein zur Neige gehender Spritvorrat wird über eine Warnleuchte signalisiert. Etwas zuviel des Guten leistet die Fernlichkontrolle, die Nachts den Fahrer blendet.
Mit Hilfe des lenkerfest montierten Chokes und des E-Starters nimmt das Triebwerk auch bei tiefen Temperaturen zuverlässig die Arbeit auf. Das Brabbeln aus dem Auspuff gefällt, wird jedoch von dem Primärtrieb mit einem unschönen, gewöhnungsbedürftigen Heulen unterlegt. Im Fahrbetrieb fällt dies jedoch nicht weiter auf.

 

Der erste Gang rastet mit einem deutlichen Klacken ein und die dann folgende Beschleunigungsorgie – so man es denn darauf anlegt – pumpt einem das Adrenalin schon heftig ins Blut. Der Motor der Varadero kann auch langjährige Boxerfreunde schwach werden lassen. Der 996 ccm V2-Motor stammt in seiner Urform aus dem bekannten Honda-Sportler VTR 1000 und wurde für die Reiseenduro in verschiedenen Details überarbeitet. Hier liefert er jetzt 95 PS bei 8000 U/min. Die Varadero ist somit allemal ausreichend motorisiert. Wichtiger als Spitzenleistung ist dem Tourenfahrer jedoch das Drehmoment. Möglichst viel davon bei niedrigen Drehzahlen beschert ihm schaltfaules Fahren. Rund 100 Newtonmeter bei 5700 U/min produziert der V-Zwei – eine Menge Holz. Wer nun allerdings meint, alle Fahrsituationen im fünften und damit letzten Gang meistern zu können, sieht sich enttäuscht. Schon das Einhalten der Tempobeschränkung in einer 70er-Zone veranlaßt den Fahrer zum Wechsel in den vierten Gang. Schließlich will man nach dem runden Schild mit den grauen Querstreifen wieder schnell auf Reisegeschwindigkeit kommen. Innerorts ist dann auch mal der dritte Gang gefordert, denn unterhalb von 2000 U/min beginnt der Motor zu hacken. Glücklicherweise läßt sich das Getriebe gut schalten und so stören die Gangwechsel nicht unbedingt. Ein Pluspunkt für das Getriebe ist auch die leicht zu findende Neutral-Stellung, die einem umständliches „Gefüßel” an der roten Ampel erspart.
Auf der Landstraße stellt der Varadero-Fahrer schnell fest, daß die Riesenenduro sich zwar zum gemütlichen Reisen eignet, der wahre Fahrspaß allerdings erst mit steigender Geschwindigkeit aufkommt. Keine Frage, die neue Honda verleitet zum Heizen. Schuld daran ist nicht nur der Motor mit seiner faszinierenden Leistungsabgabe, sondern auch – oder vor allem – das Fahrwerk. Wer schon mal mit einer Honda Africa Twin unterwegs war und deren problemloses Handling zu schätzen gelernt hat, wird sich umgucken. Trotz eines um 15 Kilogramm höheren Trockengewichtes (plus zwei Liter mehr Tankinhalt) läßt sich die neue 1000er mindestens ebenso agil durch die Kurven scheuchen. Dabei begeistert die Varadero mit einem bemerkenswert stabilen Fahrverhalten. Selbst auf wirklich schlechten Landstraßen läßt sich das Fahrwerk nicht aus der Ruhe bringen – kein Rühren oder Pendeln verunsichert den Fahrer. Kleine Abstriche muß man höchstens in engen Serpentinen machen, in denen die Africa Twin überzeugender agiert.
Als einzige Einstellmöglichkeit kann die Honda über die Vorspannung des Federbeins dem Beladungszustand angepaßt werden. Dies geschieht problemlos – wie bei BMW – über ein gut zugängliches Handrad. Die Schräglagengrenze wird zumindest im Solobetrieb nicht erreicht. Bis an das Ende der „Angstrille” kann die Michelin T66-Bereifung abgeschreddert werden. Auf trockenen Straßen ist es problemlos möglich und gibt einem das gute Gefühl, die kostbaren Gummis wirklich zu nutzen (habt Ihr Euch schon mal an einem Motorradtreffpunkt die Hinterradreifen von SuperwetzGSXCBR ZXRHobeln angeschaut?).
Bei der Bremsanlage setzt Honda auf das hauseigene CBS (Combined-Brake-System = Kombiniertes Bremssystem). Dieses ermöglicht auch weniger routinierten Fahrern hohe Bremsleistungen bei reduzierter Überbremsgefahr. Mit einem ABS darf man es allerdings nicht verwechseln, denn ein Blockieren der Räder wird nicht verhindert. Nach kurzer Eingewöhnung kommt man gut mit der Bremsanlage zurecht, auch wenn die Betätigungskraft der Handbremse etwas geringer ausfallen könnte. Bemerkenswert ist die extrem geringe Aufstellneigung der Varadero beim Bremsen in Schräglage, ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsplus.
Honda XL 1000 V VaraderoAuf der Autobahn, die sich zum schnellen Erreichen des Urlaubziels oft nicht umgehen läßt, bleibt der gute Fahreindruck der Honda bestehen. Bis zur Höchstgeschwindigkeit von immerhin knapp über 200 Kilometer pro Stunde bleibt die Reiseenduro stabil. Als Dauerreisegeschwindigkeit wird man aber wohl eher eine etwas gemässigtere Gangart wählen, denn die guten Fahrleistungen fordern ihren Tribut. Schnelles Fahren läßt sich die Varadero an der Tankstelle über Gebühr honorieren. Kommt man bei zügiger Landstraßenfahrt noch mit knapp sieben Litern Treibstoff auf hundert Kilometern aus, muß der Wert auf der Autobahn – womöglich noch mit Koffern und Sozius – nach oben korrigiert werden. Als Minimalverbrauch bei Bummeltempo registrierten wir bescheidene5,3 Liter. Glücklicherweise begnügt sich der Reisedampfer mit Normalbenzin. Durch den 25 Liter fassenden Stahlblechtank werden Reichweiten von 300 Kilometern und mehr erreicht, die sich auf der komfortablen Sitzbank auch an einem Stück abreißen lassen. Zur Verringerung der Abgasemissionen setzt Honda statt eines geregelten Katalysators ein einfaches Sekundärluftsystem ein. Bei Autobahnfahrten wird dem Varadero-Fahrer die hohe Schutzwirkung der voluminösen Verkleidung so richtig bewußt. Aufrecht sitzend lassen sich auch hohe Dauergeschwindigkeiten ertragen. Je nach Fahrergrösse und vor allem extrem helmabhängig muß er dabei aber mit einer zum Teil starken Geräuschbelästigung leben. Die Empfehlung, einen neuen Helm vor dem Kauf zur Probe zu fahren, gilt hier also erst recht.
Ein Terrain, in dem man dem Reisemotorrad Varadero den Titel Enduro aberkennen muß, findet man abseits befestigter Straßen. Läßt sich BMW’s R 1100 GS noch recht passabel auf losem Untergrund dirigieren, zeigt die Honda ihrem Fahrer hier schnell, wo für sie Schluß ist. Fallen die rund 250 Kilogramm Metall und Plastik auf die Seite, schützen bei der Varadero keine abstehenden Zylinder den Fahrer vor dem tiefen Griff ins Portemonnaie. Größere Lackschäden sind ohne Sturzbügel vorprogrammiert. Schnell durchfahrene Schlaglöcher lassen die Gabel der Honda auf Anschlag gehen und auch die pflegeleichten Gußräder weisen den Weg auf die Straße. Weltreisende Motorradfahrer werden also wohl weiterhin auf bajuwarische Produkte zurückgreifen.
Nun zieht es ja lange nicht jeden Motorradfahrer hinaus in die ferne Welt, und so wird die Varadero sicherlich viele Freunde in Europa gewinnen. Damit diese nicht vergrätzt werden, sollte Honda das neue Schlachtschiff in einigen Punkten noch etwas modellpflegen. Verarbeitungstechnisch ist die große Enduro nicht unbedingt ein Highlight. Die Verkleidung an der hier gezeigten Maschine hat an der Nahtstelle zum Tank von diesem fein säuberlich den Lack abvibriert und verschiedene Motorschrauben beginnen nach kurzem Streusalzkontakt zu korrodieren. Mit der Auspuffanlage aus rostfreiem Stahl sammelt die Varadero wieder ein paar Pluspunkte. Über einen Kettenantrieb mag man denken, was man will, für seine Pflege sollte aber wenigstens ein Hauptständer serienmäßig sein.Honda XL 1000 V Varadero Dieser würde auch die Benutzung des lobenswerten Ölschauglases auf der rechten (!) Motorseite erleichtern. Wer schon einmal 250 Kilogramm Motorrad alleine in der Senkrechten balanciert und sich dabei noch zum Schauglas hinuntergebeugt hat, wird wissen warum. Wenig zeitgemäß erscheinen für eine Reiseenduro auch Service-Intervalle von 6000 Kilometern. Einmal Spanien und zurück – das war’s.
Eine Ventilspieleinstellung, die nur alle 24.000 Kilometer einer Überprüfung bedarf, senkt die Servicekosten dafür ein wenig und auch die Zwei-Jahres-Garantie ohne Kilometerbegrenzung geht voll in Ordnung. Übersehen haben die Honda-Ingenieure auch, daß sich das Lenkschloß nur bei nach links eingeschlagenem Lenker verriegeln läßt.
Viel Licht bei Motor und Fahrwerk stehen also etwas Schatten bei Verarbeitung und Ausstattung gegenüber. Bei einem Listenpreis von 18.490 DM ist die Honda XL 1000 V Varadero kein Sonderangebot. Nach einer ausgiebigen Probefahrt wird jeder für sich entscheiden müssen, ob die Reiseenduro ihr Geld wert ist. Spaß macht sie, wie fast alle anderen Motorräder auf der Welt auch, auf jeden Fall. Vielleicht sogar ein bißchen mehr als andere…