aus Kradblatt 2/15
von Klaus Herder

Die Vau für’s Leben: Honda VFR 800 F

Honda VFR800F FrontDie Art und Weise, wie ein und dieselbe Geschichte erzählt wird, hängt nicht unwesentlich von der persönlichen Situation des Erzählenden ab. Das mag eine Binsenweisheit sein, doch trotzdem ist es immer wieder sehr überraschend, zu welch völlig unterschiedlichen, ja geradezu gegensätzlichen Sichtweisen zwei Betrachter kommen können, die doch beide dasselbe Produkt vor Augen oder auch unterm Hintern haben.

Die zum Modelljahr 2014 umfangreich modellgepflegte Honda VFR 800 F ist ein gutes Beispiel dafür, wie völlig unterschiedlich man ein Motorrad beurteilen kann. Abweichend von den üblichen Fahrbericht-Gepflogenheiten wird nachfolgend bereits im ersten Absatz verraten, wie die sechste Auflage des Sporttourers beurteilt werden kann: Entweder als überteuerter Abklatsch eines längst überlebten Konzepts. Oder aber als nahezu perfekte
Krönung einer genialen und zeitlosen Idee.

Honda VFR800F HeckWer 1986 noch mit Bauklötzen gespielt hat oder womöglich noch gar nicht geboren war, wird sehr wahrscheinlich zur erstgenannten Einschätzung neigen. Denn was soll man sonst dazu sagen, wenn ein in der Grundkonzeption satte 28 Jahre altes Motorrad erst nach zwölf Jahren eine nennenswerte Modellpflege spendiert bekommt, bei der Leistung und maximales Drehmoment zurückgenommen werden und bei der die Segnungen moderner Elektronik-Zauberei weitgehend außen vor bleiben? Eben! Sollte man allerdings zur Gruppe der schon etwas älteren Motorradfahrer gehören, also zu denen, die 1986 schon etwas länger stolzer Besitzer eines Klasse-1-Führerscheins waren und zu den Vielfahrern gehörten, sieht man das Thema VFR-Renovierung vermutlich ganz anders. So wie der Ü-50-jährige Autor dieser Zeilen, was erklären mag, warum Sie nachfolgend eine schwer subjektive Liebeserklärung lesen werden.

Doch zuerst einmal gibt’s eine kleine, stichwortartige VFR-und-drumherum-Historie – auch alte Männer vergessen ja ab und an mal, was bisher geschah. 1986: Die 105 PS starke VFR 750 F (RC24) begründet mit ihrer äußerst dynamischen und dabei sehr menschenfreundlichen Art und ihrem praktisch unkaputtbarem V4-Motor die Kategorie der Sporttourer. Im typischen Japaner-Rhythmus gibt’s alle zwei Jahre eine kleine und alle vier Jahre eine umfangreiche Modellpflege. 1998: Der Typ RC46 mit 782 ccm, Einspritzung und G-Kat löst die 750er ab. Die 800er-VFR leistet in Deutschland 98 PS. 2002: Umfangreiche Modellpflege des Typs RC46, u.a. neuer Motor mit 109 PS und VTEC-Ventilsteuerung. 2010: Die neue VFR 1200 F zielt als 170 PS starker Sporttourer exakt (aber mäßig erfolgreich) auf die alte VFR-Kundschaft; die 800er-VFR bleibt im Programm. 2011: Das neue Modell Crossrunner tritt mit dem Motor der VFR an und ist fast 2000 Euro günstiger; die 800er-VFR bleibt im Programm …

Honda VFR800F CockpitWährend in den 1990ern hierzulande jährlich rund 2000 neue VFR Käufer fanden, sank der Absatz ab 2007 auf unter 300 Stück pro Jahr. Wofür neben dem ohnehin zurückgehenden Gesamtmarkt auch eine Verschiebung im Marktsegment der sportlich-touristisch angehauchten Untersätze verantwortlich sein dürfte: Wer heutzutage halbwegs dynamisch auf große Tour gehen möchte, kauft GS & Co. Der vollverschalte Sporttourer klassischer Prägung gehört zu einer aussterbenden Art. Und trotzdem gönnt Honda der die letzten Jahre ein Nischendasein fristenden VFR eine ziemlich umfangreiche Überarbeitung, obwohl man in Japan und Frankfurt wohl sehr genau wissen wird, dass auch zukünftig keine VFR-Verkaufswunder mehr zu erwarten sind. Honda kümmert sich schlicht und einfach um Bestandskunden und um alte VFR-Fans. Zwei weitgehend deckungsgleiche Zielgruppen, denn wer jemals VFR-Besitzer war, wird meist lebenslang VFR-Jünger sein. Allein in Europa werden noch um die 75000 VFR-Infizierte unterwegs sein. Was für Honda Segen und Fluch ist, denn wer mit seiner VFR zufrieden ist – also praktisch jeder – dürfte wenig Lust auf einen Neukauf haben. Erst recht nicht, wenn sich in Sachen Hubraum und Leistung wenig bis gar nichts getan hat.

Honda VFR800F BremseWomit wir endlich beim 2014er-Update wären: Der V-Vierzylinder und der Alu-Brückenrahmen blieben weitgehend unverändert, neu sind dafür Verkleidung, Tank, Sitzbank, Telegabel, Einarmschwinge und die Räder. Abschaltbare Traktionskontrolle, ABS und fünfstufige Heizgriffe sind nun serienmäßig an Bord, und die Blinker stellen sich abhängig von Zeit, Geschwindigkeit und zurückgelegter Strecke selbst zurück. Die VFR speckte etwas ab, und die Motorcharakteristik wurde auf mehr Durchzugskraft getrimmt. Klingt alles unspektakulär, doch unterm Strich kam dabei die beste VFR aller Zeiten heraus. Und das verdient doch wohl eine etwas nähere Betrachtung.

Fangen wir mal beim Motor an: Seit 2002 setzt Honda bei der VFR auf die variable Ventilsteuerung VTEC (Variable Valve Timing and Lift Electronic Control), mit der der V-Vierzylinder unterhalb von rund 6500 bis 7000/min als Zwei- und darüber als Vierventiler arbeitet. Das aufwendige System soll die Vorteile durchzugsstarker Zweiventiler im unteren und mittleren Drehzahlbereich mit der Spitzenpower hoher Drehzahlen von Vierventilern vereinen. Das klappte in der Vergangenheit ganz ordentlich, aber nicht unbedingt perfekt. Besonders bei konstanter Drehzahl um 7000 Touren herum – eine auf flüssig zu fahrenden Landstraßen gern gesehene Übung – konnte sich das System nicht immer klar entscheiden, ob es nun als Zwei- oder Vierventiler arbeiten sollte. Das machte sich ab und an durch Ruckeln bemerkbar und konnte sensiblere Naturen durchaus nerven.

Honda VFR800F linksDoch damit ist nun endgültig Schluss, denn mit viel Feinarbeit am Ventiltrieb und auf der Einlass- und Auslassseite sowie einem geänderten Software-Mapping machte Honda dem Ruckeln den Garaus und sorgte für einen seidenweichen Übergang. Am eigentlichen Reiz der ganzen Sache – erst der freundliche Dr. Jekyll, dann der teuflische Mr. Hyde – änderte sich gottlob nichts. Und auch nicht am Sound-Gesamtkunstwerk, denn die intern nun RC79 genannte 800er sorgt auch akustisch für Gänsehaut. Nämlich genau dann, wenn mit dem Wechsel in den Vierventil-Modus aus dem dezenten Grummeln ein heiseres, metallisches Kreischen wird. Die neue VFR liebt wie alle ihre Vorgängerinnen Drehzahlen. Um ihre Spitzenleistung freizusetzen müssen es nun aber nur noch 10250 statt vormals 10500 Touren sein, allerdings sank die Nennleistung auch geringfügig von 109 auf 106 PS. Das maximale Drehmoment von zuvor 80 Nm bei 8750/min litt ebenfalls: 75 Nm bei 8500/min lautet nun der Höchstwert. In der Praxis sind die Verluste nicht zu spüren. Im Gegenteil: Der 90-Grad-V-Vierer hängt besser denn je am Gas, hat spürbar geringere Lastwechselreaktionen und überzeugt – wie auch schon zuvor – mit feinster Laufkultur. Verschiedene Fahrmodi, wie sie mittlerweile praktisch jede Neuheit zu bieten hat, braucht die VFR nicht. Im Regen lässt sich ihr Gas sensibel genug betätigen, den Rest erledigt die serienmäßige Traktionskontrolle; und wer beim Renntraining richtig angasen will, soll gefälligst an der Kordel ziehen – das VTEC-System ist ja schließlich nicht umsonst an Bord.

Honda VFR800F rechtsNeben der im Hinblick auf kommende, verschärfte Emissionsgrenzwerte geänderten Motorabstimmung wird wohl auch der Wechsel von der hochliegenden Vier-in-zwei-Auspuffanlage zum rechtsseitig montierten Einzeltopf ein wenig Leistung gekostet haben. Da aber allein die Auspuff-Aktion sieben Kilogramm Gewicht gespart hat (und der neue Aluguss-Heckrahmen weitere drei Kilo Ersparnis brachte), bleibt unterm Strich ein Leistungsgewicht-Plus. Im Papierform-Vergleich mit aktuelleren Motorenkonzepten sieht die VFR natürlich trotzdem keinen Stich mehr, dafür sind 106 PS aus 800 Kubik heutzutage einfach zu wenig. Doch auch im Motorradfahrerleben gilt die alte Fußballer-Weisheit: Entscheidend ist auf dem Platz. Und dort spielt die VFR immer noch hervorragend mit. Das gilt für die absoluten Fahrleistungen: 0 – 100 km/h in 3,6 Sekunden und eine Vmax von 242 km/h sollten für die Irrungen und Wirrungen des öffentlichen Straßenverkehrs allemal reichen. Und das gilt besonders für das Gesamtpaket, zu dem eine leichtgängige und perfekt zu dosierende Kupplung, ein goldrichtig gestuftes und auf kurzen Wegen knackig zu schaltendes Sechsganggetriebe und eine für kurze wie lange VFR-Fahrer gleichermaßen gelungene Ergonomie gehören. Die mit 21,5 Litern vollgetankt 245 Kilogramm schwere VFR 800 F bietet einen Arbeitsplatz, den an eine Streetfighter-Breitlenker-Breitschulter-Sitzposition gewöhnte Youngster womöglich ziemlich altmodisch finden, den alte Säcke wie wir aber für zeitlos-perfekt halten: leicht vornübergebeugt, vorderradorientiert, aber dank nur mäßig tief montierter Lenkerstummel bequem genug, um auch lange Strecken hinter der gut schützenden Vollverkleidung weitgehend ermüdungsfrei zu bewältigen.

Honda VFR800F HinterradNatürlich ist man im Stadtgewusel auf GS & Co. deutlich aufrechter und damit bequemer untergebracht, doch spätestens hinterm Ortsende-Schild beweist die VFR, dass ein sauberer Knieschluss und eine ganz viel Gefühl für die Frontpartie bietende Sitzposition immer noch die besten Voraussetzungen dafür sind, sehr zügig, sehr elegant und mit mächtig viel Fahrspaß durch Kurven aller Art zu stechen. Dabei ist die VFR 800 F kein Ich-falle-von-allein-ums-Eck-Gerät, kein hypernervöses Handlingwunder. In schnelleren Wechselkurven müssen sportlich orientierte Fahrer durchaus kräftig zupacken, um der VFR den Kurs vorzugeben, doch dafür werden sie mit feinster Zielgenauigkeit und bestem Feedback belohnt. Die sportlich straff, im Solo- wie Soziusbetrieb ausreichend komfortabel abgestimmten Federelemente (jeweils in Federbasis und Zugstufendämpfung verstellbar) spielen dabei bestens mit. Alles zusammen sorgt auch bei der neuen VFR für das typische VFR-Fahrgefühl: satt, sicher, grenzenloses Vertrauen bietend. Nichts bringt die Maschine aus der Ruhe, geradeaus geht es bis zur Höchstgeschwindigkeit super stabil, und auch in Kurven mit zweitklassigem Belag rührt und rollt rein gar nichts. Der alte VFR-Vergleich gilt mehr denn je auch für die neue VFR: ein ICE für Landstraße und Autobahn. Und der lässt sich dank radial montierter Tokico-Vierkolben-Stopper mit serienmäßigem ABS auch fein dosierbar wieder einfangen. Das noch im Vorgängermodell verbaute Integralbremssystem CBS flog raus – kein wirklicher Verlust, die aktuelle VFR-Bremse kann alles genauso gut oder besser.

Honda VFR800F SoziusplatzDas beste Motorrad taugt allerdings nur wenig, wenn es nicht die legendäre Garagenprüfung nach Willie G. Davidson (Ex-Harley-Chefdesigner) besteht. Die da lautet: „Ein Motorrad ist erst dann richtig gelungen, wenn man abends in der Garage mit einer Flasche Bier in der Hand drumherum schleicht und dabei das ganz breite Grinsen im Gesicht hat.“ Was übrigens der Grund dafür ist, dass sich der Autor dieser Zeilen niemals (!) die letzte luftgekühlte 1200er-GS von BMW kaufen wird, die er ansonsten für das beste Motorrad hält, das er jemals fahren durfte. Die für 11990 Euro in Rot oder Schwarz lieferbare Honda VFR 800 F besteht dagegen auch den Willie-G.-Test, denn auch beim näheren Hinschauen entdeckt man jede Menge liebevoll gemachte Details. Selbst an vermeintlich unsichtbaren Stellen ist nichts hingeschludert, tadellose Verarbeitung überall. Top ausgestattet ist sie außerdem: Der Fahrersitz lässt sich in zwei Sitzhöhen fixieren (790 und 810 mm); beide Handhebel sind verstellbar; Hauptständer, Heizgriffe und Soziusplatz-Abdeckung sind serienmäßig an Bord; der neue LED-Scheinwerfer macht auch Nachtschichten zum Vergnügen; und das Zubehörprogramm (erstmalig mit Schaltassistent) lässt keine Wünsche offen.

Die nun deutlich schlankere und mit rund fünf Litern Verbrauch auch etwas sparsamere Honda VFR 800 F ist ein top gemachtes Universalwerkzeug. Eben nicht nur ein ICE, sondern auch ein Schweizer Offiziersmesser auf zwei Rädern. Mag sein, dass der Trend allgemein zur Spezialisierung geht. Wer es sich erlauben kann oder will, stellt sich mittlerweile für jeden Zweck ein eigenes Motorrad in die Garage. Um beim Werkzeugbild zu bleiben: Natürlich kann man Knarrenkasten, Säge und Schweißgerät immer und überall mit hinschleppen, doch vielleicht macht das Leben noch mehr Spaß, wenn man sich nicht damit belastet und genau weiß, mit nur einem handlichen Alleskönner so ziemlich jede Situation meistern zu können. Die neue VFR kann all das, was auch schon ihre Vorgängerinnen konnten. Und manches noch etwas besser. Braucht man mehr Vau fürs Leben?
Klaus Herder

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