aus bma 10/98

von Klaus Herder

Sie kennen ganz sicher dieses unscheinbare Plastikzeug: Tupperware. Die amerikanischen Kunststoff-produkte wirken im ersten Moment völlig überteuert. Plastikschüssel ist schließlich gleichHonda Pan European Plastikschüssel. Oder auch nicht. Bereits beim gemütlichen Zusammensein anläßlich einer im Bekanntenkreis organisierten Verkaufsveranstaltung ahnt der potentielle Plastikschüssel-Käufer, daß Tupperware anders ist. Nach einigen Monaten intensiver Nutzung in Kühlschrank und Mikrowelle weiß der Tupperware-Kunde, daß das Zeug etwas taugt. Nach fünf bis zwölf Jahren Langzeitversuch will der Tupperware-Fan nichts anderes mehr haben. Womit wir bei der Kunststoffschüssel Pan European wären.
Was die Tupper-Party für die Hausfrau, ist der Probefahrttermin für den Honda-Interessenten. Wenn der potentielle Kunde erstmal ein paar Kilometer mit dem vermeintlich schwerfälligen Dickschiff getourt ist, will er das Ding unbedingt haben. Die Pan European trifft schon seit über acht Jahren den europäischen, sprich deutschen Geschmack. Kein Wunder, denn bei der Entwicklung des je nach Ausstattung und Baujahr zwischen 312 und 328 Kilogramm (vollgetankt) wiegenden Kardantourers hatte das Honda Research & Developement-Center (HRC) in Offenbach ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.
1990 präsentierte Honda die völlige Neukonstruktion. In der Frühphase der Entwicklung war noch geplant, den Reihen-Vierzylinder der CBR 1000 zu verbauen. Doch es kam noch besser, denn nicht Höchstleistung, sondern Wartungsarmut sowie extrem vibrationsarmer und leiser Motorlauf standen im Lastenheft ganz oben. Und so kam es, daß der wassergekühlte Vierzylinder 90°-V-Motor mehr Ähnlichkeit mit einem Automotor als mit einem Motorradtriebwerk hat und mit 92 Kilogramm trotzdem zwei Kilo weniger als der hubraumschwächere CBR-Triebsatz wiegt.

 

Honda Pan EuropeanIn den beiden Zylinderköpfen des ST 1100-Vierventilers rotieren je zwei Nockenwellen. Deren Antrieb übernehmen Zahnräder, die über Zwischenwellen von Zahnriemen in Wallung gebracht werden. Die Zahnriemen arbeiten wunderbar leise und müssen nur alle 150.000 Kilometer gegen Neuteile getauscht werden. Leise und platzsparend geht’s auch ganz oben im Zylinderkopf zu: Die Ventile werden von Tassenstößeln auf Trab gehalten. Hydrostößel wären wartungsmäßig zwar pflegeleichter, aber auch platzraubender gewesen. Und platzsparend mußte schon gebaut werden, damit der Knieraum für den Fahrer ausreichend groß blieb. Völlig schenken kann man sich die Ventilspielkontrolle somit nicht, doch die Prüfung in Abständen von 24.000 Kilometern ist ja durchaus zumutbar. Sollte tatsächlich mal eine Ventilspiel-Korrektur erforderlich sein (kommt noch seltener vor), müssen allerdings die Nockenwellen ausgebaut werden, um an die Einstellshims zu gelangen. Die normalen Inspektionen sind alle 12.000 Kilometer fällig.
Die Kolben gehen je Zylinderreihe gleichzeitig auf und nieder. Dank 90° Zylinderwinkel stimmt der Massenausgleich. Ein etwas größeres Problem stellte das Schwungmassenmoment der Kurbelwelle dar. Auf deutsch: Motorräder mit längsliegender Kurbelwelle (BMW, Moto Guzzi) neigen beim Gasgeben und Gaswegnehmen dazu, um ihre Längsachse zu schwanken. Nicht so die ST 1100, denn bei der drehen sich Lichtmaschine und Kupplung entgegengesetzt zur Kurbelwelle. Das wirkt ungemein beruhigend und gibt ungewollten Schaukeleien keine Chance.
Ziemlich automäßig ist auch die Verbindung von Zylindern und Motorgehäuse. Die vier Töpfe sind direkt an das Oberteil des horizontal geteilten Gehäuses angegossen. Ölundichtigkeiten haben somit keine Chance und Gewicht spart es auch noch. Das Fünfganggetriebe sitzt übrigens in einem separaten Gehäuse, wird aber vom Ölkreislauf des Motors mitversorgt.
Honda Pan EuropeanÜberhaupt nicht automäßig erfolgt die Gemischaufbereitung. Womit wir bereits frühzeitig zum einzig wirklich gravierenden Schwachpunkt der Pan European kommen: Vier Keihin-Fallstromvergaser befeuern die Zylinder. Das ist Technik-Steinzeit. Grünes Gewissen hin oder her – bei einer Neukonstruktion hätte es auch schon 1990 eine Einspritzanlage mit elektronischem Motormanagement und geregeltem Katalysator sein können. BMW hat es vorgemacht, die Honda ST 1100 macht es bis heute nicht nach. Zum Thema Kraftstoffverwertung gibt es zur Ehrenrettung der Pan European aber ansonsten nur Erfreuliches zu berichten. Wer am liebsten und längsten über Landstraßen tourt, kann mit sechs Litern Verbrauch auskommen. Andauernde Autobahnrichtgeschwindigkeit kostet auf 100 Kilometer rund 6,5 Liter vom günstigen Normalbenzin, und selbst bei Vollgasetappen (echte 215 km/h sind machbar) schluckt die Honda nicht mehr als knapp acht Liter. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Wuchtbrumme ganz legal mit über einer halben Tonne Gesamtgewicht (genau 517 kg) durch die Gegend toben kann. Der Durchschnittsverbrauch einer flott gewegten Pan European liegt über tausende von Kilometern knapp unter sieben Liter. Zum für Tourerverhältnisse relativ geringen Verbrauch paßt auch die mögliche Reichweite: 400 Kilometer sind eigentlich immer drin.
Der 28 Liter-Tank sitzt übrigens nicht dort, wo ihn der gemeine Motorradfahrer erwartet. Vor dem Fahrer versteckt sich nur das Luftfiltergehäuse. Der Sprit wird in bester Gold Wing-Tradition schön tief unterm Fahrersitz gebunkert. Der Einfüllstutzen sitzt unter einer Klappe am hinteren Ende der Kunststoff-Tankattrappe. Das hat den Vorteil, daß beim Tanken ein eventuell aufgeschnallter Tankrucksack nicht abgenommen oder hochgeklappt werden muß. Einen manuell zu betätigenden Benzinhahn hat die ST 1100 nicht, dafür ist auf die genaue Tankanzeige und die ab fünf Litern Restmenge leuchtende Warnlampe durchaus Verlaß.
Honda Pan EuropeanGerade diese kleinen Dinge sind es, die den täglichen Umgang mit der Langstrecken-Honda so angenehm machen. Da ist zum Beispiel das kinderleichte Aufbocken. Dem ausklappbaren Griff auf der linken Seite und einer gelungenen Hebelübersetzung sei Dank. Das An- und Abbauen der serienmäßigen 35 Liter-Koffer klappt ebenfalls mit maximal zwei Handgriffen, allerdings ist der Öffnungswinkel mit deutlich unter 90° etwas zu knapp bemessen. Der Zündschlüssel hat übrigens die gleiche Schließung wie die in Fahrzeugfarbe lackierten Koffer. In die Kunststoffboxen passen normale Integralhelme und trotzdem baut die ST 1100 mit angebauten Koffern nicht zu breit. Merke: Wo die Spiegel durchpassen, paßt auch das Hinterteil locker durch. Den (natürlich illegal tätigen) Durchschlängler freut’s.
Die Sitzbank ist breit, lang und trotzdem nicht zu hoch (800 mm), um auch normalgewachsenen Fahrern einen sicheren Stand zu ermöglichen. Der Abstand zu Lenker und Fußrasten ist perfekt, 1000 Kilometer-Tagesetappen sind mit der Pan European durchaus entspannt zu bewältigen. Zum extrem hohen Reisekomfort trägt natürlich auch die nahezu perfekt geschnittene Verkleidung bei. Bis über 140 km/h kann das Visier problemlos geöffnet bleiben, der Fahrer sitzt praktisch zug- und verwirbelungsfrei. Dem äußerst bequem untergebrachten Sozius geht’s genauso gut. Fahrer über 1,85 Meter haben ab 160 km/h aber mit kräftigen Windgeräuschen zu kämpfen – die Ohrstöpselindustrie muß schließlich auch leben – und montieren daher gern die Five Stars-Spoilerscheibe aus dem Zubehör (JF Motorsport, Telefon 06002/1771, ca. 200 Mark). Das Teil hat eine ABE und spendet langen Menschen noch mehr Windschatten als das Originalteil.
Zur Selbsthilfe greifen wasserempfindliche Biker. Den Verkleidungsschlitz unterhalb der Scheibe verschließen sie bei starkem Regen mit einem selbstgeschnitzten Moosgummistreifen. Im Winter ist der Handschutz durch die beiden in die Verkleidung integrierten Spiegel nicht so gut wie bei der BMW-Konkurrenz. Heizgriffe helfen weiter, die ab 1996 von 420 auf 480 Watt Leistung erhöhte Lichtmaschine verkraftet es problemlos. Und wo wir schon bei der Elektrik sind: Die Kabelverlegung und die Steckverbindungen sind tadellos und überstehen spurlos die salzigsten Winter.
Das Startverhalten ist sommers wie winters hervorragend. Der V-Motor braucht nur sehr kurze Zeit, um perfekt rund zu laufen und sauber Gas anzunehmen. Der 100 PS-Vierzylinder (ab 1993 98 PS, Drosselung über Ansaugstutzen, Materialkosten ca. 100 Mark) ist überhaupt ein Ausbund an Laufruhe. Nahezu vibrationsfrei und sehr leise schiebt er den Halbtonner wie am Gummiband gezogen vorwärts. Der 1100er leistet sich keine Durchhänger, läßt den Fahrer mit Sportlerherz aber auch den gewissen Kick des Hubraumriesen vermissen.
Ab 1500 U/min geht’s ruckfrei vorwärts, spürbaren Vortrieb gibt es ab 4000 U/min, zwischen 5000 und 7500 U/min brennt ein solides Feuer. Die Übergänge sind fließend, die Laufruhe ist beeindruckend. Böse Zugen behaupten allerdings, der Motor sei grottenlangweilig. Doch der Turbinencharakter wird dem Toureranspruch viel eher gerecht als ein kurzfristig faszinierendes Motor-Sensibelchen, das an der Gashand nach Samthandschuhen verlangt. Das maximal zur Verfügung stehende Drehmoment ist durchaus üppig (109 Nm), doch die Durchzugswerte fallen trotzdem nur durchschnittlich aus – das hohe Gewicht fordert nun mal Tribut. Das braucht den Pan European-Fahrer allerdings nicht weiter belasten, denn auf Dauer fährt er jedem Supersportler gnadenlos davon. Ein Beispiel: Der Autor dieser Zeilen hält mit der ST 1100 immer noch den inoffiziellen Streckenrekord für die Tour Hamburg-Stuttgart. Die 700 Kilometer von Tür zu Tür schaffte ich in vier Stunden und 45 Minuten – inklusive zweier Tankstopps und einer Pinkelpause. Ich kam entspannt zu Hause an und hatte dank der überraschend guten Handlich- und Zielgenauigkeit auch noch jede Menge Fahrspaß. Mit Geräten vom Schlage einer CBR 900 RR brauchte ich für die Strecke immer über fünf Stunden und um ein vielfaches mehr Nerven.
Besagte ST 1100 wurde übrigens über insgesamt 100.000 Kilometer getrieben. Ein Radlager (vermutlich beim Dampfstrahlen versaut), ein Lenkkopflager und der Tachoantrieb – mehr mußte über die Marathondistanz nicht ersetzt werden. Kolben, Zylinder, Getriebe – alle Motor-Innereien sahen nach der zweieinhalbfachen Weltumrundung immer noch tadellos aus. Die Verkleidung dröhnte mit zunehmendem Alter etwas mehr, und der Auspuffkrümmer war nach zwei Wintern von harmlosem Oberflächenrost befallen. Mehr gab’s eigentlich nicht zu bemängeln. Typische Schwächen kennt die Pan European einfach nicht.
Die gute ST 1100 wurde ab 1996 sogar noch etwas besser. Ein Antiblockiersystem und eine Antischlupfregelung (TCS) konnte man zwar schon ab 1992 gegen Aufpreis ordern, doch das nahezu perfekte „Rundum-Sorglos-Paket” mit verbessertem ABS und Verbundbremssystem CBS (Combined Brake System) gibt es erst seit 1996. Das CBS macht die ST 1100 bremsenmäßig nahezu narrensicher. Egal, ob man nur am Handhebel zieht, nur aufs Bremspedal tritt oder beide Bremsen gleichzeitig betätigt – es werden grundsätzlich Vorder- und Hinterradbremse gleichzeitig aktiviert. Und das immer in einem optimalen Verhältnis, ein Überbremsen ist dank ABS unmöglich. Die Antischlupfregelung nutzt die ABS-Sensoren und nimmt über die Veränderung der Vorzündung die Drehmomentabgabe etwas zurück, wenn Raddrehzahl und Schlupf nicht mehr zueinander passen. Ganz harte Biker halten solche Systeme vermutlich für Warmduscher-Zeug. Egal, vermutlich sind die gleichen Leute der Meinung, daß Airbag und Sicherheitsgurt im Auto auch nur was für Weicheier sind. Die Physik können allerdings auch ABS, TCS und CBS nicht überlisten. Wer in Schräglage bremst und dabei viel zu schnell ist, schmiert auch mit der ganzen Sicherheits-Ausstattung garantiert ab.
Die Honda ST 1100 Pan European ist nicht perfekt – siehe Einspritzung und Kat. Doch sie ist es fast und damit nach Einschätzung vieler Tourer momentan der beste Reisedampfer auf dem Markt. Das wissen die selbstbewußten Honda-Marketingstrategen natürlich auch und haben den Preis mit 23.935 Mark für das Standardmodell und 27.095 Mark für die CBS-ABS-Version in üppigen BMW-Regionen angesiedelt. Das paßt, denn das schlimmste, was den Kollegen von BMW passieren kann, ist vermutlich, wenn ihr potentieller Kunde vorher nur mal kurz beim Honda-Händler vorbeischaut. Das ist so, als wenn die bisherige Emsa-Käuferin eine Tupper-Party besucht.