aus bma 09/02

von Klaus Herder

ST 1300 Pan European Die erste Pan European hieß eigentlich ST 1100 und ich mochte sie nicht. Zumindest nicht 1990, dem Jahr ihrer Präsentation. Zu schwülstig, zu fett, zu sehr Klapphelm-kompatibel. Und Klapphelme mochte (und mag) ich erst recht nicht. Hängt vielleicht damit zusammen, dass die Jungs vom Karnevalsverein Grün-Weiß so gern mit aufgeklappter Telefonzelle durch die Gegend streifen, was immer mächtig peinlich aussieht. Zurück zur ST 1100: Zwei Jahre nach ihrer Markteinführung nahte die Läuterung, denn mein Stuttgarter Brötchengeber hatte zufällig eine ST 1100 im Langstreckentest-Fuhrpark, die bis zur 100.000-Kilometer-Marke noch ein paar Meter brauchte. Und ich brauchte einen fahrbaren Untersatz für die Strecke Stuttgart-Stadtmitte – Hamburg-Steilshoop und zurück. Ich mache es kurz: Hinfahrt exakt fünf Stunden, Rückfahrt vier Stunden und 50 Minuten. Inklusive Stadtverkehr, zweimal Tanken und einmal Pinkeln. Das war und ist mein persönlicher Streckenrekord. Der ICE brauchte damals 20 Minuten länger, mittlerweile sind es 30 Minuten mehr. Seit diesem Wochenende im Frühjahr 1992 liebe ich die ST 1100. Ich bin nie wieder so bequem und entspannt und dabei auf Dauer so schnell mit einem Motorrad unterwegs gewesen. Die unglaublich zuverlässige ST 1100 war für mich der Inbegriff des Tourers.
ST 1300 Pan EuropeanDas ich mit dieser Einschätzung nicht so ganz verkehrt lag, bestätigten mir diverse Alpentouren. Ich hatte den Eindruck, dass diejenigen, die keine BMW fuhren, allesamt eine Honda ST 1100 bewegten. Was eigentlich nicht sonderlich verwunderlich war, fand die ST 1100 europaweit immerhin 36.000 begeisterte Käufer, über 8400 davon stammten aus Deutschland. Die ST 1100 war so gut, dass Honda in den letzten zwölf Jahren gerade mal eine Hand voll Modellpflegemaßnahmen für notwendig erachtete: 1992 ABS und Antischlupfregelung TCS gegen Auf- preis; 1993 gab’s 98 statt 100 PS; 1996 eine neue Verkleidungsscheibe, ein überarbeitetes ABS und das neue Verbundbremssystem CBS – das war’s praktisch schon.
Nun sind zwölf Jahre Modellkonstanz für japanische Verhältnisse aber ein wahrlich biblisches Alter. Und außerdem haben andere Hersteller mittlerweile auch recht flotte Tourer im Programm, so mancher ST-Fahrer schielte schon zur Yamaha FJR 1300. Die Verbesserungswünsche der prinzipiell hochzufriedenen ST-Kundschaft waren Honda zudem schon lange bekannt: etwas mehr Leistung, ein Drehmoment-Zuschlag, noch einen Tick mehr Handlichkeit, Flexibilität bei der Sitzposition und beim Wind- und Wetterschutz sowie etwas weniger Masse.

 

Was bei anderen für eine nette Modellpflege gelangt hätte, nahm Honda zum Anlass für eine komplette Neukonstruktion: die Honda Pan European ABS. Unter dem ausladenden Plastikkleid steckt zwar immer noch ein flüssigkeitsgekühlter Vierzylinder-Viertakt-90-Grad-V-Motor mit längsliegender Kurbelwelle, doch damit haben sich die Gemeinsamkeiten von alter und neuer Pan European auch schon. Die Neue hat mehr Hubraum (1261 statt 1085 ccm), mehr Leistung (126 PS bei 8000 U/min statt 98 PS bei 7500 U/min) und stemmt ein höheres maximales Drehmoment (125 Nm bei 6000 U/min statt 109 Nm bei 6000 U/min). Mehr Hub, mehr Bohrung, leichtere Bauteile, modernere Beschichtungen und eine erhöhte Verdichtung machten es möglich. Wo bei der ST 1100 Vergaser für die Gemischaufbereitung sorgten, arbeitet bei der neuen Pan European eine elektronische Einspritzanlage. Die Lichtmaschine wanderte von der Motorrückseite zwi- schen die Zylinder, was die Motorlänge um 60 Millimeter reduzierte. Die Kurbelwelle legten die Honda-Techniker 20 Millimeter tiefer, links neben der Kurbelwelle rotieren nun zwei zahnradgetriebene Ausgleichswellen. Den Antrieb der je zwei obenliegenden Nockenwellen übernehmen ab sofort schmale Zahnketten anstelle breiter Zahnriemen. Der Wasserkühler der 1300er ist U-förmig und gewann dadurch an Fläche. Kardanantrieb und Fünfganggetriebe gibt’s immer noch, die Gesamtübersetzung geriet aber sechs Prozent kürzer.
Umfangreiches CockpitEin praktisch komplett neu konstruierter Motor konnte nun unmöglich ins alte Stahlrohr-Fahrwerk gehängt werden. Wurde er auch nicht, der neue Hauptrahmen ist eine Brückenkonstruktion aus Aluprofilen, der Motor hat mittragende Funktion. Stahl kommt nur noch beim angeschraubten Rahmenheck zum Einsatz. Die Schwinge besteht dagegen auch aus Alu – das bringt zusammen mit dem leichten Rahmen acht Kilo Gewichtsersparnis im Vergleich zur ST 1100. Unterm Strich ist die neue Pan European rund zehn Kilo leichter als ihre Vorgängerin. Was man allerdings nicht überbewerten sollte, denn vollgetankt 326 Kilogramm sind immer noch eine ganze Menge Motorrad.
Was viel wichtiger ist: Der Motor sitzt nun vier Zentimeter weiter vorn im Rahmen. Und was machten die Honda-Techniker mit dem gewonnenen Platz? Sie verkürzten den Radstand um 50 auf 1490 Millimeter und stellten den Lenkkopf mit 64 Grad um ein Grad steiler an. Bei der Gelegenheit sprangen 98 und damit drei Millimeter weniger Nachlauf heraus. Das sind Werte, die sich auch in Sportlerkreisen ganz gut machen würden und auf eine ausgeprägte Handlichkeit hindeuten. Doch dazu später mehr.
Der eigentliche Arbeitsplatz wurde ebenfalls kräftig umgestaltet. Die Sitzbank ist zweiteilig, der Fahrersitz lässt sich in drei verschiedenen Höhen fixieren. Die Standard-Sitzhöhe beträgt 790 Millimeter. Wer das Polster umsteckt, sitzt entweder 15 Millimeter tiefer und 12,5 Millimeter weiter vorn oder entsprechend höher und weiter hinten. Der Sozius ist immer perfekt untergebracht und kann sich an zwei gigantischen, allerdings aus schnödem Kunststoff gefertigten Bügeln festhalten. Der zweiteilige, in Gummi gelagerte Lenker liegt perfekt zur Hand. Doch warum bei einem 15.990 Euro teuren Motorrad nur der Handbrems- und nicht der Kupplungshebel verstellbar ist, muss man nicht verstehen. Die linke Hand entdeckt aber glücklicherweise recht schnell ein anderes Verstell-Spielzeug: den Schalter für die elektrisch verstellbare Windschutzscheibe. Rund 19 Zentimeter kann das Plexiglasteil rauf und runter bewegt werden. Und das auch während der Fahrt. Menschen bis 1,90 Meter Länge verschwinden bei voll ausgefahrener Scheibe komplett dahinter und sitzen auch bei hohen Geschwindigkeiten entsprechend zugfrei. Links vorn in der Verkleidung locken ein Handrad (elektrische Leuchtweitenregulierung) und ein Mehrfachschalter (Multifunktions-Display mit Anzeige von Lufttemperatur, Benzinverbrauch, Restreichweite bei Reserve), der mit Handschuhen aber kaum zu bedienen ist.
Biestigere Frontpartie Das Anlassen klappt dank Startautomatik völlig problemlos. Angenehm aus der komplett aus Edelstahl gefertigten Vier-in-zwei-Auspuffanlage grummelnd nimmt der V4 die Arbeit auf. Die hydraulisch betätigte Kupplung kommt butterweich, die Gänge rasten exakt und auf kurzen Wegen. Ab 1500 U/min nimmt der Vierventiler sauber Gas an, ab 2000 U/min gibt’s ordentlich Vortrieb. Ab 4000 U/min gesellt sich ein kehliges Ansauggeräusch zum kernigen V4-Bollern und die Post geht richtig ab. Dann wird’s zumindest im Sommer für den Fahrer auch etwas mollig, denn die Wärmeabstrahlung ist wie beim Vorgängermodell immer noch recht üppig. Die Knie haben nun zwar etwas mehr Platz, spürbar kühler ist’s dadurch aber nicht geworden. Fahren wir halt noch etwas zügiger, dann gibt’s keine Stauwärme.
Die Pan European kann aber beides: locker im fünften Gang und mit Innerorts-Tempo bummeln, oder aber im zweiten Gang sehr, sehr flott bis zum Landstraßen-Limit und darüber hinaus ziehen. Wer es darauf anlegt, ist in 3,5 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100. Wer dann noch etwas länger an der Kordel zieht, bringt die Fuhre auf echte 230 km/h. Bei diesem Tempo und auch schon lange davor sollte das Windschild aber tunlichst eingefahren sein, denn sonst bringt jeder überholte Lkw und manche Bodenwelle Unruhe in die Fuhre. Es ist zwar kein wirkliches Pendeln, was so ab 160 km/h spürbar ist. Und kritisch ist es erst recht nicht, doch das leichte Rühren um die Längsachse wirkt zumindest anfangs ungewohnt. Die ST 1100 lag auf der Bahn eindeutig ruhiger.
Doch dafür kommt die ganz große Stunde der Pan European, wenn’s richtig kurvig wird. Die ST 1100 war ja nun wahrlich kein sturer Bock und ging auch schon recht deftig ums Eck. Doch was die 1300er in Sachen Handling bietet, liegt noch mal eine ganze Spielklasse darüber. Zielgenauigkeit, Einlenkverhalten und Spurtreue sind genial. Natürlich wetzt das Schiff nicht wie ein 190-Kilo-Sportler durchs Labyrinth, doch von den echten 326 Kilogramm bleiben bei solchen Aktionen höchstens gefühlte 250 übrig. Die durchaus straff abgestimmten Federelemente halten die auch bei Nässe erstklassig haftenden Bridgestone BT 020 (F) sauber auf Kurs. Die Schräglagenfreiheit ist im Normalfall und Solobetrieb völlig ausreichend, zum Materialabtrag an Fußrasten, Bremshebel und Ständer kann es eigentlich nur im Soziusbetrieb und bei ziemlich scharfer Gangart kommen. Zur knackigen Handlichkeit passen die nicht minder knackigen Stopper. ABS ist serienmäßig, das Verbund-Bremssystem Dual-CBS ebenfalls (die Antischlupfregelung flog raus – niemand wird sie vermissen). Über den Handhebel werden die jeweils äußeren Kolben der Dreikolbensättel an Vorder- und Hinterrad zum Zubeißen gebracht. Der rechte Fuß aktiviert den jeweils mittleren Kolben. Wer ordentlich reinlangt, wird mit brachialer, fast schon supersportmäßiger Verzögerung belohnt.
Was angenehm überrascht, sind die sehr zivilen Trinksitten der Pan European. Zwar benötigt sie mittlerweile Superbenzin (die ST 1100 kam noch mit Normal aus), doch davon erstaunlich wenig. Äußerst flotter Autobahnbetrieb kostet selten mehr als 6,5 Liter, wer Landstraßen unter die Räder nimmt, fackelt nur gute fünf Liter ab. Häufige Tankstopps sind damit kein Thema, denn vorm Fahrer sind 20,8 Liter Sprit gebunkert, unterm Fahrersitz fasst ein zweiter Tank weitere 8,2 Liter – macht 29 Liter Gesamtmenge. Das dürfte reichen.
Das Volumen der serienmäßigen Koffer ist mit jeweils 35 Liter auch nicht übel. Ein Integralhelm passt jeweils locker rein. Vorausgesetzt, man bekommt die Dinger auf. Die Koffer-Schlösser können nämlich gewaltig nerven und sind mit das hakeligste, was japanische Anbieter ihren Kunden in den letzten Jahren zugemutet haben. Womit wir beim Stichwort Honda-Qualität wären: So ganz die Überflieger-Anmutung hat die Pan-European nicht. Liegt das daran, dass der langjährige Premium-Anbieter etwas nachgelasssen hat, oder dass die Mitbewerber einfach nur aufgeholt haben? Egal, die Pan European ist immer noch ein sehr gutes Motorrad. Sie kann fast alles besser als Ihre Vorgängerin. Und die hält schließlich immer noch den Streckenrekord Hamburg-Stuttgart. Ich vermute allerdings, dass das nicht mehr lange so sein wird.