aus bma 07/97

von Klaus Herder

Es gibt ein paar Vorurteile, die sich unter Motorradfahrern ganz besonders hartnäckig halten. Zum Beispiel jenes, daß Motorradfahren auf wenig frequentierten und möglichst kurvigen Landstraßen ganz besondersHonda SLR 650 viel Spaß macht. Daß dem nicht unbedingt so sein muß, behauptet Honda. Nicht grundsätzlich, aber zumindest in der Presse-Info zur Honda SLR 650. „Mit viel Spaß durch die City” lautet das SLR-Motto. Von „robusten City-Racer-Qualitäten” ist die Rede. Na also, wir haben es schon immer geahnt: Motorradfahren ist in der Stadt am schönsten. Beschleunigungsduelle mit Mittelklasse-Limousinen, Gasaufreißen in Häuserschluchten, Wheelies in Fußgängerzonen – die Stadt ist das ideale Terrain, um sich und seinen Mitmenschen eine motorradsportliche Freude zu machen. Und nun sage bitte niemand, daß es für den Stadtverkehr schon so pfiffige Dinge wie Motorroller oder Straßenbahnen gäbe. Honda hat die Marktlücke erkannt. Oder vielleicht erst geschaffen? Sind die SLR und ihr City-Konzept vielleicht nur ein abgekartertes Spiel, um eine Billig-Dominator in den Markt zu drücken? Gemach, betrachten wir die neue Honda streng sachlich und fangen mit dem Motor an. Der luftgekühlte Einzylinder ist ein alter Bekannter. In grauer Vorzeit (1983) tat sein Urahn in der XL 600 R Dienst, seit 1988 treibt der kurzhubige Vierventiler die NX 650 Dominator an. Wo in der Dominator je nach Baujahr 43, 44 oder sogar 45 PS werkeln, muß sich die SLR mit deren 39 bescheiden. Eine geänderte Nockenwelle macht’s, mehr Dampf im unteren und mittleren Drehzahlbereich war das Ziel der Leistungs-Beschneidung. Die kernige Auspuffanlage mit den beiden Edelstahltöpfen blieb dafür praktisch unverändert. Im Getriebe bemühen sich auch weiterhin fünf Gänge um die passende Übersetzung, und gestartet wird ebenfalls wie bei der Dominator – elektrisch.

 

Honda SLR 650Fast alle Bauteile sind neu oder zumindest stark überarbeitet. So stammt die Showa-Gabel zwar prinzipiell von der Enduro-Schwester, doch zum einen muß sie in der SLR mit etwas weniger Federweg auskommen (190 statt 220 Millimeter), zum anderen führt sie ein kleineres Vorderrad (19 statt 21 Zoll). Am hinteren Zentralfederbein, das übers Pro Link-Hebelsystem mit einer Schwinge aus simplen Stahlrohrprofilen verbunden ist, stehen 170 statt 195 Millimeter Federweg zur Verfügung. Ex-Dominator-Besitzer können mit der SLR immerhin ihre alten Gummis auftragen – die Reifengröße lautet unverändert 120/90-17. Ist das Stahlrohrskelett der Dominator schon kein Ausbund an filigraner Ingenieurskunst, so topt der SLR-Rahmen in seiner Einfachst-Machart das Domi-Rohrwerk. Honda nennt das Einschleifen-Gebilde aus rechteckigen Stahrrohren „Mono-Backbone-Konstruktion”, Lästermäuler nennen es zusammengebratenen Baustahl. Doch egal ob kastrierter Motor oder vereinfachtes Fahrwerk – nach einer alten Kanzler-Weisheit kommt es nur darauf an, was hinten rauskommt. Auf Motorräder übertragen bedeutet das, daß einzig und allein der Fahrbetrieb zählt. Fangen wir also an: Starten? Völlig problemlos. Lenkerfester Choke, ein Druck aufs Knöpfchen, Motor läuft. Und zwar sofort rund, kein Verschlucken, kein Husten, die Starthilfe kann bereits wieder vergessen werden. Weiter geht’s mit dem Schalten: die leichtgängige Kupplung betätigen, den ebenso einfach und exakt zu bedienenden Schalthebel bemühen – es kann losgehen. Und zwar ohne viel Lärm und mit ziemlich wenig Drehzahl. Die SLR zieht bereits aus Standgas-Regionen büffelmäßig los. Da muß nicht mit der Kupplung gezaubert werden, da braucht keiner Angst vor unvermittelter Arbeitsverweigerung haben – die SLR pröttelt mit kernigem und trotzdem gesetzeskonformem Einzylinderschlag von dannen.
Honda SLR 650Welche Drehzahl dabei tatsächlich anliegt, bleibt dem Fahrer verborgen. Stadtindianer brauchen nach Honda-Einschätzung keinen Drehzahlmesser. Tacho plus vier Kontrolleuchten müssen reichen. Der Tourenzähler ist tatsächlich entbehrlich, doch was das innerstädtische Verkehrsgewühl zwingend erfordert, ist eine Sitzposition, die möglichst viel Überblick beim Durchschlängeln (ja, ja Herr Oberlehrer – das ist natürlich nicht erlaubt) und trotzdem einen sicheren Stand beim Ampelstop ermöglicht. Die SLR schafft die Gratwanderung zwischen Hochbeinigkeit und Zwergentauglichkeit perfekt. 84 Zentimeter Sitzhöhe sind weit genug oben, um rechtzeitig zu erkennen, was der übernächste Vordermann anstellt. Und die straff gepolsterte Sitzbank ist schmal genug, damit Menschen ab 1,70 Meter Länge die Füße nicht nur beim Absteigen sicher auf den Boden bekommen. Der nicht zu stark gekröpfte Lenker liegt goldrichtig in der Hand, die Spiegel werden ihrer Aufgabe ebenfalls voll gerecht. Die SLR taugt jedenfalls für den öffentlichen Personen-Nahverkehr. Zumindest was das Sitzplatzangebot für den Fahrer angeht. Für Fahrgäste ist auf der etwas kurzen Sitzbank nur sehr bedingt Platz. Immerhin können sich Mitfahrer am serienmäßigen Kunststoff-Gepäckträger festhalten und der Fahrer kann sehr weit an und auf den kurzen 13 Liter-Tank rutschen. Das sieht dann zwar etwas peinlich aus, aber für Kurzstrecken geht’s.
Honda SLR 650Um im Großstadt-Dschungel nicht nur zu überleben, sondern womöglich sogar (Fahr-) Spaß zu haben, bedarf es neben einer passenden Sitzgelegenheit aber noch ein paar weiterer Dinge. Zum Beispiel wirkungsvoller Bremsen. Die Einzelscheiben an Vorder- und Hinterrad stammen vom talienischen Zulieferer Brembo. In ihnen steckt also alle Erfahrung der Mailänder oder Turiner Rushhour, was in der Praxis bedeutet, daß die Dinger zwar nach kräftiger Betätigung verlangen, dafür aber auch sofort und ziemlich wirkungsvoll zubeißen. Die Dosierbarkeit geht in Ordnung, die Gefahr des Überbremsens ist gering.
Wer den Stadtverkehr als großen Slalom-Parcours betrachtet, ist natürlich an einer ausgeprägten Handlichkeit interessiert. Kein Problem, die SLR wiegt mit 13 Liter Normalbenzin vollgetankt gerade mal 176 Kilogramm, und die lassen sich dank guter Gewichtsverteilung und passender Fahrwerks-Geometrie mit einer spielerischen Leichtigkeit um die Ecken schwenken, die den meisten anderen Motorrädern nicht den Hauch einer Chance läßt. Zum City-Rambo wird der SLR-Pilot trotzdem nicht, denn die Motor-Charakteristik erzieht ihn zu einem Flotten, aber nicht brutalen Fahrstil. Unten herum geht zwar eine ganze Menge, im mittleren Drehzahlbereich powert der Eintopf auch noch recht kräftig, doch vehementes Ausdrehen bringt gar nichts, die SLR wir zur Schlappwurst. Ergo wird relativ früh geschaltet und mit wenig Getöse durch die Stadt gewuselt.
Nun kann es dem aufmerksamen Stadtmenschen aber auch mal passieren, daß er versehentlich das Ortsschild hinter sich läßt und sich auf einer Landstraße wiederfindet. So lange der Fahrbahnbelag noch einigermaßen eben ist, bereitet die SLR auch jenseits ihres Stadtreviers wenig Probleme. Ein sauberer Geradeauslauf, die besagte Handlichkeit, ordentlicher Durchzug und eine Spitze von immerhin 150 km/h machen sie durchaus überlandtauglich. Bei fünf bis sechs Litern Verbrauch reicht der Spritvorrat immerhin für rund 200 Kilometer am Stück, und das hervorragende Licht des üppig dimensionierten Scheinwerfers ermöglicht sogar Nachtetappen. Was der SLR allerdings nur selten unter die Räder kommen sollte, sind die so gern zitierten Landstraßen dritter Ordnung. Die übersteht die SLR zwar auch problemlos, doch der Fahrer wird es ihr kaum gleichtun. Fiese Schläge gibt das sehr straff abgestimmte Fahrwerk nämlich einigermaßen ungefiltert weiter, das Zentralfederbein ist hoffnungslos überdämpft, der gegenüber der Dominator fehlende Federweg wird schmerzlich vermißt.
Selbst schuld, kann man da nur sagen. Ein Blick in die Honda-Presse-Info hätte genügt: „Die SLR ist nicht als Geländemaschine gedacht.” Stimmt, aber ihre geringe Masse und die grobstolligen Reifen ermöglichen immerhin Driftspaß auf möglichst plattgewalzten Schotterstrecken. Der eigentliche Tatort der SLR liegt aber tatsächlich in der Stadt. Für 8.990 Mark bekommt man zwar auch zwei bis drei Motorroller oder zirka 75 Straßenbahn-Monatskarten, doch so viel innerstädischen Fahrspaß bekommt man nur mit der Honda SLR 650.